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Menschen am Weg: Begegnungen
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eBook337 Seiten4 Stunden

Menschen am Weg: Begegnungen

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Über dieses E-Book

Was bleibt vom Weg, den wir in unserem Leben zurücklegen?
Emil Zopfi erzählt von den Menschen, die ihn ein kurzes oder auch ein langes Stück begleitet haben, von Glarus nach Zürich, ins Rheinland und in die Toskana, nach Berlin und Amerika, über Palästina ins Tessin.
Da sind die schöne Mama, die im Sarg aussieht wie Schneewittchen, und die deutsche Stiefmutter, die an dem Tag, als sie den Vater heiratet, vom kleinen Emil wissen will, ob er sie denn auch lieb habe. Der Onkel Josef, der mit nur einem Unterhemd aus Stalingrad zurückkehrte. Johannes, der in ihm die beiden großen Leidenschaften seines Lebens weckte: Berge und Literatur. Rosmarie, die dicke, dumme Rosmarie, die bei ihm das Schreiben lernen wollte und am Ende an ihrer eigenen Geschichte zerbrach. Die Iranerin Faezeh, die als Studentin bei Zopfis zu Hause in Zürich wohnte und später bei der Weltbank Karriere machte. Hansruedi, mit dem er dramatische Stunden am Fels teilte. Und da ist Christa, im alles entscheidenden Augenblick.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum4. Sept. 2018
ISBN9783858698087
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    Buchvorschau

    Menschen am Weg - Emil Zopfi

    Augenblick

    Babetta

    Meine schöne Mama

    Im Sarg sah sie aus wie Schneewittchen, so bleich und die Wangen rot, von feinen Äderchen durchwoben. Ich dachte an die Märchenprinzessin, die einen vergifteten Apfel gegessen hatte und viele Jahre tot in ihrem gläsernen Sarg lag. Ein Zwerg war ich, betrachtete meine tote Mama, die so schön war und nach langem Schlaf vielleicht wieder erwachen und mich mitnehmen würde auf ihr Königsschloss. Sie war so in den Sarg gebettet, dass ich das Auge nicht sehen konnte, das beim Aufprall auf das Auto verletzt worden war. Oft stellte ich mir später meine Mama mit einem gläsernen Auge vor und fragte mich, ob sie damit noch immer so schön wäre. Der Gedanke machte mir Angst. Aber nun lag sie ja im Sarg und schlief tief und ewig.

    Als ich letzthin für meine Schwester die Steuererklärung ausfüllte, wie jedes Jahr, holte sie zwei Fotoalben aus einem Kästchen in ihrem Zimmer und bat mich, sie durchzublättern. Sie ist über achtzig und lebt seit Jahrzehnten bei den Diakonissen in Riehen, wo sie in der Nähstube einfache Arbeiten verrichten konnte, liebevoll betreut von den frommen Schwestern.

    Warum mir Annemarie die Alben mit Familienfotos zeigen wollte, weiß ich nicht. Als wir die Bilder betrachteten, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie schick unsere Mutter gekleidet war, die Bauerntochter und Fabrikarbeiterin aus dem Glarner Hinterland. Ich sehe sie ganz in Schwarz, einen breitrandigen Hut etwas schief auf dem Kopf. Oder in einem blumigen Kleid, knielang und mit kurzen Ärmeln, mit unserem strengen Vater und der Schwägerin Aimée auf der Piazza San Marco in Venedig. Die Ehefrau seines Bruders Franz aus Paris wirkt neben unserer Mama ziemlich bieder. Ganz in Weiß gekleidet, sitzt sie am Strand von Nizza im Liegestuhl, eine Strickarbeit in den Händen. Selbst auf einer Bergtour mit Vater und Franz zum Claridenfirn trägt sie ein Jäcklein mit tiefgeschnittenem breitem Kragen und einen eleganten Faltenjupe. Dazu klobige Schnürschuhe, wie sie vor ein paar Jahren bei jungen Frauen wieder in Mode waren. So könnte sie heute noch durch die Bahnhofstraße von Zürich flanieren und die Leute würden ihr bewundernd nachschauen. Vater steht neben ihr auf dem Gletscher, stützt sich auf seinen Bergstock und schaut grimmig in die Kamera. Er hat das Foto mit dem Zickzackrand sorgfältig mit Farbstift koloriert.

