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Der Duft der Bücher: Roman
Der Duft der Bücher: Roman
Der Duft der Bücher: Roman
eBook319 Seiten3 Stunden

Der Duft der Bücher: Roman

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Über dieses E-Book

"Irgendwann werde ich oben sein".
Betty wächst in einer Brühler Arbeiterfamilie in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie ist die ständigen Ausgrenzungen leid. Eine zufällige Bekanntschaft mit einem alten Kölner Buchhändler verstärkt Bettys Interesse an Literatur und sie taucht in die Welt der Bücher und des Wissens ein.
Sie ergreift beherzt das Angebot, nach West-Berlin umzuziehen. Dies ist für sie der endgültige Ausbruch aus ihrem gegängelten Leben und der Weg in die Freiheit. Allen widrigen Umständen zum Trotz genießt sie ihr unabhängiges Leben inmitten der Großstadt in den wilden 60er Jahren. Hier findet die ehrgeizige junge Frau eine neue Heimat und setzt sich kompromisslos für ihre Ziele ein.

Für den ersten Teil des Romans, der im Rheinland spielt, erhielt Jenny Schon den Literaturpreis "Aufstieg durch Bildung". Die Jury der noon Foundation in Mannheim pries die Authentizität der Handlung sowie die Prägnanz der Sprache. Der zweite Teil des Romans "Die Antiquarin", der in Berlin spielt, war auf der Bestenliste des Autorenwettbewerbs "China-Roman".
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum20. Dez. 2019
ISBN9783947373512
Der Duft der Bücher: Roman

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    Buchvorschau

    Der Duft der Bücher - Jenny Schon

    37)

    Teil 1

    Der Duft der Bücher

    Der Traum vom Duft der Bücher

    Das Tagebuch eins

    Der Verrat

    Ein Tagebuch der besonderen Art

    Konfirmation

    Steuerberater

    Aller Anfang ist schwer

    Die englische Sprache ist eine Zier, love me tender

    Mädchen mit Jeans gehören in den Sandkasten

    Bleistiftzahlen

    Sommerferien – Ein Duft von Büchern

    Nach den Ferien

    Das Tagebuch zwei

    Im Ausland

    Eine Jazzsession

    Bonjour Tristesse

    Jennifer tanzt

    Feine Gesellschaft

    Verkörperungen – in memoriam Albert Camus (1913–1960)

    Der andere Weg

    Die Entscheidung

    Markus Küppers

    Goldjüdin

    Hagen Westermann

    Karl Beyer, Buchhändler

    Weihnachtsgeschäft

    Der achtzehnte Geburtstag

    Pharisäer, Lukas 18,9–14

    Baustelle

    Endlich Liebe

    Von Pfarrern und verkleideten Möbeln

    Gymnasium, abends

    Pfänderspiele

    Männerbesuch

    Männerbesuch, numero zwo

    Eine Sehnsucht bleibt eine Sehnsucht

    Mauerbau in Berlin – 13. August 1961

    Hannover – Eine neue Identität

    Vierzehn Tage im Oktober 1961 – Die Mauer einreißen – West-Berlin – Kleist besuchen – Wannsee

    Adé, Herr Beyer, hier stehe ich, ich kann nicht anders

    Der Traum vom Duft der Bücher

    Die Ratten lauerten überall, sprangen auf und huschten weg, als wir in den Trümmern von Brühl ankamen. Meine Mutter war schreckhafter als ich, sie kreischte, sobald sie eine Ratte erblickte.

    Ich wachte schweißgebadet auf aus diesem Traum, noch lange Jahre danach.

    Als Tante Änne aus Porta Westfalica zurückkehrte, wo sie die ersten Jahre nach dem Krieg als Kindermädchen gearbeitet hatte, brachte sie mir Der Rattenfänger von Hameln, gesetzt in großen Druckbuchstaben, mit. Ich begann zu buchstabieren: DER RATTEN … Nein, nein und noch mal nein, schrie meine Mutter. Die Ratten haben wir beseitigt. Schluss jetzt! Weg damit!

