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Das Echo der Verstorbenen
Das Echo der Verstorbenen
Das Echo der Verstorbenen
eBook627 Seiten8 Stunden

Das Echo der Verstorbenen

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Über dieses E-Book

Der zehnjährige Colby verbringt die Sommerferien bei seiner Großmutter Viviane, die zurückgezogen in einem einsamen Haus nahe eines Sees lebt. Bereits kurz nach seiner Ankunft findet er sich in einem Strudel rätselhafter und unheimlicher Ereignisse wieder, bis er schließlich die Wahrheit über ein unvorstellbares Geheimnis erfährt. Ein Geheimnis, das sein künftiges Leben für immer verändern wird und ihn Jahre später auf die Spur eines wahnsinnigen Serienmörders führt. Colby wird klar: Sein Schicksal ist mit dem des Mörders auf beängstigende Weise verbunden.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Feb. 2017
ISBN9783742796288
Das Echo der Verstorbenen

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    Buchvorschau

    Das Echo der Verstorbenen - Patrick Kruß

    Widmung

    Für meine Opa.

    Ein Mann, der den Tatsachen vertraute.

    Und für den ich umso mehr glauben möchte.

    Erster Teil

    - Erster Teil -

    Die Gabe

    1

    Der Sommer, in dem ich zehn Jahre alt wurde, hat für mich eine besondere Bedeutung. Damals veränderte sich mein Leben.

    Es lag nicht daran, dass ich die kompletten Ferien bei meiner Grandma Viviane verbringen musste, damit sich mein Dad der Baseballkarriere meines älteren Bruders Samuel widmen konnte.

    Es lag auch nicht daran, dass es der erste Sommer war, nachdem uns meine Mum verlassen hatte.

    Der Grund, weshalb diese drei Monate einem Brandmal gleich ihre Spur in meiner Erinnerung hinterlassen haben, ist ein anderer. Denn in diesem Sommer hatten sie zum ersten Mal Kontakt mit mir aufgenommen.

    Meine Grandma nannte es eine Gabe.

    Ich nenne es einen Fluch.

    An jenen Tagen im Juni durchzog eine unerträgliche Hitzewelle das Land. Tagsüber kletterte die Temperaturanzeige stets über 35 Grad Celsius und seit Wochen hatte kein Tropfen Regen den Boden berührt.

    In den Nachrichten war immer wieder davon zu hören, wie Waldbrände unerbittlich wüteten. Kaum hatte die Feuerwehr einen Brandherd unter Kontrolle gebracht, begannen die Flammen an einer anderen ausgetrockneten Stelle ihr zerstörerisches Schauspiel aufzuführen.

    Meine Grandma Viviane lebte, fernab dieser Katastrophe, in einem einsamen Haus am Ufer eines Sees. Als wir das große Grundstück erreichten, glaubte ich, in einer anderen Welt angelangt zu sein. Die Bilder von Feuer und Rauch schienen hier unwirklich und aus einem Furcht einflößenden Albtraum zu stammen.

    Ich wuchs in einer belebten Vorstadtgegend auf und so war mir die Ruhe, die mich empfing, fremd. Außer dem leisen Gezwitscher der Vögel, die sich in den Bäumen um den See versteckten, war nichts zu hören.

    Viviane stand vor einer Staffelei auf der Veranda und winkte meinem Dad, Sam und mir fröhlich zu. Sie trug ein weites, hellgrünes Baumwollkleid, das ihren drahtigen Körper verbarg. Um die Schultern hatte sie ein zitronenfarbenes Tuch gelegt. Ihre beinahe schneeweißen Haare reichten ihr bis zu den Hüften und schienen in der kräftigen Mittagssonne regelrecht zu schimmern. In den Händen hielt sie eine Palette und einen Pinsel. Sie legte beides auf einen Tisch und kam mit eiligen Schritten auf uns zu. Der Bernsteinanhänger an ihrem Hals wippte wild umher.

    „Tut mir Leid, das wir uns verspätet haben, entschuldigte sich Dad. „Wir standen gut eineinhalb Stunden im Stau.

    Eineinhalb Stunden, in denen sich Dad und Sam über Baseball unterhalten hatten. Ich hatte teilnahmslos auf dem Rücksitz von Dads Jeep Platz genommen und mit einem Bleistift in einem Notizblock herumgekritzelt. Diese Autofahrt war ein Paradebeispiel für meine Rolle, denn damals war ich der Statist meiner Familie.

    Sam dagegen war ein begnadeter Baseballspieler.

    Die große Hoffnung der Highschool.

    Dads ganzer Stolz.

    Kein Wunder also, dass Dad ihn auf ein Trainingscamp begleitete. Es machte ihn glücklich, Sam beim Schlagen auf dem Feld zuzusehen. Er wollte dabei sein und erleben, wie sein Sohn zu einem noch besseren Spieler wird. Und er wollte der Einsamkeit aus dem Weg gehen, die ihn zuhause empfing, seit uns Mum mit einer kurzen Nachricht auf dem Küchentisch verlassen hatte.

    Ich kann hier nicht länger bleiben.

    „Das macht wirklich nichts, versicherte Viviane und deutete auf die Veranda. „Ich habe mir die Staffelei hinausgestellt. Das Licht ist heute hervorragend.

    Viviane war Künstlerin. Hinter dem Wohnhaus, so wusste ich, hatte sie sich in einem Schuppen ein Atelier eingerichtet, in dem sie an ihren Bildern arbeitete.

    Dad nickte kurz. Er hatte keinen Sinn für die Malerei und wusste nicht recht, was er hätte antworten können. Insgeheim hielt er Grandma für eine Verrückte. Ihr Erscheinungsbild widerlegte diese Behauptung jedenfalls nicht. Sie wirkte wie eine Zeitreisende aus den späten Sechzigern.

    Bevor sie Mum während eines längeren Aufenthalts in Südafrika zur Welt gebracht hatte, war Viviane zwei Mal kurz verheiratet gewesen. Mein Großvater war ein Phantom, das es niemals zu Ehemann Nummer drei geschafft hatte. Letztlich hatte sie ihre Tochter alleine groß gezogen.

    Umso erstaunlicher war es, dass ich den kompletten Sommer über hier bei ihr verbringen sollte. Dachte ich zumindest. Im Grunde hatte Dad keine Wahl, wie mir heute bewusst ist. In das Trainingscamp wollte er mich nicht mitnehmen – nicht, dass ich es selbst gewollt hätte – und seine beiden Brüder, Onkel Steve und Onkel Eric, lebten viel zu weit weg, als dass sie eine Option für meine Unterkunft gewesen wären.

    Viviane blieb als einzige Möglichkeit.

    Dad holte meinen Koffer aus dem Wagen und stellte ihn neben mir ab. Dem dumpfen Knall des Gepäcks auf dem Boden folgte eine kleine Staubwolke.