    Vaters großes Hobby war die Fotografie. Ich sitze neben ihm auf einem Hocker in der Waschküche, es ist so dunkel, dass nicht einmal die rote Lampe brennen darf. Er entwickelt Farbfotos, als einer der Ersten im Land, wie er mir erklärt, da ist nicht einmal Rotlicht erlaubt wie bei schwarzweißen Bildern. Ich höre ihn mit Pinzetten hantieren, Fotopapier auspacken und in den Vergrößerungsapparat spannen, Schalen mit Entwickler- und Fixierbädern umherschieben, gefüllt mit Chemikalien, so giftig, dass ein einziger Tropfen einen Menschen töten könnte. Er belichtet ein Negativ, zählt die Sekunden, das Fotopapier taucht in die Entwicklerflüssigkeit. Jetzt schaltet er die rote Lampe ein. Allmählich tauchen die Umrisse meiner Mama auf, ihre zu zwei Höckern hochgesteckten braunen Haare, die weinrote Bluse mit dem weißen Kragen, die Goldbrosche in Form einer Acht, die Ohrringe mit winzigen Rubinen.

    Mein Vater ist enttäuscht: »Sie hat die Augen geschlossen.«

    Die Aufnahme zeigt meine Mama, wie sie in dem Augenblick die Augen zukneift, als er auf den Auslöser drückt. Es ist das letzte Foto vor ihrem Tod. Mit sechsunddreißig Jahren wirkt sie schon etwas verhärmt, Falten über der Nasenwurzel, Krähenfüße. Sie ist nicht mehr die Madonna des Hochzeitsbilds, das in dem Familienalbum die Zeiten überdauert hat. Eine retuschierte Studioaufnahme im ovalen Ausschnitt, wie damals üblich. Mama trägt einen kurzen Schleier, mit Spitzen besetzt, auf ihrem Kopf festgehalten von einem Blumenkranz, der die Frisur ein bisschen zerdrückt; mein Vater Stehkragen, Fliege, nach hinten gekämmte Haare, die seine abstehenden Ohren betonen. Zehn Jahre älter ist er, der Textilmeister. Heimgekehrt nach einsamen Jahren im Ausland, heiratet er die Arbeiterin aus der Fabrik. Endlich hat er ein Zuhause, Familie und schon bald zwei Kinder.

    »Sie war das schönste Mädchen im Tal«, schrie mir einmal eine entfernte Verwandte, der ich noch nie im Leben begegnet bin, durchs Telefon zu. Sie machte mir Vorwürfe, weil ich einen kritischen Artikel zu einem Gerichtsfall im Glarnerland geschrieben hatte. Das hatte die Verwandte in Rausch und Rage versetzt. Sie war betrunken, ließ sich auch mit üblen Beschimpfungen über meinen Vater aus, als sei ich schuld, dass er die Schönste des Tals entführt hatte. Geradeso wie der Jäger das Schneewittchen im Auftrag der bösen Stiefmutter.

    Nun, unglücklich sieht meine zukünftige Mama auf dem Hochzeitsbild nicht aus. Eher nachdenklich und ein bisschen befangen. Was wohl die Zukunft an der Seite jenes Weltenbummlers mit sich bringe, mochte sie sich fragen. Das Paar hatte, wie mir mein Vater später einmal gestand, nicht warten mögen bis zum »Limes Hochzeitstag«, wie er das nannte. Der hatte verschoben werden müssen, weil ihre Mutter, also meine Großmutter, kurz zuvor beim Kartoffelauflesen auf dem Feld tot umgefallen war. Da konnte man ja nicht gleich ein Hochzeitfest feiern.