    Es half nichts, das Buch blieb, es war mein erstes Buch, es war überhaupt das Allererste, was mir in Brühl geschenkt worden war, und es musste immer mit. Es spielt auch in dem Traum, der immer wieder kommen sollte, eine große Rolle.

    Meine Mutter stellt sich beim Bankdirektor vor. Er klimpert mit dem Schlüssel in der Hosentasche. Er steht vor einem Schrank mit geschliffenen und geschwungenen Glasscheiben. Was ganz Kostbares …, das spürt sie, die neben ihm steht, sofort.

    Ich sehe das Mädchen, das auf den gebohnerten, bei der kleinsten Bewegung knarrenden Dielen hockt. Es starrt auf die gewienerten, ebenfalls nach Bohnerwachs duftenden Schuhe dieses Mannes. Sie glänzen. Nie zuvor hat es so glänzende Schuhe gesehen.

    Wenn es auf dem Mäuerchen hockt, bei der Oma vor der Berufsschule, wo viele Männerschuhe vorbeilaufen, sind manchmal auch Stiefel darunter. Die hat es überhaupt nicht gerne, die sind staubig und wirbeln Staub auf, das ist stinkender Staub, Straßenstaub. Das Mädchen hat Bilder vor Augen, auf denen Stiefel marschieren.

    Auf dem Hof der Berufsschule – hier laufen viele Arbeiter herum –, riecht es so wie in den Trümmern von Dresden. Auch diesen Geruch wird das Mädchen nicht vergessen. Die Mutter erzählt manchmal davon, wie kaputt Dresden war, da wär’ doch Brühl noch ziemlich gut weggekommen im Vergleich. Das hören die Verwandten nicht gern, weil sie all die Arbeit sehen, die auf sie wartet, und all den Notstand, den der Krieg gebracht hat.

    Dieser Mann hier aber hat eine unbeschädigte Wohnung und kostbare Möbel, und er riecht anders. So etwas hat das Mädchen noch nie gesehen und noch nie gerochen. Die Mutter wird sagen, das sei Parfüm.

    Parfüm, wiederholt es für sich. Dieses Wort kennt das Mädchen noch nicht.

    Die Mutter hat die Stelle bekommen, nachdem sie dem Direktor gezeigt hat, wie sie Staub wischt. Staub, der anders riecht, parfümierter Staub. Und dass das Kind mir gar nichts anfasst, donnert der Direktor. Das Mädchen zuckt zusammen.

    Machen Sie den Schrank aber wieder fest zu, sagt er, als er ihn aufschließt, die Ratten fressen alles, auch alte Bücher, und seien Sie vorsichtig. In dem Moment, in dem die Glastür sich öffnet, fällt Duft, ein bisschen wie Heu, vermengt mit dem Geruch von Bohnerwachs, auf das Kind, das immer noch in der Ecke hockt. Es umhüllt es mit Sehnsucht nach einem eigenen Zuhause

    Es hat zwar jetzt auch ein Zuhause. Aber der Vater muss es am Wochenende, wenn er aus dem Ruhrpott nach Hause kommt, überall stopfen, ausbessern und reparieren. Da gibt es keine Bücher und nicht so schöne Möbel. Woher soll das Mädchen wissen, dass das, was es riecht, Bücherstaub ist und der Geruch nach altem Leder, in das die Bücher geschlagen sind, und Möbelpolitur.

    Vielleicht haben Sie eine andere Möglichkeit für das Kind, wenn Sie hier arbeiten. Das klingt wie ein Befehl. Das Kind duckt sich sofort. Die Mutter nimmt jedes Buch vorsichtig in die Hand und reibt es mit einem weichen wollenen Tuch ab.