    „Machs gut, Colby. Und sei anständig. Er klopfte mir auf die Schulter und verabschiedete sich von Grandma. „Sam und ich müssen weiter. Vor uns liegt noch ein gutes Stück.

    Ich wich seinem Blick aus und konzentrierte mich auf eine Trauerweide, die nahe der Veranda hoch in den Himmel ragte.

    Sam stieg, ohne ein letztes Wort an mich zu richten, in den Wagen. Er mochte mich nicht besonders und war bestimmt froh darüber, seinen nervigen kleinen Bruder einige Wochen nicht sehen zu müssen.

    Dad startete den Motor und nur einen Augenblick später verschwand der rote Jeep in Richtung der Landstraße, aus der wir gekommen waren.

    Es war ein emotionsloser Abschied. Er hatte, so dachte Dad sicherlich, seine Pflicht als Vater erfüllt und sich um das Obdach und die Aufsicht seines Kindes gekümmert.

    Viviane legte mir ihre Hand auf die Schulter. „Ich freue mich sehr, dass du hier bist, Colby. Komm, wir bringen dein Gepäck ins Haus."

    Ich nickte Grandma zu. Sie schien meinen Unmut zu spüren und versuchte mir deshalb umso mehr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein.

    Im Grunde mochte ich Grandma, auch wenn wir sie kaum sahen. Sie verreiste häufig und weil Mum und sie kein inniges Verhältnis miteinander pflegten, beschränkten sich die Treffen, wenn überhaupt, auf Geburts- und Feiertage. Ich glaube, tief in ihrem Herzen konnte Mum Viviane nicht verzeihen, dass sie niemals die Möglichkeit hatte, ihren Vater kennen zu lernen.

    Dennoch waren Grandma und ich uns sehr ähnlich, wie ich bald herausfinden würde. Inzwischen weiß ich, dass sie der einzige Mensch in meiner Familie war, der mich je verstanden hat.

    Im Inneren des Hauses war es angenehm kühl. Die Jalousien an den Fenstern waren fast vollständig heruntergezogen und nur vereinzelte, dünne Sonnen-strahlen traten zwischen den Spalten hindurch.

    Es wirkte auf seltsame weise wunderschön und unheimlich. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das Dunkel gewöhnt hatten.

    Der Eingangsbereich des Hauses war mit zahlreichen Souvenirs aus den unterschiedlichen Ländern, in denen Grandma einmal gewesen war, geschmückt. Im Wohnzimmer, so wusste ich, befand sich eine große Weltkarte, auf der sie mit kleinen roten Pins die Orte markiert hatte, zu denen sie während einer ihrer Reisen gelangt war. Bei unserem letzten Besuch vor etwa einem halben Jahr gab es nur noch wenige Stellen auf der Karte, die keine rote Signatur besaßen.

    Viviane ging die Treppe hinauf. An der Wand hingen hölzerne Masken, die furcht einflößende Grimassen machten. Ich betrachtete sie voller Faszination.

    „Sie stammen aus Haiti, verriet Viviane, als sie vom oberen Ende der Treppe zu mir zurücksah. „Die Masken schützen das Haus vor dem Bösen.

    „Dem Bösen?", fragte ich und folgte ihr die letzten Stufen hinauf.

    „Ganz genau. Viviane beugte sich zu mir herab und strich mir über den Kopf. „Siehst du die unterschiedlichen Mimen? Jede Maske hält eine andere Form des Bösen ab.

    Ich konnte ihr nicht ganz folgen und fragte mich, ob sie wirklich die Wahrheit spricht. „Das heißt, das Böse wechselt sein Aussehen?"

    „So kann man es nennen."

    „Die Masken beschützen uns also?"

    Viviane nickte. „Hier wird dir nichts passieren."

    Auf merkwürdige Weise fühlte ich mich plötzlich geborgen. Viviane nahm meine Hand und führte mich den Flur hinab zu einer offenen Tür.

    „Das wird dein Zimmer für die nächsten Wochen sein. Ich hoffe, es gefällt dir. Mein eigenes liegt am anderen Ende des Flurs."

    Es war das erste Mal, das ich an diesem Tag lächeln musste. Das Zimmer war größer als mein eigenes zuhause. An der Mitte der hinteren Wand befand sich ein riesiges Bett. Es lud förmlich dazu ein, sich hineinzuwerfen oder wild darauf herum zu springen. Gleich daneben stand ein Schreibtisch aus Nussbaumholz. Die Oberfläche glänzte noch im Halbdunkel. Der antik aussehende, tiefe Kleiderschrank zur linken Seite des Betts bot sich als gutes Versteck an. Ein kleiner Ort, den ich als geheime Zuflucht nutzen konnte. Ich hätte ihn gerne bei mir zuhause gewusst.

    Auf einem Regal an der Wand waren einige Bücher aufgereiht. Ich stellte meinen Koffer ab und musterte die Rücken.

    „Ich habe eine Auswahl getroffen, von denen ich glaube, sie werden dir gefallen. Unten im Wohnzimmer sind noch viele andere. Du darfst sie dir nachher gerne einmal ansehen."

    Ich schaute mir den bunten Wandschmuck zu allen Seiten des Zimmers an.

    Die Bilder zeigten das Meer, große Felder mit violetten Blumen und das Portrait eines Cafés, das auch gut aus dem 19. Jahrhundert hätte stammen können.

    „Hast du sie alle selbst gemalt?", fragte ich.

    Viviane lächelte. „Sie sind nach meinem Aufenthalt in Frankreich entstanden. Ich kann dir später davon erzählen."

    Oberhalb der Tür hing ein Windspiel aus dünnen Holzstäben, das mich dazu verführen wollte, seinem Klang zu lauschen.

    „Am besten, du richtest dich zuerst einmal ein. Lass dir ruhig Zeit, bis alles so ist, dass du dich richtig wohl fühlst. Ich bin unten auf der Veranda und male an meinem Bild weiter. Wenn du etwas brauchst, rufst du, ja?"

    Ich nickte und sah zu Boden. Meine Hände umklammerten noch immer den Griff des Koffers.

    „Grandma", sagte ich, als Viviane bereits auf dem Weg zur Treppe war. Sie hielt inne und wandte sich zu mir.

    „Danke."

    Viviane kam noch einmal in das Zimmer und beugte sich zu mir nieder.

    „Colby, ich bin sehr froh, dass du hier bist. Wir finden endlich Gelegenheit, uns besser kennen zu lernen."

    In der nächsten Stunde breitete ich den Inhalt meines Koffers im Zimmer aus und verstaute ihn in dem riesigen Schrank. Ich hatte kaum Spielsachen mitgenommen, denn eigentlich war es mein Ziel, die Wochen bei Grandma schrecklich zu finden. Vivianes liebe, wenn auch ungewöhnliche Art machte dies jedoch bereits jetzt unbeschreiblich schwierig.