    Als junge Frau trägt meine Mama die Haare kurz, später dann von beiden Seiten hochgesteckt zu der lustigen Frisur mit den Höckern. Ich muss gestehen, ich erinnere mich kaum mehr an ihr Aussehen, dafür aber noch an ihre Stimme. Aus meiner Kindheit ist mir der Eindruck geblieben, dass viele Glarnerinnen ein kräftiges Stimmorgan besitzen. Woher das kommt, weiß ich nicht. Auf den Alpen musste man sich früher über weite Distanzen mit Rufen verständigen. Auch im Maschinenlärm der Fabriken im Industrietal, wo die meisten Frauen arbeiteten, konnte man sich nur lautstark Gehör verschaffen. Viele Glarnerinnen, die ich kenne, wirken sehr selbstbewusst und zupackend. Meine Mama habe ich jedenfalls nicht als zartbesaitet in Erinnerung. Als ich einmal mit einem Nachbarsmädchen einen Zehner aus dem Küchenschaft entwendete und wir am Bahnhof am Automaten ein Schächtelchen Pfefferminz holten, da hat sie uns tüchtig verhauen.

    Unvergesslich sind mir die Samstagnachmittage, wenn das Rauschen der Fabrik im Dorf allmählich verstummt und eine seltsame Ruhe einkehrt. Jetzt darf ich in den Maschinensaal hinauf zu den Drosslerinnen, den Frauen an den Spinnmaschinen. Ich helfe beim Maschinenputzen, reinige mit Putzfäden Walzen, Spinnringe und Zahnräder von Staub und Öl. Eine fröhliche Stimmung herrscht so kurz vor Feierabend unter den Frauen, ihre Haare sind voll Baumwollstaub, ihre Gesichter gerötet von der Hitze. Sie lachen und scherzen in der Stille nach einer Woche im Maschinenlärm. Manchmal steckt mir eine einen Riegel Schokolade oder ein Bonbon zu. Zu Hause gibt es süßen Milchkaffee und Cornets, Cremeschnitten, Mohrenköpfe und Vogelnestchen. »Zwanzigerstücklein« nannten wir die Patisserie, weil das Stück zwanzig Rappen kostete. Die Stunde am Familientisch nach der Arbeitswoche gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Noch heute bin ich süchtig nach Kaffee und süßem Gebäck. Als suchte ich damit stets das vertraute Glück jener Stunde, das so früh und so brutal zerbrach.

    Ein Bild erscheint vor meinen Augen, so deutlich, als sei es ein Foto aus dem Album. Mama führt mich an der Hand den Dorfbach entlang. Es ist ein Samstag, wir sind auf dem Weg nach Hause. Sie kommt mir verändert vor, müde und bleich und etwas dick geworden, ihr Blick verhärmt, wie auf dem Familienfoto, das mein Vater mit Selbstauslöser aufgenommen hat. Wir sitzen auf der Bank im Garten vor dem Haus, meine Schwester und ich zwischen die Eltern gedrängt, damit alle auf dem Bild Platz finden. Vater mit schief gebundener Krawatte, Anzug mit Gilet, Brille und dem goldenen Fingerring mit Rubin. Annemarie in gestreifter Bluse mit Zöpfen, nachdenklich, die Faust aufs Bein gedrückt. Das Zwerglein im Polohemd mit Gürtel und ledernen Hosenträgern zwischen Schwester und Mama. Sie beugt sich herüber, als müsse sie ihren Kleinen beschützen, auch bei dieser Gelegenheit elegant in hellem Deux-pièce und weißer Bluse mit schwarzer Seidenmasche. Eine Hand umfasst das Handgelenk, eine demütige Geste. Ein müder, wie in traurige Gedanken versunkener Ausdruck steht ihr im Gesicht. Was hat sie vom Leben erwartet, meine schöne Mama? Was träumte sie während schlaflosen Nächten oder endlosen Tagen der monotonen Maschinenarbeit? Ich weiß es nicht. Ich hätte ihr alles Wunderbare, alles Glück dieser Welt gewünscht.