    Ein Zuhause ohne Kriegsschäden – das scheint es tatsächlich zu geben, wie hier bei den Bankleuten. Das Mädchen hat viel Zeit darüber nachzudenken, während es in der Ecke hockt und der Mutter beim Staubwischen zusieht. Warum kann es bei mir daheim nicht auch so schön sein?, denkt es, und sieht sehnsüchtig nach der Puppe mit dem Porzellangesicht und dem weißen Batistkleidchen. Sie thront auf dem Sofa wie eine Königin. Auch wenn es dem Mädchen in den Fingern juckt, sie einmal, nur ein einziges Mal, zu drücken, bleibt das Mädchen in der Ecke sitzen und schaut der Mutter zu.

    Die Mutter erfährt, dass sie ihr Kind in den Kindergarten bringen kann. Der Direktor möchte nicht, dass sie es zur Arbeit mitbringt.

    Der Kindergarten ist in der Friedrichstraße gegenüber dem Städtischen Knabengymnasium, eins für Mädchen hat die Stadt nicht.

    Die Mutter muss einen Henkelmann besorgen, damit das Kind darin sein Essen bekommt. Die Mühlen-Oma hat einen übrig. Damit de groß und stark wirst, sagt die Oma, die nur eine Nenn-Oma ist. Der Kindergarten ist in der Nähe der Mühle.

    Und nach dem Kindergarten kannste bei mich vorbeikommen, ne, Mädsche. Die Mühlen-Oma streichelt das Kind. Jetzt biste ja schon jroß. Pfiffi knurrt eifersüchtig und will dem Kind, wie jeden, der die Wohnung verlässt, an die Beine. Pfui Pfiffi, schimpft die Oma. Du fiese Möpp, dat is doch ä Pänz und kein Einbrecher.

    Die Nonnen schöpfen aus einem riesigen dampfenden Kessel mit großen Schöpfkellen das duftende Essen und geben es in die Henkelmänner der Kinder. Den Kindern wird ganz warm. Sie sitzen ganz still an den Tischen.

    Wenn ich dieses Bild träume, werde ich hungrig und wache auf. Ich nehme das Foto, das ein Fotograf von uns machte, aus dem Bilderrahmen auf meinem Tischchen. Es ist das einzige Foto bis zur Schulzeit.

    Am liebsten hatte ich die dicke Nudelsuppe mit Rindfleischstückchen darin, den Milchreis mit Backpflaumen mochte ich auch sehr gerne.

    Und dann geht der Traum weiter, das Kind zittert aus Angst vor den vielen Kindern. Es sagt der Schwester, dass es auf die Toilette müsse. Die Toilette ist auf dem Hof. Es kommt nicht wieder bis zur Kindergartenschließung. Die Schwestern rufen: Berta, wo bist du?

    Sie antwortet nicht. Erst als die Mutter ruft, macht sie die Klotür auf, und kommt heraus.

    Berta, was ist denn?

    So viele Kinder, sagt sie.

    Die Mutter Oberin kommt angerannt. Das geht aber nicht, Frau Pütz, erziehen müssen Sie Ihr Kind schon selbst, wir haben uns um alle Kinder zu kümmern.

    Berta, bittet ihre Mutter auf dem Heimweg, ich kann Dich nicht zum Bankdirektor mitnehmen, auch wenn Du die Bücher gerne hast, er will es nicht. Du bist fünf Jahre alt und musst das verstehen. Du bekommst hier Essen, da hab ich zu Haus einen Esser weniger. Das ist viel Geld für Vati und mich, wenn wir wochentags nicht für Dein Essen sorgen müssen, Du weißt doch, dass wir arm sind, wir haben alles verloren und müssen erst wieder was aufbauen, dazu müssen wir schwer arbeiten. Schwer arbeiten, hörst du. Am Sonntag essen wir dann zusammen.

    Es hilft nichts, am nächsten Tag sperrt sich Berta nach dem Essen wieder auf der Toilette ein, und am dritten Tag auch, obwohl sie versprochen hat, es nicht zu tun.