    Allein mein Stofftier, ein Nashorn namens Pubuh, hatte ich eingepackt. Durch die Reise im Koffer sah er etwas mitgenommen aus. Ich drückte ihn kurz an mich, stupste meine Nase an sein Horn und setzte ihn auf das Bett.

    Auf dem Boden des Koffers kam ein eingerahmtes Foto hervor, das Mum, Dad, Sam und mich gemeinsam bei einem Ausflug in den Bergen zeigte. Wir posierten auf einer Klippe und winkten in die Kamera. Ich war damals sieben Jahre alt, Sam war neun. Es stand sonst auf meinem Nachttisch.

    Mit diesem Foto bewahrte ich mir die Erinnerung an einen Tag, an dem wir alle glücklich waren.

    Ich entschied mich, das Bild im Koffer zu lassen. Es war inzwischen ohnehin nur eine Illusion. Die Familie auf dem Foto gab es nicht mehr.

    Ich schloss den Deckel des Koffers und verstaute ihn unter dem Bett.

    Dann ging ich zur Tür hinüber, nahm Anlauf und sprang auf das riesige Bett.

    Die Matratze und die Bettwäsche waren herrlich weich. Ich hatte das Gefühl, ich würde ich in einer Wolke liegen. Einige Zeit schaute ich zur Decke hinauf, während meine Gedanken noch einmal die Autofahrt durchstreiften.

    Dad und Sam würden sicherlich viel Spaß zusammen haben. Baseball verband sie. Für mich war da kein Platz.

    Dann glitt ich nach und nach in einen tiefen Schlaf.

    Als ich wieder aufwachte, hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Da ich keine Armbanduhr trug, konnte ich nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte.

    Ich streckte mich und gähnte, um die Überreste meiner Müdigkeit zu vertreiben.

    Der Klang einzelner, leiser Töne war zu hören. Ein Lufthauch musste dem Windspiel über der Tür eine Melodie entlockt haben. Ich stand auf und betrachtete die dünnen Holzstäbe.

    Plötzlich beschlich mich ein seltsames Gefühl. An meinen Armen zog sich eine Gänsehaut hinauf und meine Nackenhaare stellten sich.

    Ich war nicht alleine.

    Hinter mir, in der dunkelsten Ecke des Zimmers, war jemand. Ich konnte es spüren.

    Angst beschlich mich. Mein Mund war völlig trocken und mein Herz begann wild gegen meine Brust zu hämmern. Ich konzentrierte mich und hörte den Fremden atmen.

    Wie lange mochte er schon hier sein?

    Hatte er mich die ganze Zeit, während ich geschlafen hatte, beobachtet?

    Was wollte er hier und wo war Grandma?

    Das Windspiel ertönte erneut und riss mich aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Boden.

    Es dauerte einen Augenblick, bis ich das Zittern meiner Arme bändigen und mich aufrichten konnte. Die Präsenz des Fremden war nun ganz deutlich, so als strecke er seine Hände nach mir aus.

    Ich nahm all meinen Mut zusammen und wollte endlich sehen, wer sich in das Zimmer geschlichen hatte. Ruckartig drehte ich mich um.

    Aber dort war niemand. Ich war völlig alleine.

    Viviane kam hinein und fragte mit besorgtem Unterton, was geschehen sei. Sie habe in der Küche das Abendessen vorbereitet und einen dumpfen Knall gehört.

    Ich sah noch einmal in die Ecke, in der ich den Fremden vermutet hatte.

    „Colby, ist alles in Ordnung?"

    Jemand musste dort gewesen sein. Ich war mir sicher.

    „Colby?"

    „Ich bin aus dem Bett gestürzt", behauptete ich.

    Viviane fragte, ob ich mich verletzt habe. Ich versicherte, dass mir nichts fehle, doch mein Gesicht verriet die Irritation, die mich gerade beschlich.

    „Lass uns nach unten gehen. Wir können gleich essen. Du musst sicherlich großen Hunger haben", versuchte mich Grandma zu beruhigen.

    Als wir aus dem Zimmer gingen, erklang das Windspiel.

    2

    Nach dem Abendessen gingen wir in den Garten, der direkt an den See angrenzte. Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und Flieder.

    Viviane deutete auf einen Schuppen.

    „Mein Atelier kennst du ja?", fragte sie.

    „Du hast es Sam und mir bei unserem letzten Besuch gezeigt", erinnerte ich sie.

    Viviane nickte. „Richtig. Verzeih, es ist nur schon eine Weile her."

    Wir schlenderten zu einem Steg, auf dem zwei Korbstühle standen. Ein Ruderboot war mit einem Tau an dem äußersten Pfosten des Stegs angebunden und schaukelte sanft in den ruhigen Bewegungen des Wassers. Die Sonne machte sich daran, hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Sees zu versinken und tauchte die Wasseroberfläche in einen goldenen Glanz.

    Wir setzten uns in die Korbstühle und schauten einigen Schwänen zu, wie sie ihre Bahnen zogen.

    „Grandma, warum lebst du alleine hier draußen?", fragte ich.

    Viviane lächelte. „Für mich gibt es keinen schöneren Ort auf der Welt."

    „Wenn du bei uns in der Stadt wohnen würdest, könnten wir uns viel häufiger sehen", wandte ich ein.

    „Das stimmt. Und es tut mir auch weh, dass ich dich und Sam so selten sehe. Aber ich bin niemand, der in der Stadt glücklich werden könnte."

    „Weshalb nicht?"

    „Schau dir die Schwäne an. Sie leben auch auf Feldern und Wiesen, aber nur hier am See können sie schwimmen. Und so geht es mir. Nur hier kann ich malen. Nur hier kann ich atmen."

    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Wie so oft kam es mir vor, als spreche sie in Rätseln, die es für mich erst noch zu lösen gilt.

    „Ich bin viel gereist. Es hätte mich nach Italien, Kenia oder Alaska verschlagen können. Aber dies ist der Ort, der mein Zuhause wurde. So etwas sucht man sich nicht aus. Es ist vielmehr ein Gefühl, das dir sagt: Bleib hier und du wirst glücklich werden."

    „Wo kann ich glücklich werden?", wollte ich wissen.

    Viviane nahm meine Hand und drückte sie fest. „Diese Frage kann niemand außer dir selbst beantworten."

    Wir sahen wieder hinüber zu den Schwänen, die im Schilf des Ufers verschwanden. Die Wipfel der Bäume verdeckten nun die Sonne und spendeten einen angenehmen Schatten.

    „Manchmal ist es kein bestimmter Ort, den wir unser Zuhause nennen. Manchmal ist es ein Mensch, bei dem wir uns zuhause fühlen. Und dann ist es völlig egal, wo wir leben, solange wir nur bei dieser einen Person sind."

    Vivianes Augen schimmerten glasig. Ich hatte das Gefühl, sie spreche über etwas, das ihr selbst widerfahren war.