    Mag sein, dass es am Tag vor dieser Fotografie war, als mir Mama so eigenartig verändert erschien. Es war am Bach hinter der Fabrik, ein Augenblick nur, jedoch einer, der sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt hat. Seine Bedeutung offenbarte sich einige Monate später, an einem Morgen kurz vor Weihnachten. Mein Vater kommt in die Küche, wo meine Schwester und ich beim Frühstück sitzen. »Ihr habt einen Bruder bekommen. Er heißt Franz.« Oh, wie wir jubeln und uns freuen. Bis er leise sagt: »Franz ist tot. Tot geboren.« Und nach einer Pause: »Eure Mama hat viel Blut verloren, aber es geht ihr gut.«

    Er hat ein Grab bekommen, mein kleiner Bruder, ein schwarzes Eisentäfelchen mit seinem Namen. Nicht weit von ihm wurde ein halbes Jahr später meine Mama bestattet. Vater ließ einen Stein aus schwarzem Marmor setzen, in Goldschrift stand darauf: »Ihr Leben war Liebe und Arbeit«.

    Wie hätte ich mir gewünscht, dass mein Bruder lebte, dass er neben mir gestanden hätte am Sarg unserer schönen Mama. Er wäre meine Stütze gewesen, mein Freund, mein Begleiter durch alle Not meiner Kindheit. Aber Franz wäre erst ein halbes Jahr alt gewesen, und geweint hätte er nicht wegen dem Unglück, das uns die Mutter entrissen hat, sondern weil niemand daran dachte, seine Windeln zu wechseln oder ihm den Schoppen zu geben. In meinen Wunschträumen ist mein Bruder nicht sieben Jahre jünger, sondern fast gleich alt wie ich. Auch er eines der Zwerglein, die am Sarg des Schneewittchens Wache halten, Hand in Hand, bis der Königssohn die Schöne wieder zum Leben erweckt.

    Theo

    Spaziergang im Mai

    Er holt ein Fotoalbum aus dem Nebenraum, es ist die Nummer 10 von 123 Alben, in denen er sein Leben dokumentiert hat. Bilder, Zeitungsausschnitte, Postkarten, Hotelprospekte samt Rechnung, Fahrkarten. Alles sauber eingeklebt, meist ohne Kommentar. Im Album Nummer 10 auf der ersten Seite ein Foto von Susi und mir, Hand in Hand. Sieben oder acht Jahre alt sind wir und in der gleichen Schulklasse. Im Hintergrund der Seelisberg, das Haus bei den Fabrikweihern oberhalb von Gibswil. Wir blättern. Fotos unserer Klasse, drei Buben, drei Mädchen waren wir, schauen jung und fröhlich ins Leben. Ein Bild von mir auf Ski am Abhang hinter dem Schulhaus, Hosenträger halten meine viel zu großen Skihosen.

    Unser Lehrer Theo Gull war ein großer Naturfreund und Fotograf. Nun sitze ich mit meiner Frau in seinem Haus in Oerlikon. Seit einigen Monaten wohnen wir in der Nähe, ich habe mir ein Herz gefasst und angerufen. Gegen neunzig geht er, erzählt viel, wirkt zwischendurch abwesend, in Gedanken verloren. Frau Gull hat Kaffee und Tee gemacht, auf dem runden Tisch steht eine Schale mit Gebäck und Schokoladentalern. »Er hat halt Süßes gern.« Genau wie ich. Auch unsere Frauen heißen gleich, Christa.

    Klein kommt er mir vor, etwas gebückt, mein Lehrer, den ich groß und kräftig in Erinnerung habe. Alt und ergraut, doch seine Augen sind wach und durchdringend wie einst. Er leidet an Parkinson, ein Rollator steht im Eingang, die Spitex kommt jeden Tag. Er erzählt von den Bergmolchen und Kaulquappen im Biotop im Garten vor dem Mehrfamilienhaus aus Familienbesitz. Seit nebenan ein Wohnblock in die Höhe gezogen wird, sind die Tiere seltener geworden. Auch Gänse hatte er früher, aber denen war es zu eng im Garten.