    Herr Direktor, spricht die Mutter den Herrn mit den funkelnden Lederschuhen an. Sehr geehrter Herr Direktor, um es noch höflicher zu sagen, das Kind hat Angst bei so vielen Kindern im Kindergarten. Darf es nicht hier in der Ecke sitzen, es fasst auch nichts an. Es guckt in sein Märchenbuch, das seine Tante von der Porta Westfalica mitgebracht hat. Die Mutter holt das Buch aus ihrer Tasche. Eigentlich hasst sie das Buch, wo sie sich doch so vor Ratten ekelt, aber als sie sah, dass die Ratten vernichtet werden, war sie einverstanden.

    Seh’n Sie, sehr geehrter Herr Direktor, das ist unser Buch, unser einziges. Berta geht nicht an Ihre Bücher, wir haben ja selber eine Kostbarkeit.

    Der Direktor guckt sie an und geht wortlos raus. Ihre Mutter fasst dies als Erlaubnis auf.

    Am Monatsende, nach der Auszahlung des Lohns, sagt er, dass sie ihre Arbeit gut gemacht habe, aber nicht wieder zu kommen brauche.

    Auf der Straße zerrt sie das Kind hinter sich her. Alles Deinetwegen, giftet sie, erst haste die Lebensmittelmarken zerrissen und jetzt hab ich Deinetwegen die Arbeit verloren! Hätte ich dich doch damals bei der Vertreibung im Graben ersaufen lassen!

    Sie erschrickt, drückt das Kind fest an sich und Tränen tropfen auf seine Locken.

    Auch mit diesem Traum muss ich leben. Mutti lässt mich im schmuddeligen Graben liegen. Reden darüber mit ihr, was das für ein Graben ist, kann ich nicht. Sie will nichts mehr von früher wissen. Wir sind jetzt hier, Schluss aus. Auch wenn Oma aus Bonn kommt und im Dialekt redet, schimpft sie. Du sollst nicht, Mama, so reden, wir sind schon Jahre im Rheinland, und lass endlich das Kopftuch zu Hause. Opa, sag du doch was, wendet sie sich an ihren Vater.

    Ja, was soll ich sagen, Madla, wir sind alte Bäume, die verpflanzen sich schlecht.

    Opa hat mir neulich den Stifter mitgebracht, Bergkristall, hab ich mit der Taschenlampe in einer Nacht leergelesen, das Buch mit seinen glitzernden klirrenden Worten, jedes einzelne hat mich angeschaut. So etwas hab ich noch nie erlebt, so ein Buch, das mich so mitnimmt auf eine Reise in die eisige Nacht in ein anderes Land, in eine andere Zeit. So etwas möchte ich auch schreiben können.

    Das Tagebuch eins

    Zu meinem Geburtstag und zu Weihnachten habe ich zu meinen Märchenbüchern endlich auch Bücher für junge Mädchen geschenkt bekommen, Trotzkopf und Nesthäkchen.

    Auf einem steht in Goldbuchstaben Tagebuch, von Tante Marie aus Bayern geschickt.

    Ich frage Tante Änne, was das ist, ich kenne nur das Poesiealbum, worin die Schulfreundinnen sich Gedichte widmeten. Ich hab bei der Jutta mal reingeschrieben:

    Gerede und Zank

    machen krank.

    Da hat mir niemand mehr in der Klasse ein Poesiealbum gezeigt.

    Die Tante meint, ein Tagebuch ist doch gerade richtig für dich, wo du so oft Stubenarrest hast. Da kannst du alle deine Gedanken, Geschichten und Geheimnisse reinschreiben. Dafür brauchst du aber einen Künstlernamen.

    Künstlername, warum?

