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Brendas Bekenntnisse
Brendas Bekenntnisse
Brendas Bekenntnisse
eBook277 Seiten3 Stunden

Brendas Bekenntnisse

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Über dieses E-Book

Was, wenn dein Leben eigentlich losgehen könnte, aber du dich noch nicht bereit fühlst? So geht es auch der frischgebackenen Abiturientin Brenda. Eigentlich könnte sie jetzt voll durchstarten, hat aber keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Zudem stotzt sie nicht gerade vor Selbstbewusstsein: In der Schule war sie keine Leuchte, ihre beachtliche Körperfülle entspricht nicht nicht gerade dem gängigen Schönheitsideal und richtigen Sex hatte sie auch noch nie.Eine Reise nach Griechenland ändert alles: Sie schläft mit einem Mann, fühlt sich zum ersten Mal begehrt und beginnt langsam, ihren Körper zu mögen. Wiird Brenda in diesem Sommer herausfinden, was sie vom Leben will?Anita Eklund Lykull erzählt mit viel Witz und Augenzwinkern die Geschichte einer jungen Frau, die versucht, sich selbst und ihre wahre Leidenschaft zu finden. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum29. Sept. 2022
ISBN9788728481950
Brendas Bekenntnisse

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    Buchvorschau

    Brendas Bekenntnisse - Anita Eklund Lykull

    Anita Eklund Lykull

    Brendas Bekenntnisse

    Übersezt von Gabriele Haefs

    Saga

    Brendas Bekenntnisse

    Übersezt von Gabriele Haefs

    Titel der Originalausgabe: Blendas Bekännelser

    Originalsprache: Schwedisch

    Coverimage/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 2007, 2022 Anita Eklund Lykull und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788728481950

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    Yes, we have no bikini

    »Ich glaube, du solltest es lieber bei Heavy is hot versuchen«, sagte die Verkäuferin, die etwa in meinem Alter war. Langsam kaute sie dabei ihr blassrosa Kaugummi. Wickelte es elegant um ihre spitze rote Zunge.

    »Du ... du hast also gar nichts Größeres?«, fragte ich hoffnungsvoll.

    Ab und zu konnte ja doch ein Wunder geschehen und dann fand sich ein ganz besonders riesiger, megaweiter Bikini, der mir und meiner Schwergewichtsklasse passte.

    »Nö, leider, nix größer als XXL wie gesagt, versuch’s mal bei Heavy is hot, der Laden ist doch gleich hier um die Ecke, in der Querstraße, du weißt schon.« Sie wies vage über ihre Schulter nach hinten. Sah mich mitleidig an, wie dünne, normale Mädchen mich eben ansahen.

    »Na gut, ich weiß Bescheid, aber es eilt ja nicht so. Ich bin nächste Woche in London, da werd ich mich mal umsehen«, murmelte ich mit genau der richtigen Gleichgültigkeit.

    Ihr könnt mir glauben, diese verlogene Bemerkung hatte ich seeehr lange geübt. Und jetzt floss sie mir wie geschmiert über die Zunge.

    »Danke jedenfalls.« Ich drehte mich um. Hätte fast ein Gestell mit minzgrünen bauchnabelfreien Tops zu neunundvierzig neunzig umgerissen. Wenn ich doch nur einmal im Leben bauchfrei gehen könnte. Und so ein niedliches Netzteil tragen.

    Nilpferdschwer – so kam ich mir jedenfalls vor – stampfte ich durch die Sonderangebotsabteilung bei H&M. Da wimmelte es nur so von tollen dünnen Sommerkleidern. Von weißen Shorts, die so gut wie gar nichts kosteten. Hier und da blieb ich stehen, gab vor, mir ein Kleidungsstück anzusehen. Und dabei dachte ich: Fuck, warum muss es immer so sein? Heavy is hot: Scheißtantenladen. Die Bikinis da sahen aus wie eine Mischung aus kugelsicheren Westen und Fallschirmen. Ich wollte doch etwas Scharfes. Oder etwas irgendwie Niedliches. Herrgott, so riesengroße Titten hab ich nun auch wieder nicht, jammerte ich in Gedanken.

    »Aber was sagst du dann über deinen Hintern? Glaubst du wirklich, für eine wie dich könnte es etwas Niedliches geben? Wo du doch aussiehst wie eine wandelnde Fettbombe«, fauchte ich wütend und mit zusammengepressten Lippen.