    Theo Gull ist noch immer ein Naturfreund wie damals, als er unser Interesse für Vögel, Ameisen, Bienen und Blumen weckte. An den Spyr erinnert er sich noch gut, den wir retteten und aufpäppelten und schließlich in die Luft warfen, damit er sich wieder dem Schwarm anschließen konnte. Ein Spyr kann nicht aus eigener Kraft vom Boden abheben. Wann immer im Dorf ein Jungvogel aus dem Nest fiel oder eine Katze eine Vogelmutter fraß, brachte jemand die verletzten oder verwaisten Tiere in die Schule. Im Klassenzimmer fütterten wir sie mit Ameiseneiern, die wir aus den Bauten von Waldameisen herauswühlten. Manchmal überlebten die Vögel, oft auch nicht. Meist mussten wir darüber einen Aufsatz schreiben, dazu klebte uns der Lehrer Fotos ins Reinheft, die er selber entwickelt und vergrößert hatte.

    Ab und zu zogen wir morgens mit allen sechs Schulklassen los, ausgerüstet mit Feldstechern, und beobachteten an einem Waldrand Meisen, Spechte und Kleiber oder gar einen Zaunkönig oder ein Goldhähnchen, lernten ihr Gefieder und ihren Gesang kennen. Ab und zu brachten Schüler Rüebliraupen in die Schule. Wir beobachteten, wie sie sich in einem Holzkästchen hinter einer Glasscheibe verpuppten. Wenn die Puppe dann endlich einen Riss bekam, der sich langsam erweiterte, und sich der Schwalbenschwanz daraus hervorzwängte und entfaltete, stand der Unterricht still. Andächtig saßen wir rundherum und staunten über das Wunder der Natur.

    Ich erinnere meinen alten Lehrer an jenen Morgen, an dem er die blauen Hefte mit den Entwürfen für einen Aufsatz austeilt, Thema: »Die Wiese im Mai«. Wir haben zuvor einen Imker besucht, der uns von seinen Bienen erzählt, vom Hochzeitsflug der Königin und der Drohnenschlacht. Die Arbeiterinnen töten die nach der Befruchtung nutzlosen männlichen Bienen. Der Imker zeigt uns, wie er den Honig aus den Waben schleudert und die Bienen im Winter mit Zuckerwasser füttert. Mit dicken Handschuhen, einem Netz über dem Gesicht und Rauch aus einer speziellen Pfeife schützt er sich vor den Stichen.

    Im Aufsatz baue ich alles in eine Geschichte ein. Ich wandere über die Wiese, beobachte Bienen und Wespen, besuche den Imker, lasse ihn erzählen. Den Titel ändere ich, »Spaziergang im Mai« finde ich passender. Ich weiß nicht, ob das erlaubt ist. Unser Lehrer ist sehr streng. Bang ist mir zu Mute, als er am andern Morgen auf mich zukommt, mir mein Heft zurückgibt. »Das ist ein sehr schöner Aufsatz!«, lobt er.

    Er tadelt nicht, belohnt mich sogar mit zwei Büchern über Natur und Tiere.

    Seit jenem Tag bin ich Schriftsteller. Es war einer der Augenblicke, in denen sich Wesentliches im Leben entscheidet, ohne dass man sich dessen sogleich bewusst ist. Ich hatte keine Ahnung, dass Schreiben ein Beruf sein könnte, und ahnte nicht, wohin mich das Lob des Lehrers führen würde. Ich wusste einfach: Schreiben kann ich, Geschichten schreiben macht mir Freude. Auch wenn ich im Schönschreiben ein Versager war und einmal eine so schlechte Note im Zeugnis bekam, dass mein Vater sich weigerte, es zu unterschreiben.

    Ich frage Theo Gull, ob er sich erinnere.

    »Leider nein«, sagt er.