    Nun, es muss ja nicht jeder wissen, wer das schreibt. Die Tante überlegt. Der Dichter Novalis, der hat schöne Gedichte geschrieben, fällt mir ein, der war in Wirklichkeit ein Prinz, du hast es doch auch mit Prinzen und Prinzessinnen, die sich verstecken müssen, damit sie unerkannt bleiben.

    Ich kenne Novalis nicht, aber Verstecken, denk ich, das will ich auch. Mein Bruder, mit dem ich das Zimmer teile, ist nämlich neugierig und petzt.

    Ich muss dich also erst mal kennenlernen, liebes Tagebuch, weil ich ja nicht weiß, wie du bist. Also nenn mich Betty. Den Namen von früher musst du nicht kennen, von der, die nur Märchenbücher und kein Tagebuch hatte, wenngleich ich mich manchmal schon verschreiben werde, denn an einen neuen Namen gewöhnt man sich ja nicht so schnell.

    Sonntagmorgen.

    In der letzten Zeit habe ich immer Ärger mit meiner Schulfreundin Sonja.

    Ich habe ihr den Trotzkopf ausgeliehen, den mir Tante Änne geschenkt hat. Eigentlich gefällt mir das Buch nicht, aber ins Internat, wie die Ilse Macket, möchte ich schon. Endlich weg von zu Hause, schon weil ich für jedes Bisschen Stubenarrest bekomme.

    Zu Neujahr hat Vati zwar gesagt, jetzt kannste widder frei rumloofe, aber ich muss immer auf der Lauer sein, besonders vor meinem Bruder, weil der sofort alles Vati erzählt und wenn der sieht, dass ich schreibe, will der das lesen. Ich verstecke dich, liebes Tagebuch, am besten unter meinen Schlüpfern, da haben Männer nichts zu suchen. Bitte entschuldige.

    Auch Mutti ist neugierig, zeig mal, und schwupp, hat sie es mir aus den Händen geraubt und liest. Ich will ja auch mal was schreiben, was nicht für andere bestimmt ist, meine Gedichte zum Beispiel. Da hat es auch immer Ärger gegeben in der Schule.

    Der Verrat

    Das Thema war: Was willst du mal werden?

    Ich hab in Gedichtform geschrieben.

    Voller Fehler, sagt die Lehrerin. Solche Wörter, die du erfindest, gibt es nicht. Der erste Satz hat schon mal kein Tuwort. Lies es vor.

    Der Winter ein Schattenwurf.

    Die Geworfenen, seine Kinder,

    hinter den düsteren Bäumen im Grabennebel,

    morgens, wenn ein Ahnen von Licht sich aufmachte

    in den Tag.

    Kleine Gespenster von lila,

    ein wenig farbiger als das sie umgebende Grau.

    Ich sah sie reiten mit dem Wind,

    auf meinem Schulweg durch den Park,

    ein lichtes Flattern der Äste

    Das ist der Wind, mein Kind,

    war das erste Gedicht, das ich auswendig lernte.

    Wir besaßen keine Bücher,

    nur eine Tafel, an die die Lehrerin den Erlkönig schrieb,

    jede Stunde eine Strophe,

    die sie in der nächsten Stunde abfragte,

    bis es saß, bei allen!

    Wir waren in der sechsten Klasse

    und hatten das erste Mal in Deutsch Literatur.

    Langsam vergaß ich die Schatten,

    die meine Kindheit verfolgten.

    Ich bettete sie in Märchen,

    sie verloren ihren Schrecken.

    Ich möchte Märchenerzählerin werden.

    Gut, ich gebe zu, als Märchen ist es schön, dafür würde ich eine Eins geben, sagte Frau Schmitz, aber ansonsten ist nicht nur das Thema verfehlt, sondern auch die Form. Deshalb kann es als Aufsatz nicht bewertet werden. Schon was Thema verfehlt heißt, weißt du. Und was meint ihr? Die Lehrerin fragt die Klasse.

    Ich musste die ganze Zeit vorne stehen und über das Gedicht sprechen, das heißt: verteidigen.