    „Dann muss ich diesen Menschen finden", schlussfolgerte ich.

    Grandma antwortete mir nichts.

    Gegen zehn Uhr wurde ich müde. Wir kehrten zurück ins Haus und Viviane zeigte mir das Bad, wo ich mich bettfertig machte.

    In meinem Zimmer beschlich mich erneut das seltsame Gefühl, nicht alleine zu sein. Es war nicht mehr so stark wie zuvor, vielmehr wie das Echo einer lauten Stimme. Ich schaute zu der Stelle, an der ich die Anwesenheit des Fremden verspürt hatte.

    Viviane legte mir die Hände auf meine Schultern. „Soll ich dir noch eine Geschichte vorlesen?"

    Ich lehnte ab und entschied, lieber gleich schlafen zu wollen.

    Grandma schlug das Leintuch zurück und ich konnte in das Bett klettern. Ich tastete nach Pubuh und drückte das Nashorn fest an mich.

    „Ich wünsche dir eine gute Nacht", sagte Viviane und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

    Sie ging zur Tür und löschte das Licht.

    „Kannst du die Tür offen lassen?", fragte ich, als Viviane sie gerade schließen wollte.

    Grandma wirkte auf einmal sehr ernst. Sie lehnte ihren Kopf gegen den Türrahmen und musterte mich mit ihren smaragdgrünen Augen.

    „Colby, du bist hier sicher."

    Sie schien bemerkt zu haben, wie nervös ich war. Sollte ich ihr von dem unheimlichen Erlebnis am Abend erzählen? Würde sie mich verstehen können, wenn ich es selbst kaum begriff? Auf keinen Fall wollte ich, dass sie dachte, ich fühle mich nicht wohl und erfinde eine Geschichte, um hier schleunigst wieder weg zu kommen.

    „Ich weiß nicht, wovor du Angst hast, aber dir wird nichts passieren. Vertrau mir, ja?", fügte sie nach einer Weile hinzu, als meine Antwort ausblieb.

    Dann ließ sie mich alleine und ich hörte, wie sie mit leisen Schritten die Treppe hinab ging.

    Ich schaute zur Decke und wartete darauf, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ein heißes Kribbeln durchlief meinen Körper. Ich lauschte angespannt. Würde ich es mitbekommen, falls der Fremde sich erneut in das Zimmer schlich? Noch wollte ich nicht glauben, mir alles eingebildet zu haben, auch wenn ein Hirngespinst bedeuten würde, dass meine Angst tatsächlich unbegründet war.

    Nach und nach verloren sich meine Sinne in der Müdigkeit, die sich in meinem Körper ausbreitete und ich schlief ein.

    Ich sah meinen Dad und Sam. Sie liefen Hand in Hand.

    Ich rief ihnen zu und bat sie, auf mich zu warten. Dad drehte sich kurz zu mir um und lächelte. Dann gingen er und Sam weiter. Je lauter ich sie anflehte, endlich stehen zu bleiben, desto weiter entfernten sie sich von mir. Ich rannte so schnell es mir nur möglich war und doch war ich nicht schnell genug. Meine Beine begannen zu schmerzen, bis ich keinen Fuß mehr vor den anderen setzen konnte. Ich musste anhalten und rang nach Luft.

    Dad und Sam wurden zu zwei schemenhaften Wesen, die sich nach und nach auflösten. Als nichts mehr von ihnen zu sehen war, wurde mir bewusst, dass ich sie verloren hatte.

    Obwohl ich bei ihnen sein wollte, konnte ich sie nicht erreichen.

    Und ihnen schien es völlig egal zu sein, was aus mir wird.

    Da riss ich die Augen auf und mein Körper zuckte unweigerlich zusammen.

    Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass es ein Albtraum war. Und doch konnte ich den Gedanken, Dad und Sam könnten mich für immer verlassen haben, nicht loswerden.

    Wie spät war es? Ich dachte, nur einen Moment weggetreten gewesen zu sein, aber etwas hatte sich verändert. Im Haus herrschte völlige Stille.

    Ich stieg aus meinem Bett und ging in den Flur. Eine Wanduhr verriet mir, dass es bereits kurz nach Mitternacht war.

    Die Tür zu Vivianes Schlafzimmer war angelehnt und durch den schmalen Spalt konnte ich sehen, wie meine Grandma schlief.

    Der Vollmond warf sein gespenstisches Licht durch das große Fenster neben ihrem Nachttisch. Mit dem fahlen Schein wanderten auch die Schatten der Rotorblätter eines großen Deckenventilators in gleichmäßigen Bewegungen über das Bett. Die Balkontür war geöffnet und ließ die warme Nachtluft herein. Ich betrachtete die Szenerie einen Augenblick und entschied mich, zurück in mein Zimmer zu gehen.

    Als ich am Türrahmen ankam, blieb ich wie angewurzelt stehen.

    Ich spürte die Anwesenheit des Fremden.

    Er war hier, in meinem Zimmer.

    Wieder stand er in der dunkelsten Ecke. Ich versuchte seine Konturen zu erkennen, doch meine Augen vermochten nichts in der Finsternis zu sehen.

    Meine Hände suchten die Wand nach dem Lichtschalter ab. Einen kurzen Moment später fand ich ihn. Ich konzentrierte mich auf den Atem des Fremden. Ich konnte ihn deutlich hören. Er war so laut, das befinde er sich direkt neben mir.

    Meine Finger zitterten, aber mein Entschluss stand fest. Ich würde nicht wegrennen oder um Hilfe rufen. Ich wollte das Gesicht des Fremden sehen, dem es wieder auf mysteriöse Weise gelungen war, unbemerkt in mein Zimmer zu gelangen.

    Ich drückte den Schalter und das warme Licht der Lampe durchfuhr den Raum. Ich glaubte, das Überraschungsmoment auf meiner Seite zu haben. Doch ich hatte mich getäuscht, wie mir schlagartig bewusst wurde.

    Meine Augen weiteten sich, unfähig zu verstehen, was sie sahen.

    Das Zimmer war leer. Niemand war hier.

    Mit langsamen Schritten ging ich zur Seite hinüber, an der ich den Fremden vermutet hatte. Neben den Bildern, die ich bereits bei meiner Ankunft betrachtet hatte, sah ich nun, dass hier ein viertes Gemälde hing. Es zeigte ein Pier, auf dem ein Mann mit Ballonmütze stand. Sein Blick folgte einem Segelboot, das hinaus aufs offene Meer glitt, der untergehenden Sonne entgegen.

    Ich musterte jede Stelle des Bildes. Im Hintergrund wurde der Ozean auf verschwommene Weise eins mit dem Himmel. Nur die glutrote Sonne markierte die Grenze zwischen Firmament und Meer.