    Ich kann ihn verstehen. Er hat in seinem Leben Hunderte von Schülern unterrichtet und ihr Leben geprägt, sei es durch Lob oder Tadel. Er hat die ersten und wichtigsten Weichen gestellt, in die eine oder andere Richtung. Ich gehöre zu den Glücklichen, mein Lehrer hat in einem entscheidenden Augenblick meines Lebens das Richtige getan, die passenden Worte gefunden. Das möchte ich ihm sagen, aber ich bin auch heute noch etwas befangen, wenn ich ihm gegenüber sitze. Er ist ein alter Mann, wie auch ich, aber noch immer mein Lehrer. Insgeheim hoffe ich, er würde mir das Du anbieten, doch wir bleiben auf Distanz.

    Theo Gull kam als junger Lehrer nach Gibswil, als ich in der ersten Klasse war. In der Erinnerung sehe ich ihn in Militäruniform vom Bahnhof die Dorfstraße heraufkommen. Schwer bepackt marschierte er an der Fabrik vorbei und über den Kiesplatz zum Schulhaus, wo er die Lehrerwohnung im oberen Stock bezog. Er hatte seinen Unteroffiziersgrad als Fourier »abverdient«, wie man sagt, deshalb hatten wir die Schule im Frühling mit einer Vertreterin begonnen. Im Vorbeigehen nickte er mir zu, grüßte freundlich.

    Mit ihm änderte sich der Unterrichtsstil an unserer Sechsklassengesamtschule grundlegend. Das Harmonium verschwand aus dem Klassenzimmer, dafür stand eines Tages das Klavier da, auf dem er uns beim Singen begleitete. Wir lernten das Wiegenlied von Johannes Brahms, »Guten Abend, gut Nacht, mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck …«. Ich stellte mir vor, wie das wohl sei, mit kleinen Nägeln besteckt unter die Bettdecke zu kriechen.

    Laut schmetterten wir »Ein Veilchen auf der Wiese stand …«. Kann sein, dass die junge Schäferin, die in dem Liedtext von Goethe über die Wiese daherkommt, ein Veilchen pflückt und an den Busen drückt, meinen Aufsatz beeinflusst hat. Unser Lehrer hat uns mit diesen Liedern ein Fenster in eine andere Welt geöffnet, weitab von unserem Fabrik- und Bauerndorf.

    Er brachte Kultur in unsere arme Schule. Auch mit Büchern. Bisher hatte unsere Schulbibliothek aus genau so vielen Büchern bestanden, wie sie in einer Reihe auf dem Harmonium Platz fanden. Er verlegte die Bibliothek ins Dachgeschoss des Schulhauses, beschaffte neue und spannende Literatur. Samstags las er uns Geschichten in Fortsetzungen vor, zum Beispiel von den Abenteuern eines Steinzeitmenschen namens Thuro.

    Wir wurden eifrige Leser, zu einer Zeit, als es noch kein Fernsehen gab und auch sonst wenig Unterhaltung im Dorf. Zu Weihnachten durften wir uns ein Heft des Schweizer Jugendschriftenwerks aussuchen – später habe ich selber fürs SJW einige Hefte verfasst.

    Gelegentlich zeigte er uns Filme. Das Schulzimmer wurde verdunkelt, andächtig saßen wir in unseren Bänken und erfuhren, wie Schokoladentafeln oder Maggiwürfel hergestellt wurden oder wie unsere Armee im Gebirgskampf Iglus baute. Einmal dauerte es so lange, dass ich dabei in die Hosen pisste. Er filmte auch selber, zum Beispiel die Hochzeit einer Tochter des Fabrikherrn im Dorf. In einer Szene stürzen sich die Kinder auf die Bonbons, »Feuersteine« nannte man sie, die beim Vorbeiziehen des Brautpaars unter die Leute geworfen wurden. Im Hintergrund sieht man einen kleinen Buben, der davonläuft. Das war ich; eine Biene hatte mich in die Hand gestochen und ich konnte mir keinen einzigen Feuerstein erobern.