    Ich muss am Sportplatz vorbei zur Schule, stammelte ich, da ist es morgens noch dunkel. Früher kamen die Jungs, die in die katholische Schule gehen, und verprügelten mich, evangelischer Rattenfänger, riefen sie, Pimock, Fusselumpzigarrenstump, da habe ich Angst. Ich habe Angst, zu spät in die Schule zu kommen, weil ich ja noch einen weiten Weg habe.

    Und deshalb siehst du Gespenster? fragt die Lehrerin, die Schülerinnen gackern, besonders hässlich sind die hämischen Gesichter der dicken Töchter aus gutem Haus, die eine vom Eisen- und Elektrowaren-Kaufhaus, die durch den Schwarzen Markt reich wurden, und die von der Baufirma, die vom Bauen der Nachkriegsjahre reich wurden. Und ausgerechnet diese Schülerinnen, die schon eh Langeweile haben, sind vom Turnen befreit, weil sie was haben, was die anderen Mädchen noch nicht haben, wird getuschelt.

    Ihr habt ja keine Heimat verloren, schreie ich sie an, ihr hattet zu essen, und seid zu faul zu turnen!

    Da blieb ihnen das Lachen im Halse stecken, damit hatten sie nicht gerechnet, dass ich mich wehre.

    Geld habt ihr, ja, das haben wir anderen Mädchen nicht, die wir flüchten mussten. Aber keinen Funken Fantasie habt ihr!

    Nun kommt es! Statt mich zu unterstützen, sehe ich Sonja grinsen, und sie meldet sich und sagt, ich hab gesehen, wie sie das Gedicht abgeschrieben hat.

    Das ist nicht wahr, Sonja, schreie ich. Nein, das ist nicht wahr, ich habe doch gar keine Bücher, das weißt du doch, Sonja, außer Grimms Märchen, und diese Märchen kennt ihr alle.

    Nein, ich heule nicht, aber ich bin puterrot und darf mich wieder auf den Platz setzen.

    Zu einem späteren Zeitpunkt wird Vati in die Schule geladen, der kann aber nicht, weil er in der Fabrik arbeitet und dafür keinen freien Tag kriegt, da müsste er sich Urlaub nehmen, aber das bin ich ihm nicht wert.

    Frau Schmitz sagt, ich würde dir jetzt bei den Nachmeldungen doch noch mal eine Chance geben und eine Empfehlung für die höhere Schule schreiben.

    Mutti geht zur Lehrerin.

    Sie sind aber nicht erziehungsberechtigt, Frau Pütz.

    Lassen Sie den Versuch, Frau Schmitz, sagt sie, mein Mann will es nicht, die Schule kostet Schulgeld, das haben wir nicht, und er ist der Meinung, dass ein Mädchen eh heiratet.

    Ihre Tochter ist ja gut, aber in Deutsch bräuchte sie Nachhilfe und dann könnte sie auch weiterhin Englisch lernen, aber so geht es nicht, sie muss aus dem Englischunterricht raus. Sie kann ein wenig Latein, wie kommt das? Sind Sie katholisch?

    Ja, ja, gewesen, stottert Mutti, aber nicht praktiziert, ich kann kein Latein. Wir hatten im Haus ein Mädchen, von einem schlesischen Beamten, verstehen Sie, die ging aufs Lyzeum, da hat Berta sie mit den Vokabeln abgehört.

    Das ist ja erstaunlich, ein Volksschulmädchen hört eins vom Lyzeum ab?

    Hat sie also doch die Begabung?

    Nein, nein, Frau Schmitz, das Mädchen ist nach Köln gezogen, weit weg, die haben keinen Kontakt mehr. Meine Tochter wird das alles wieder vergessen, ereifert sich Mutti, und ich kann ihr ja sowieso nicht helfen, ich hab weder Latein noch Englisch gelernt, nur ein wenig Tschechisch, das zählt hier aber nicht.