    Etwas schreckte mich auf. Für einen kurzen Augenblick dachte ich, der Mann mit der Ballonmütze sah mich an. Hatten die Augen, welche dem Boot folgten, zu mir herübergesehen? Nein, so etwas war unmöglich.

    Ich löschte das Licht und kroch zurück in mein Bett. Soeben hatte ich den Beweis erhalten, dass niemand in meinem Zimmer auf mich lauerte. Viviane hatte Recht, ich brauchte keine Angst zu haben.

    Ich zog das Leintuch an mich, denn trotz der Hitze des Tages fror ich nun etwas.

    Von wem ich auch vermutete, dass er sich in meinem Zimmer versteckt hielt, war nicht mehr als ein übler Streich meiner Phantasie.

    Ich schwor mir, dass ich, solange ich hier war, nicht mehr darüber nachdenken wollte.

    Es sollte ein naives Versprechen sein, das ich mir gab.

    3

    Fresh food daily ist eine regionale Supermarktkette mit insgesamt 25 Filialen. Der Name steht für hervorragende Qualität zu fairen Preisen. Zumindest ist das die Behauptung der Werbebanner und TV-Spots.

    Walter Tachman, der inzwischen reich gewordene Firmeninhaber, hat dies zum Slogan seines Unternehmens gemacht und sich damit penetrant in das Gedächtnis der Kunden geschlichen. Nicht nur auf den Einkaufstüten- und wägen, sondern auch auf der Arbeitskleidung der Mitarbeiter ist die Phrase in abwechselnd gelben und grünen Buchstaben aufgestickt. So auch auf meiner Schürze und dem linken Ärmel meines Hemdes.

    Seit fast zehn Jahren arbeite ich in einer der Filialen und bin für den Bereich Konserven zuständig.

    Es ist erstaunlich, was es bereits alles in Dosen gibt: Thunfisch, Sellerie, Mais, Bohnen oder Aprikosen.

    „Damit der Kunde nicht den Überblick verliert, bist du, Colby, zur Stelle", so Douglas Meyer, der hiesige Filialleiter. Er glaubt, mich dadurch motivieren und mir das Gefühl geben zu können, einen höheren Sinn in meiner Arbeit zu sehen.

    Douglas steht voll und ganz hinter Walter Tachmans Firmenideal und ist jedes Jahr von neuem darum bemüht, die Auszeichnung für den besten Supermarkt zu bekommen. Fünfmal ist es Douglas bereits gelungen.

    Ich bin gerade damit beschäftigt, eine Palette Maisdosen im Regal zu verstauen, als mich Aaron anspricht. Er kümmert sich um die Haushaltswaren. Aaron erzählt, dass er, Mark von der Fleischtheke und Promille-Jack, der die Regale im Spirituosenbereich auffüllt, heute nach Feierabend zusammen noch einen’ trinken gehen. Vielleicht möchte ich auch mit? Ich danke Aaron für das Angebot, lehne es aber ab.

    Er lächelt kurz und schüttelt den Kopf. „Es ist jedes Mal das Gleiche mit dir, Colby. Irgendwann fragen wir dich nicht mehr, weil du sowieso nie Zeit hast."

    Ich ignoriere seine Äußerung. „Ich wünsche euch viel Spaß", antworte ich, während ich meinen Hubwagen zurück in Richtung Lager steuere.

    Es ist nicht so, dass ich keine Lust habe, den Feierabend mit meinen Kollegen zu verbringen. Sie sind nett zu mir und wir verstehen uns, auch wenn ich weiß, dass sie mich für komisch halten.

    Aber heute Abend kann ich nicht. So wie jeden Mittwoch jeder Woche im ganzen Jahr.

    Als meine Schicht endet, gehe ich in den Personalraum, ziehe mich um und verstaue Hemd und Schürze in meinem Spind. Ich hänge mir meine große Tragetasche um und laufe zurück in den Supermarkt. Aus meinem Geldbeutel krame ich einen Zettel, auf dem ich einige Dinge vermerkt habe, die ich einkaufen muss. Da ich inzwischen den Inhalt jedes Regals im Supermarkt auswendig kenne, dauert es nur zehn Minuten, bis ich alles beisammen habe.

    An der Kasse sitzt Sandra. Sie ist die neugierigste Person, die ich kenne und eine derjenigen, die mir den Namen Crazy-Colby verliehen haben. Während sie meine Einkäufe über den Scanner zieht, fragt sie mich, ob ich heute Abend noch Besuch kriege.

    „Ich gehe nachher zu meinem Dad. Die Sachen sind für ihn." Ich hoffe damit, ihren Drang, über mein Leben Bescheid wissen zu wollen, etwas befriedigt zu haben.

    Jetzt schaut sie mich gelangweilt an. Offensichtlich hätte sie gerne gehört, dass ich eine hübsche Frau zu mir eingeladen habe, um sie mit einem leckeren Essen zu verführen.

    Nachdem ich die beiden Papiertüten im Kofferraum meines Wagens, einem alten Audi aus dem Baujahr 98’, verstaut habe, fahre ich los.

    Ich brauche etwa zwanzig Minuten, bis ich die Einfahrt zu meinem früheren Zuhause erreiche. Als ich die Stelle bei Fresh food daily bekommen habe, bin ich ausgezogen. Heute überlege ich des Öfteren, ob es nicht besser gewesen wäre, bei meinem Dad zu bleiben.

    Vielleicht hätten sich die Dinge anders entwickelt.

    Vielleicht hätte ich ihm helfen können.

    Ich steige aus und werfe einen Blick in den Briefkasten. Neben Reklame befinden sich auch zwei Rechnungen für Strom und Wasser in der Post.

    Ich klemme mir die Briefe unter einen Arm und ziehe die Einkäufe aus dem Auto hervor. Mit dem Ellbogen senke ich den Kofferraumdeckel, bevor ich die beiden prall gefüllten Tüten die wenigen Stufen hinauf zur Haustür balanciere.

    Mit einem Auge fällt mir auf, dass der Rasen dringend gemäht werden muss.

    An meinem Schlüsselbund hängt der Generalschlüssel für das ganze Haus. Allerdings brauche ich ihn nicht, denn Dad hat wieder einmal vergessen, abzuschließen.

    Ich öffne die Tür und werde von einem Schwall verbrauchter Luft begrüßt. Reflexartig verziehe ich das Gesicht. Bereits im Flur höre ich, dass der Fernseher läuft. Ich hänge meine Jacke an die Garderobe und rufe nach Dad. Er gibt mir keine Antwort.

    Die meisten Jalousien sind herabgelassen, so als könnten sie das Haus vor der Außenwelt abschirmen.

    In der Küche stelle ich die Einkäufe ab und reiße einige Fenster auf. Mein Blick streift die Spüle und ich staune, wie viel dreckiges Geschirr eine einzige Person innerhalb von drei Tagen verursachen kann.