    Theo Gull unterrichtete unsere sechs Klassen nebeneinander und miteinander in einem einzigen Raum. Das verlangte Disziplin, doch damit hatte er wenig Mühe. Er strahlte Autorität aus, nur schon dank seiner Größe, seinem strengen Blick und seiner bestimmenden Art. Den Unterricht führte er straff, seine Anweisungen waren klar, deutlich und unwiderruflich. Ein hervorragender Lehrer, der forderte und förderte. Heute würde man ihn als autoritär bezeichnen, aber ich denke, wir Wildkinder auf dem Land hatten die feste Hand nötig. Und auch den Hygieneunterricht. Taschentuch, Hände und Fingernägel kontrollierte er und führte regelmäßiges Zähneputzen ein. Wer nicht gehorchte oder Unsinn trieb, riskierte »Tatzen« auf die Hand mit dem Lineal oder auch mal eine Ohrfeige. An eine erinnere ich mich, sie schmerzte sehr, vor allem, weil ich sie als ungerecht empfand. Aber ich habe ihm längst verziehen.

    Er lehrte uns auch die praktischen Dinge des Lebens, den Fahrplan lesen, einen Einzahlungsschein ausfüllen, telefonieren. Die wenigsten von uns hatten ein Telefon zu Hause. Von seiner Wohnung aus mussten wir eine Nummer anrufen, uns korrekt melden. Auf der andern Seite antwortete »Onkel Gottlieb«, ein Schüler der sechsten Klasse, aus der Telefonzelle der Post. Mit dem Kursbuch der Bahn planten wir fiktive Reisen ins Tessin, ins Wallis, in die Westschweiz, lernten so auch unser Land kennen.

    Wir waren die größte Klasse, Kriegsjahrgang. Die Probezeit zur Sekundarschule schafften wir spielend. Ich glaube, wir alle hätten ein Jahr überspringen können, denn in der Gesamtschule lernten wir von den oberen Klassen, wenn der Lehrer sie an der Wandtafel unterrichtete und wir an unseren stillen Arbeiten saßen. Schon in der fünften Klasse lösten wir die Aufgabenblätter für die Vorbereitung zur Probezeit der Sekundarschule.

    Ich litt unter dem frühen Tod meiner Mutter und weinte oft in der Schule. Bei einer Gelegenheit holte mich Theo Gull vor die Türe, kniete sich vor mich und fragte mich eindringlich, warum ich denn so traurig sei. Es war Zeichenstunde, wir sollten Blumen malen, Tränende Herzen. Das klingt, als hätte ich die Szene erfunden, aber meine Tränen hatten nichts mit den Blumen zu tun, die der Lehrer in einem Topf mitgebracht hatte. Ich hätte sie gerne mit Farbstift statt mit Wasserfarben gemalt.

    »Aber das ist doch kein Grund zum Weinen! Du darfst Farbstifte nehmen«, tröstete er mich.

    Es half nicht. Mein Herz tränte von all dem Leid, das mir nach dem Tod meiner Mutter und dem Einzug einer Stiefmutter widerfahren war. Doch ich traute ich mich nicht, meinem Lehrer meine seelische Not zu klagen. Später dachte ich oft, hätte ich doch etwas gesagt, dann hätte er mir geholfen.

    Am Ende der Zeichenstunde hingen unsere Arbeiten mit Nadeln an die Korkwand geheftet, die wunderbar fein aquarellierten rotweißen Blüten der talentierten Rosmarie und die mehr oder weniger geglückten der andern, dazwischen mein armseliges Farbstiftgekritzel. Mein Leid war für alle sichtbar und niemand verstand es.

    In der Kirche sah man unseren Lehrer nie, er war nicht religiös. »Ein Rohköstler«, wurde erzählt. Gläubig auf eine andere Art. Jedenfalls kein Opportunist, der sich anpasste, in die Wirtschaft zum Jassen ging und sich den Behörden andiente.