    Auf dem Weg hinaus ließ ich in der Kosmetikabteilung eine Flasche Shampoo mit Veilchenduft mitgehen. Einen Trost musste ich mir nach dieser Demütigung ja wohl gönnen dürfen.

    Auf der Straße atmete ich tief durch, um mein Herz zu beruhigen, denn das schlackerte in meinem Brustkorb hin und her wie ein Affe an seiner Liane. Dann ging ich auf direktem Weg zu McDonald’s und kaufte den schlimmsten Softeisbecher. Während ich noch so auf der Straße stand und die glatte weiße Vanillepampe schlabberte, ging mir auf, dass dieser Mittsommerabend genau wie alle anderen verlaufen würde. Weiß nicht, ob ich allen Ernstes mit einem Wunder gerechnet hatte. Damit, dass eine gute Fee in ihrem in eine Limousine verwandelten Kürbis auftauchte und sagte: »Komm mit mir auf ein Fest!« Ab und zu, ja ehrlich gesagt ziemlich oft, bin ich eine Meisterin des Selbstbetrugs.

    Inzwischen war es Viertel vor drei, wie ich am Uhrenladen an der Ecke sah.

    EINSAM, EINSAM, TOTAL TRAURIG, BESCHEUERT, FREAK, AUSGESTOSSEN. Vor meinem inneren Auge leuchtete ein rotes Licht. Das hier würde noch ein nationaler Partytag werden, den ich abschreiben könnte. Und ich konnte nur versuchen zu überleben, durchzuhalten.

    Das Zentrum kam mir schon verlassen vor. Der eine oder andere hohläugige Tourist irrte zwar noch durch die Gegend und hielt sich an seiner Kamera fest. Aber die Kungsgata, die belebte Kungsgata – das Mekka der Stadt, zu dem alle Shoppingsüchtigen pilgerten – änderte bereits Repertoire und Bühnenbild. Alles ging in die Regie von Straßenmusikern, Tauben und Flaschensuchern über. Gleich, im nächsten Augenblick, würden die Läden schließen.

    Ich habe ja immerhin meine beiden Pizzen – eine Margherita und eine Calzone –, die Nicos mir zugesteckt hat, dachte ich aufmunternd. Ich kann heute Abend eine Weile auf dem Balkon sitzen. Essen und es mir gemütlich machen. Papa ein bisschen Wein mopsen. Und das ist doch eigentlich verdammt viel netter, als in einer lauten Kneipe herumzuhängen oder ein Fest mit besoffenen Grölaffen zu besuchen, die ihre Hände nicht bei sich behalten können.

    Ha, als ob irgendein Typ dich jemals angesehen hätte! Du wärst doch total dankbar, wenn irgendein besoffener Heini dich auch nur für eine einzige winzige Sekunde angrabschte, gib’s zu!

    Na gut, aber ...

    In der Straßenbahn nach Hause brüllte ein Kerl mit bekotztem Hemd und wehender Fuselfahne: »Meine Fresse, du brauchst doch mindestens zwei Sitze für dich allein!«

    Und ich antwortete, fast schon gewohnheitsmäßig: »Na gut, aber ich kann mir mein Fett weghungern, wann und wenn ich will. Du dagegen kannst nie im Leben hübsch oder nüchtern werden, Blödmann!«

    Beim Botanischen Garten stieg ich aus und schleppte mich langsam die Treppen hinauf. Über die Brücke, zu unserer Wohnsiedlung. Göteborgs Blumenperle, the one and only Änggården. Die Gärten dufteten betörend nach Jasmin und Rosen; Hummeln und Bienen schufteten sich den Hintern ab. Die schönen alten, in Pastelltönen angestrichenen Holzhäuser schienen in dem schwülen graubewölkten Nachmittag vor sich hin zu dösen. Nur die eine oder andere Katze machte einen Spaziergang. Joggte über ihre geheimen Wege. Durch und über Zäune und Hecken. Zielbewusst auf eine fast magische Weise.

    Das Haus, in dem Papa, Barbro und ich wohnen, liegt am Waldrand. Abgeschieden, aber eben doch mitten im Leben.