    Im Wohnzimmer beginnt Dad zu lachen. Er hat einen zufriedenen Unterton in seiner Stimme, während er mit sich selbst diskutiert. Ich warte einen Moment, dann bin ich bereit, zu ihm zu gehen.

    Von der Küche gelangt man durch eine mit Glaselementen gestaltete Verbindungstür direkt ins Wohnzimmer. Als mich Dad bemerkt, nippt er an seiner Bierdose. Um den Sessel, in dem er es sich in Unterhemd und Jogginghose bequem gemacht hat, liegen unzählige zusammengeknüllte Dosen. Dad ist unrasiert und riecht nach Schweiß.

    Sein Blick hängt voller Freude an der Bildröhre. Er sieht sich eine Video-aufnahme an.

    „Das beste Spiel der Saison. Sam war das Zünglein an der Waage. Er ist mein Junge. Sam ist mein Junge."

    Ich setze mich neben Dad und schiebe einen Stapel aus leeren Pizzaschachteln beiseite.

    „Die Highschool kann froh sein, so einen Spieler zu haben. Er wird das Team zum Sieg führen. Sam."

    In Dads Augen schimmern Tränen, nur weiß ich nicht, ob sie in Freude oder Verbitterung ihre Quelle haben.

    „Ich werde uns etwas kochen", sage ich nach einer Weile.

    Dad sieht zu mir herüber und nimmt einen großen Schluck Bier.

    „Du kannst Stolz darauf sein, Sam als deinen Bruder zu haben."

    „Das bin ich", antworte ich nach einer Weile.

    Dads Miene verfinstert sich. Seine Augenbrauen ziehen sich in Richtung seiner Nase zusammen, die Stirn liegt in unzähligen Falten. Es sind die deutlichsten Zeichen dafür, dass er wütend wird.

    „Du bist ein Versager, Colby. Du kannst nichts. Sam hat so viel Talent. Er sollte an deiner Stelle bei mir sein!" Dad schreit mich an. Ich lasse die Beschimpfungen über mich ergehen, denn gleich wird er anfangen, zu weinen.

    Es ist jedes Mal dasselbe.

    „Wieso ist Sam nicht hier? Wieso?" Dad wirft die Bierdose gegen die Wand und vergräbt das Gesicht in seinen Händen.

    Ich stehe auf und möchte zurück in die Küche.

    „Colby, leg mir eine… eine andere…Kassette ein. Bitte."

    Ich wechsle das Band und wähle Dads Lieblingsspiel. Es war die letzte Meisterschaft, bevor Sam aufs College ging. Dad erkennt sie sofort und ein Lächeln legt sich über sein betrunkenes Gesicht.

    Ich schaue eine Weile zu. Die Menschen auf der Tribüne feuern Sam an. An der Körperhaltung meines Bruders ist seine Anspannung deutlich zu erkennen. Noch weiß er nicht, dass der Sieg in diesem Spiel seiner Mannschaft den Weg zum Meistertitel ebnen wird.

    „Das ist mein Junge."

    4

    Die nächsten Tage verbrachte ich damit, das Haus und die Landschaft um den See zu erkunden. Nahe am Wasser führte ein Kiesweg zwischen den Bäumen hindurch. Die Hitze war unter dem Schatten der hoch gewachsenen Eichen leichter zu ertragen und so genoss ich die gemeinsamen Spaziergänge mit Grandma.

    Viviane zeigte mir eine flache Stelle am Ufer, über die man einen leichten Einstieg ins kühle Nass fand. Sie warnte mich jedoch davor, nicht hinauszuschwimmen. Der See sei sehr tief und für unerfahrene Schwimmer nicht geeignet. Ich versprach ihr, vorsichtig zu sein.

    „Wenn du magst, fahren wir bald einmal in die Stadt und ich zeige dir den Wochenmarkt", schlug mir Grandma am späten Nachmittag vor.

    Wir saßen auf der Veranda und aßen Kirschkuchen. Viviane hatte ihn mit den Kirschen aus ihrem Garten gebacken. Ich glaubte, in jeder Frucht die unzähligen Sonnenstrahlen zu schmecken, die sie hatten reifen lassen.

    „Klingt gut", sagte ich und streckte meinen Teller nach einem nächsten Stück Kuchen aus.

    Im Haus begann das Telefon zu klingeln. Viviane entschuldigte sich und verschwand. Mir fiel auf, dass Grandma selten angerufen wurde. Seit ich hier war, hatte sie auch keinen Besuch empfangen. Ich fragte mich, ob sie sich manchmal einsam fühlt.

    Im Vergleich zu den letzten Tagen wehte ein milder Wind und am Himmel tummelten sich vereinzelte, weiße Wolken. Waren dies Vorboten eines Gewitters? Soweit ich wusste, sprach der Wetterbericht keine Unwetterwarnungen aus.

    Mein Blick fiel auf Grandmas Skizzenblock, der neben einer Schachtel Kohlestifte auf einem Stuhl am Tisch lag.

    Ich stellte meinen Teller beiseite und schlug den Block auf. Es waren nur wenige Skizzen enthalten. Die meisten Seiten waren unbenutzt.

    Ein Bild schien jedoch fast fertig.

    Viviane hatte eine Frau gemalt, die mit traurigem Blick an der Tür eines Hauses stand und ein kleines Mädchen an der Hand hielt. Ihre Augen schienen jemandem zu folgen, der dabei war, sie zu verlassen. Je länger ich die Zeichnung betrachtete, desto intensiver beschlich mich das Gefühl, dieser in Kohle festgehaltene Moment war wirklich geschehen.

    Ich blätterte auf eine leere Seite und griff nach der Kohle. Die dünnen Stifte lagen seltsam zerbrechlich in der Hand. Daumen und Zeigefinger färbten sich schwarz, als ich die Zeichenkohle dazwischen rieb.

    Ich wollte mein Glück versuchen und selbst eine Skizze anfertigen. Meine Grundschullehrerin, Mrs. Kramer, hatte schon mehrfach behauptet, ich besäße Talent im Umgang mit Papier und Farbe. Mum und Dad interessierte dies nicht wirklich.

    Mum war fort.

    Dad hatte Sam.

    Ich entschied mich, die Trauerweide neben der Veranda zu zeichnen. Ich hielt es für eine angemessene Herausforderung, ein Abbild des Baumes auf dem Papier zu schaffen und begann mit dem Stamm. Ich konzentrierte mich auf das Muster des Holzes, das aus unzähligen schmalen Linien geformt war. Sie begannen am Boden und verschwanden im Dickicht des Blätterdachs, das sich wie ein Lampenschirm um den Stamm spannte.

    Fuhr ich mit der Hand über die gezogenen Striche auf dem Papier, so verschwammen diese leicht. Ich erkannte schnell den Reiz, der das Zeichnen mit Kohle ausmacht. Das Spiel von Licht und Schatten kann auf diese Weise mit Leichtigkeit dargestellt werden.