    Wir waren in der sechsten Klasse, als kurz vor Weihnachten unsere Sonntagschullehrerin krank wurde. Damit es trotzdem ein Weihnachtsspiel gab, studierte Theo Gull mit uns während des Unterrichts ein Stück ein. Margrit vom Seelisberg, die ich anbetete, war mit ihren langen dunklen Haaren gewiss die schönste Maria, die es je in einem Weihnachtsspiel gegeben hat. Unser Lehrer hat ein Foto gemacht, Margrit sitzt bei der Krippe, eine Puppe als Jesuskind im Arm, bei ihr steht ihr Bruder mit Hut und Stecken als Josef. Ob ich ein Hirt war oder einer der Drei Könige, weiß ich nicht mehr. Aber dass ich auf meiner diatonischen Handorgel »O du Fröhliche« und »Stille Nacht« spielen musste, vor versammelter Dorfgemeinschaft, ist mir als Alptraum in Erinnerung geblieben. Da ich mehrere Tasten gleichzeitig drücken musste, ging meinem Musikinstrument ständig die Luft aus. Das klang, als hätte das Instrument Asthma, brachte mich aus dem Rhythmus, und die mitsingende Dorfgemeinschaft verhaspelte sich.

    Gegen Ende der Primarschulzeit lud »Theo«, wie wir ihn unter uns nannten, die Buben zum Kaffee in seine Wohnung ein. Es war Winter, wir saßen um einen Tisch in der Stube, es gab Gebäck, Tee und Kaffee. Hansruedi, ein Bauernsohn und unser Klassenbester, meinte, zum Kaffee gehöre ein Schnaps. Unser Lehrer verschwand in der Küche und kehrte mit verschmitztem Lächeln zurück, eine Flasche Kirsch in der Hand. Jeder bekam einen Schuss in den Kaffee. Ein Augenblick wie eine Initiation: Nun seid ihr groß, bald Sekundarschüler und fast schon erwachsen, gab er uns damit zu verstehen. Noch heute meine ich, den Duft des Kirschs im heißen Kaffee zu riechen, wenn ich an jenen Nachmittag denke.

    Später draußen auf der Straße waren wir total übermütig, bewarfen uns mit Schneebällen, lärmten und torkelten herum, als wären wir betrunken. Das waren wir bestimmt nicht von den paar Tropfen Schnaps, doch die Geste unseres Lehrers hatte uns tiefen Eindruck gemacht. Er hatte uns aus seiner strengen Obhut entlassen. Wie den Spyr hatte er uns aufgehoben, in die Luft geworfen und uns fliegen lassen.

    Zusammen gehen wir durch den Garten, die Biotope sind mit Eis bedeckt. Die Molche haben sich in den mit Gebüsch bewachsenen Abhang zurückgezogen, unter dem der neue Block im Rohbau steht. Auf dem Trottoir vor dem Haus verabschieden wir uns. Nach ein paar Schritten schaue ich zurück. Er steht vor der Tür und winkt.

    Zwei Jahre später, ein Herbsttag mit bleicher Sonne. Die Familie hat mich gebeten, in der Kapelle im Friedhof Nordheim ein paar Worte zur Abdankung meines Lehrers zu sprechen. Susi, Hansruedi und Heidi sind da, wir sind die einzigen ehemaligen Schüler. Die Tochter spielt auf der Geige Volkslieder, ein Pfarrer spricht. Es ist eine kleine, würdige, heitere Feier. Ich lese einen Text vor, der von den Jahren in unserer Schule erzählt und von meinem Aufsatz, dem »Spaziergang im Mai«. Mein letzter Dank an meinen guten, strengen Lehrer.

    Fredy

    Nupote beriet

    Das Kästlein war aus Holz, grün bemalt, man konnte eine kleine Tür öffnen und ins Innere schauen. In der Mitte steckte eine Lampe in einem Sockel, Drähte führten zu elektronischen Bauteilen, Schaltern und Steckern. Fredy hatte das Gerät in seiner Freizeit gebaut. Er war Lehrling in der Schlosserei der Baumwollspinnerei in Gibswil, ein stiller junger Mann, der in einer Kammer über der Milchsammelstelle wohnte, der »Milchhütte«, wie wir sie nannten. Manchmal sah ich ihn in einem blauen Überkleid über den Hof der Fabrik gehen, Werkzeuge oder Maschinenteile in der Hand. Die Lehrzeit beim Schlossermeister war gewiss hart. Oskar Senn war ein strenger Mann. Erwischte er uns Kinder dabei, wenn

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