    Unsere liebe alte Nachbarin saß in einem sommerlichen Blümchenkleid auf ihrer Treppe. Sie schien schwer damit beschäftigt zu sein, einen Blumenkranz zu flechten. Margeriten und Kornblumen lagen auf einer Zeitung verteilt. Ab und zu setzte sie den Kranz versuchsweise auf ihr silbernes Haupt. Murmelte vor sich hin, suchte sorgfältig die nächste Blume aus und flocht ein wenig weiter.

    Ich grüßte und sie konnte gerade noch sagen, dass sie mit Kindern und Enkelkindern draußen auf dem Land feiern würde, bevor ich auch schon im Haus verschwunden war. Hatte keine Lust darüber zu reden, was ich an »diesem schönen Mittsommerabend« unternehmen wollte und so weiter und so fort. Schön, aber für wen, wenn man fragen darf?

    Für die Erfolgreichen, ist doch klar, fette Brenda. Für die Schönen. Für die, die ins System passen. Der Mittsommerabend war nicht für einen Freak wie mich geschaffen. An sich hatte ich eine katastrophal quälende Erinnerung an gerade diesen Abend. Die Sache war zwar schon eine ganze Weile her, aber die Narbe war noch da. Eine tiefe Scharte in meinem Selbstvertrauen.

    Ich wollte diese Narbe nicht einmal in Gedanken streifen, denn dann würde sich der Schmerz einstellen. Der panische Schmerz, der mich dermaßen zerriss, dass ich gleich noch mehr essen musste. ESSEN und noch mehr ESSEN. Kauen und schlucken und dann abermals kauen, das war das Einzige, was half.

    Ich zog den staubigen, vertrauten Geruch von Zuhause durch meine Nase ein. Lehnte mich eine Weile mit dem Rücken an die Tür, atmete tief durch. Hatte das Gefühl, gerettet zu sein. Wovor, wusste ich nicht. Als ich mich gefasst hatte, ging ich in die Küche. Mein Lieblingszimmer. Stellte den doppelten Pizzakarton auf die Anrichte und lief dann zum Gästeklo in der Diele.

    Lügen, ziemlich kleine,

    aber wohl kaum Notlügen

    Ich konnte gerade noch meine Hose hochziehen, da plärrte das Telefon los. Zuerst wollte ich nicht hingehen, aber dann nahm ich doch den Hörer ab. Es konnte ja um eine ernste Angelegenheit gehen. Dass mein Vater einen Herzinfarkt erlitten hatte oder so. Ich habe einen gut entwickelten Sinn für Katastrophen: Ertrinken, Feuersbrunst, you name it.

    »Aber da bist du ja, Brendchen!« Die atemlose, aber trotzdem widerlich tatkräftige Stimme meiner Stiefmutter echote in der schlechten Leitung, die zum gleich im Süden der Stadt gelegenen Ferienhaus führte. Nach einem Gewitter funktioniert das Telefon oft wochenlang nicht. Jetzt musste sie fast schreien, so schwer war sie zu hören. »Schönen Mittsommerabend, was machst du denn eigentlich? Ich habe schon mehrmals angerufen. Stimmt was nicht mit deinem Mobiltelefon, ich hab gestern eine Mitteilung auf deiner Mailbox hinterlassen? Du hattest doch heute um eins Feierabend? Ich hab mir schon ein bisschen Sorgen gemacht.«

    »Äh, ich war kurz in der Innenstadt und hab mir einen Bikini gekauft. Pack gerade ein bisschen Kram zusammen«, fiel ich ihr fröhlich ins Wort. »Werd gleich von einem Bekannten abgeholt, ja, von ein paar Mädchen und Jungs, um genau zu sein. Wir fahren nach, äh, Öckerö auf ein Mittsommerfest. Ich werd da übernachten, das findet offenbar in einer alten Schule oder so statt. Gott sei Dank brauch ich ja erst am Sonntag wieder zu arbeiten.«

    »Aber wie schööön für dich!«

    Sie hörte sich allerdings nicht gerade überzeugt an. Und wäre ich überzeugt gewesen, wenn die Rollen anders verteilt gewesen wären? Bestimmt nicht. Barbro fällt es leicht, andere zu durchschauen. Das hat sie im Laufe der Jahre sehr gut trainieren können.

    »Was ist das denn für ein Junge, kennen wir den, Papa und ich?«

    Sie erlaubte sich eine vorsichtige Neugier. Der Wille, zu glauben, war offenbar doch sehr stark.