    Das ist wahr, Frau Pütz, dann kann ich Ihnen und Ihrer Tochter nicht helfen, da kommt sie nach der achten Klasse raus und wird in die Lehre gehen.

    Ja, suchen wir dann für sie eine Lehrstelle, aber das ist ja noch ein Weilchen hin. Ich danke Ihnen, Frau Schmitz. Da kann ich ja meinen Mann beruhigen. Der hätte Krach geschlagen, wenn Sie eine Empfehlung für die höhere Schule ausgesprochen hätten, es sind ja selbst die Töchter der Reichen, ja sogar die vom Arzt ist letztes Jahr durch die Aufnahmeprüfung gefallen. Wie sollten wir einfachen Leute dem Kind helfen können?

    Mutti nimmt mich an die Hand und wir gehen schweigend nach Hause.

    Ich muss immer wieder an diesen Tag denken, was wäre wenn …?, ginge ich auf die Höhere Schule oder in ein Internat, könnte ich vielleicht wie die Ilse Macket in Trotzkopf mal einen Landratssohn heiraten, was immer das ist.

    Sonja hat das Buch zurückgebracht, gefällt ihr nicht, sie würde keinen Landratssohn heiraten, sondern gleich einen Grafen.

    Ein Tagebuch der besonderen Art

    Ich bin ganz erschüttert. So was habe ich noch nie gehört und gelesen. Tante Marie hatte mir noch ein Buch geschickt. Ich habe jetzt erst drin gelesen: Anne Frank, Tagebuch.

    Auch Anne hat ein Tagebuch geschenkt bekommen, so hat das Tante Marie also gemeint. Dass ich das so mache wie Anne. Sie schreibt an eine: liebe Kitty, die es aber gar nicht gibt. Sie leben in Amsterdam, versteckt, weil sie verfolgt werden, von den Nazis.

    Ich habe Mutti gefragt, was ist denn das? Dass die Nazis in Holland die Juden verfolgen?

    Das weiß ich nicht, wir waren ja damals in der Tschechoslowakischen Republik, das ist weit weg. Da haben sich keine Juden versteckt, bei uns in Trautenau gab es keine Juden. Die Leute waren bis auf wenige Evangelische alle katholisch.

    Ich kann keinen fragen, was das bedeutet. Sonja nicht, die Karin nicht, mit der ich Fahrrad fahre, sie alle wissen das nicht. Schade, dass Linda nicht mehr da ist, die hat das vielleicht auf der höheren Schule gelernt, was die Nazis mit den Juden gemacht haben.

    Vielleicht weiß es Onkel Franz oder Opa, aber ich komme jetzt nicht mehr nach Bonn. In der Schule traue ich mich nicht, so was zu fragen, und den Pfarrer im Konfirmandenunterricht auch nicht, bald ist die Prüfung, da werden wir nach dem Neuen Testament abgefragt, nach Jesus und der Bergpredigt.

    Ja, ich habe Jesus lieb, weil er zu den Kindern lieb war, lasset alle Kindlein zu mir kommen, denn ihnen gehört das Himmelreich.

    Mein Vater ist doch auch konfirmiert, dass er das vergessen hat.

    Meine Mutter als Katholische hatte ja so was nicht.

    Ich kann gar nicht aufhören, Anne Frank zu lesen. Sie hat auch Probleme mit den Erwachsenen, mit ihrer zickigen Schwester, die stell ich mir wie Sonja vor, die Mutter von Anne ist auch komisch, der Vater ist ja in Ordnung, anders als bei mir.

    Seit letztem Jahr haben wir den Kölner Stadt-Anzeiger abonniert, vorher hatten wir keine Zeitung, nur abends das Fernsehen mit den Nachrichten und das Radio.

    In der Zeitung steht auch so einiges drin, was ich nicht wusste.

    Geschimpft wird wegen der Jugend, diese Halbstarken untergraben die

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