    Je länger ich damit beschäftigt war, die Konturen des Baumes auf das Papier zu übertragen, desto mehr vergaß ich die Zeit. Meine Umgebung verschwamm. Es gab nur noch den Skizzenblock und das Motiv vor meinen Augen.

    Meine Hände wanderten immer schneller und der Kohlestift wurde zusehends kleiner.

    Als mich Viviane ansprach, zuckte ich erschrocken zusammen. Sie stand an der Haustür und schien mich bereits eine Weile dabei beobachtet zu haben, wie ich zeichnete. Ihre Augen musterten mich vorsichtig. Sie wirkte ungewohnt streng.

    „Tut mir Leid. Ich hätte dich fragen sollen", entschuldigte ich mich. Vielleicht war sie sauer, dass ich ihren Skizzenblock benutzt hatte?

    Sie kam auf mich zu und zog mir den Block aus den Händen. Mein Gesicht wurde rot. Ich schämte mich und wäre am liebsten in den Schrank meines Zimmers gekrochen.

    Vivianes Blick prüfte meine Zeichnung.

    „Das ist eine hervorragende Arbeit. Ich wusste… ich wusste nicht, dass du so… so begabt bist."

    Jetzt überraschte sie mich. Grandma setzte sich an den Tisch, den Skizzenblock fest umklammert.

    „Warum habe ich es nicht schon vorher bemerkt?" Sie schien sich selbst zu tadeln.

    Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte und sah betrübt auf meinen Kuchenteller.

    „Hast du schon einmal probiert, mit Acryl- oder Ölfarbe zu malen?", fragte sie mich nach einer Weile.

    Ich schüttelte den Kopf. Gandma legte mir ihre Hand behutsam auf den Unterarm. Erleichtert erkannte ich, dass sie nicht wütend war.

    „Willst du es einmal versuchen? Wir könnten in mein Atelier gehen."

    „Wirklich? Ich darf in deinem Atelier malen?"

    Viviane lächelte über die Begeisterung in meinen Augen. „Aber natürlich."

    Wir saßen noch eine Weile beisammen auf der Veranda und Grandma verriet mir, dass sie selbst etwa in meinem Alter gewesen sein musste, als sie sich für die Malerei zu interessieren begann. „Ich habe viel üben müssen, bis ich mit Pinsel und Farbe richtig umgehen konnte. Aber ich glaube, du bist ein Naturtalent."

    Sie nahm ihren letzten Schluck Kaffee und machte sich daran, dass Geschirr zu stapeln und in die Küche zu tragen.

    „Wasch dir noch geschwind deine Hände, Schatz", sagte sie, bevor sie ihm Haus verschwand. Ich sah an mir hinab und bemerkte erst jetzt, wie schwarz meine Finger waren.

    An der Haustür drehte ich noch einmal um. Ich wollte zuerst meine fertige Zeichnung ansehen. Grandma hatte mir den Block aus der Hand gezogen, bevor ich das Bild hatte betrachten können.

    Als ich das Blatt aufschlug, lief mir ein Schauer über den Rücken. Mein Herz klopfte schneller und ich unterdrückte das Gefühl, laut aufzuschreien. Ich musste mich setzen.

    „Das kann nicht sein", flüsterte ich. Mein Verstand wehrte sich zu begreifen, was ich sah.

    Auf dem Block war nicht die Trauerweide zu sehen. Der Baum, den ich gezeichnet glaubte, war nicht da.

    Stattdessen sah ich Vivianes Garten und die beiden Korbstühle am Ufer des Sees. Ich hatte jenen Abend am Tag meiner Ankunft gemalt, als wir uns im Garten den Sonnenuntergang ansahen. Die Skizze wirkte so echt wie eine Fotoaufnahme.

    Eilig durchsuchte ich den Skizzenblock nach der Trauerweide, aber sie war verschwunden.

    Sollte ich Grandma erzählen, dass dieses Bild nicht von mir stammt? Und das ich vor einigen Tagen geglaubt hatte, von einem Fremden in meinem Zimmer beobachtet zu werden?

    Sicherlich würde sie mich für verrückt halten.

    Ich legte den Block auf den Tisch und entschied mich, zu schweigen. Dann ging ich ins Haus, bereit das Unerklärliche zu verdrängen, was mir widerfuhr.

    Heute weiß ich, dass dies der erste Moment war, an dem sie mich benutzten.

    Meine Bestimmung begann sich zu erfüllen.

    5

    Ich besuche meinen Dad zwei bis drei Mal die Woche und sehe nach dem Rechten. Er kümmert sich weder um das Haus noch um den Garten. Es obliegt mir dafür zu sorgen, dass er nicht in einem riesigen Mülleimer lebt.

    Ich koche ihm eine warme Mahlzeit.

    Bezahle die Rechnungen.

    Wasche seine Wäsche.

    Er verbringt seine Tage damit, Videoaufnahmen über Sams Baseballkarriere anzusehen. Dad hat jedes Spiel, jeden Sieg aufgezeichnet.

    Sams Erfolge erinnern ihn an eine glückliche Zeit. Er und sein ältester Sohn waren damals ein Herz und eine Seele. Darum hält er an diesen Erinnerungen so sehr fest. Mehr noch, inzwischen bestimmen sie Dads Leben. Er verleugnet, was in den letzten Jahren passiert ist. Für ihn ist Sam immer noch der ambitionierte, junge Sportler, für den es nur eine Leidenschaft gibt.

    Nach dem Abendessen verabschiede ich mich von Dad, der bereits in eine andere Aufnahme vertieft ist. Als ich gehe, schließe ich die Tür hinter mir ab. Jedes Mal, wenn ich an meinem Wagen stehe, schaue ich noch einmal zurück. Dieses Haus war einmal mein Zuhause. Ein Wunsch in meinem Herzen gewinnt für kurze Zeit die Oberhand über die Realität: Wenn ich wieder herkomme, empfängt mich Dad und erklärt, dass er das Geschehene akzeptiere. Er habe sich lange genug in seine eigene Welt geflüchtet. Er möchte wieder in der Gegenwart leben. Und er wisse, dass er auf mich zählen kann.

    Aber so wird es nicht sein. Dad wehrt sich gegen die Wahrheit und ich kann nichts tun.

    Es ist kurz nach halb acht.

    Der Grund, weshalb ich mittwochs niemals mit meinen Kollegen nach Feierabend ein Bier trinken gehen kann. Heute verspäte ich mich etwas.

    Das weiß gestrichene Gebäude mit der großen Parkanlage ist bereits von weitem gut zu erkennen. Es liegt am Ende einer Straße, die mit Villen der Wohlhabenden dieser Stadt gesäumt ist. Die Vorgärten sind gepflegt und unterstreichen den Prunk der Immobilien.

    Ich ordne mich in einer Parklücke in der Nähe des Haupteingangs ein. Als ich hineingehe, kommen mir zwei der weiß gekleideten Mitarbeiter entgegen. Sie steuern einen Aschenbecher am Eingangsportal an.

    Der mir bekannte sterile Geruch erfüllt die Luft. Ich laufe die wenigen Schritte hinüber zum Fahrstuhl und fahre hinauf in die vierte Etage.

    Am Empfang sitzt Ashley. Sie ist meistens hier, wenn ich am Mittwochabend herkomme. Ab und zu reden wir beide miteinander. Ich bilde mir inzwischen sogar ein, sie etwas zu kennen.

    „Hallo Colby", begrüßt sie mich freundlich.

    „Hallo Ashley. Kann ich zu ihm?"

    Ashley schaut mich betroffen an.

    „Ist etwas passiert?", frage ich wie aus der Pistole geschossen. Ich werde nervös.

    „Nein, keine Sorge, beruhigt sie mich. „Aber Sie sollten wissen, dass er heute keinen guten Tag hat. Es ist schlimmer als sonst.

    „Okay. Danke." Ich nicke und steuere eilig den Gang an, der rechts vom Empfang abzweigt.

    „Warten Sie, ich komme mit Ihnen." Ashley schließt zu mir auf. Meine Augen fixieren die Tür mit der Nummer 418.

    „Es tut mir Leid. Vielleicht wäre es besser, wenn ich Sie das nächste Mal vorher anrufe."

    „Nein, es ist in Ordnung. Ich komme jeden Mittwoch hierher. Das bin ich ihm schuldig."

    Ashley erwidert nichts. Als wir an der Tür angelangt sind, stellt sie sich vor mich.

    „Wenn ich etwas für Sie tun kann, dann lassen Sie es mich wissen."

    Ich nicke. Wir bleiben einen Augenblick schweigend nebeneinander stehen, bis Ashley zum Empfang zurückkehrt. Meine Hände legen sich zitternd auf den Türknauf. Ich lausche, aber ich kann nichts hören. In dem Zimmer ist es völlig still.

    Ich öffne die Tür und trete ein.

    Es brennt keine einzige Lampe. Der Raum liegt im Halbdunkel der angebrochenen Nacht. Nur der matte Schein der Straßenlaternen dringt durch das große Fenster auf der gegenüberliegenden Seite herein.

    Sam sitzt auf der Fensterbank und schaut hinaus. Er trägt einen dunkelblauen Pyjama und darüber einen ebenfalls blauen Bademantel. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar fällt ihm tief ins Gesicht. Die Arme um den Körper geschlungen, wiegt er sich langsam hin und her.

    Leise schließe ich die Tür hinter mir.

    „Hi Sam, ich bin’s", begrüße ich ihn einen Moment später. Er dreht sich kurz zu mir um, dann widmet er sich wieder der Straße.

    Ich setze mich zu ihm auf die Fensterbank. Er schaut demonstrativ zur Seite.

    „Es tut mir Leid, dass ich dich so spät besuche. Aber ich hatte noch…etwas zu erledigen." Ich erzähle ihm nie, dass ich bei Dad war. Ein Gefühl sagt mir, es würde Sam nur aufwühlen. Sie haben sich seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem Sam hier her kam.

    „Wie geht es dir?"

    Sam bleibt stumm. Er zieht seine Beine näher zu sich und stützt sein Kinn auf den Knien ab.

    „Letzte Woche hast du mir von deinem Freund Mike berichtet und dass ihr im Gemeinschaftsraum zusammen mit Ashley und Will Karten gespielt habt." Nach zwei Jahren fällt es mir nicht mehr schwer, ein Gesprächsthema zu finden. Meistens knüpfe ich an die wenigen Dinge an, die mir Sam erzählt. So erhalte ich zumindest einen kurzen Augenblick seiner Aufmerksamkeit.

    Aber dieses Mal reagiert er nicht. Ashley hat Recht. Heute hat mein Bruder keinen guten Tag.

    „Ich nehme mir bald ein paar Tage frei und besuche vielleicht Onkel Steve", versuche ich es erneut.

    Sams Augen weiten sich und er sieht mich wie ein in die Enge getriebenes Raubtier an. Er zittert am ganzen Körper.

    „Was hast du? Bitte sprich mit mir." Ich möchte ihm meine Hand auf den Arm legen, weil ich glaube, die Berührung könnte ihn beruhigen.

    Da springt er auf, rennt aus dem Zimmer und brüllt „Ich bin nicht verrückt!"

    Für einen Augenblick bin ich so perplex, dass ich gar nicht weiß, was ich tun soll.

    Ich folge ihm so schnell es mir möglich ist. Zu meiner Überraschung wartet er auf dem Gang.

    „Willst du mir etwas zeigen?", frage ich ihn.

    „Ich bin nicht verrückt." Sam rennt weiter und es strengt mich an, mit ihm mitzuhalten. Sein Körper ist kräftig und flink. Er ist noch immer in ausgezeichneter Form.

    Sam führt mich in den Gemeinschaftsraum. Zu dieser Uhrzeit sitzen hier keine Bewohner. Die meisten sind in ihren Zimmern und hängen, wie auch Sam zuvor, ihren verworrenen Gedanken nach.

    Wir bleiben vor einem riesigen Aquarell stehen. Es zeigt die Anstalt, portraitiert von einer Stelle im Garten. Im Fordergrund blüht eine Reihe von Blumen und in den Fensterreihen im Erdgeschoss spiegelt sich das Sonnenlicht wider.

    Ein Ort der Ruhe und des Vertrauens.

    Die Konstante für jene, deren Leben sich im Wahnsinn wiegt.

    Sam tritt nahe an mich heran und flüstert mir etwas zu. „Ich bin nicht verrückt. Schau es dir an, Colby. Schau es dir ganz genau an."

    Mir wird bewusst, was Sam plant. Warum er mich hierher gebracht hat.

    „Lass uns zurück in dein Zimmer gehen", wende ich ein.

    „Nein, du schaust dir das Bild an! Sie müssen es verstehen." Zorn liegt in seinen Worten.

    „Das werde ich nicht, Sam." Ich möchte ihn am Arm nehmen. Er schlägt meine Hand beiseite und hält sie im selben Moment fest.

    „Lass mich bitte los."

    „Erst wenn du dir das Bild ansiehst!"

    Tränen steigen mir in die Augen.

    „Sam, bitte!" Auf einmal bin ich wieder sein kleiner, schwacher Bruder. Er hat die Oberhand.

    Ich schaue zur Seite und halte nach einem Pfleger Ausschau. Doch niemand ist zu sehen.

    Sam verpasst mir eine Ohrfeige. „Ich bin nicht verrückt!" Er knurrt und fletscht die Zähne. Schließlich presst er mir die Hand in den Nacken und zieht mein Gesicht in Richtung des Bildes. Ich habe

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