    »Na ja, der war auf meiner Schule, nur eine Klasse höher. Er hat eine Art Urlaubsjahr eingelegt. Kalle heißt er. Tauchte neulich einfach so in der Pizzeria auf und dann, na ja, du weißt ja, wie das ist. Gestern hat er angerufen und heute geht’s rund.«

    »Das ist ja richtig nett für dich. Ich hatte mir schon ein bisschen Sorgen gemacht, du könntest nichts vorhaben. Wir dachten, du könntest doch herkommen, aber dann wünsche ich dir einfach ein schönes Fest. Willst du etwas sagen, Olav? Brenda geht auf ein Fest, mit einem Jungen!«

    Ich hörte, wie sie mit meinem Vater sprach, der sich irgendwo im Hintergrund befand, aber der wollte offenbar nichts sagen. Er wollte nur selten etwas sagen. In wichtigen Fällen begnügt er sich mit Einflüstern.

    »Was habt ihr denn vor, du und Papa?« Ich versuchte mich zumindest ein wenig interessiert anzuhören, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder mir und dem Telefonhörer zuwandte.

    »Ach, wir machen nur das Übliche. Pärssons kommen auf einen Heringshappen. Den Rundtanz vor dem Supermarkt wollen wir dieses Jahr überspringen. Sie hat sich wegen einer Hammerzehe operieren lassen. Du weißt, so einen Auswuchs am großen Zeh. Stell dir vor, am Ende konnte sie keinen Schuh mehr anziehen. Und sie musste drei Jahre auf die Operation warten, das ist doch ein Skandal! Die medizinische Versorgung in dieser Stadt! Da fragt man sich doch, was die mit unserem Geld eigentlich anstellen!«

    Pärssons, ihre besten Freunde, haben auf dem anderen Ufer der Bucht ein fast identisches Sommerhaus.

    »Na gut, dann wünsch ich euch einen wunderschönen Abend«, fiel ich ihr ins Wort. »Es ist ja ausnahmsweise mal gutes Wetter. Ich muss mich beeilen, damit Kalle, hmmm, die ganze Clique, meine ich, nicht zu warten braucht.«

    »Wir freuen uns ja so für dich! Vergiss die Blumen nicht, sieben Arten. Aber die brauchst du vielleicht gar nicht mehr, jetzt, wo du einen Kavalier hast.« Sie lachte. Hörte sich glücklich an, als ob ein gewaltiges Problem plötzlich eine göttliche Lösung gefunden hätte.

    Als ich aufgelegt hatte, dachte ich: Herrgott, wie leicht ist doch das Lügen. Für mich trennte nur eine spinnwebdünne Haut die Wahrheit von, tja, der Lüge. Lügen hatte ich verdammt früh gelernt und ich muss schon sagen, dass ich inzwischen zu einer ziemlichen Spezialistin geworden bin; außerdem finde ich es ab und zu ziemlich witzig, die Wirklichkeit zu manipulieren.

    »Frau Andersson, ich kann beim Turnen nicht mitmachen, ich hab mich am Bein verletzt, das tut schrecklich weh!« – »Ich kann nicht mit zum Kanufahren kommen, meine Oma ist schwer krank, sie muss vielleicht sterben, da kann ich nicht weg.«

    So hörte es sich an, als ich jünger war. Jetzt liefere ich schon spektakulärere Erklärungen. Klasse Wort, was, spektakulär (das hab ich von meiner besten Freundin, by the way).

    Aber – seht das doch mal so: Wenn mir die Sache mit der Mittsommerparty nicht eingefallen wäre, dann hätte Barbro sich nur Sorgen gemacht. Das tut sie nämlich. Und dann hätte sie sicher herumgenervt, ich müsste zum Sommerhaus kommen. Aber gibt es denn etwas Loserhafteres, als in meinem Alter am Mittsommerabend mit alten Leuten herumzusitzen? Ich hab für uns beide alles einfach leichter gemacht. Und das mit Kalle hätte doch wirklich auch die reine Wahrheit sein können, oder nicht?

    Ich warf einen raschen Blick in den Spiegel in der Diele. Nix. Keine Fettanalyse. Heute, genauer gesagt, heute Abend, wollte ich mir von mir selbst ein wenig freinehmen. Von meiner giftigen Verachtung meiner eigenen Person. »Tausend Dank, Brenda, das ist wirklich zu gütig.«

    Auf dem Rückweg in die Küche kam ich am geerbten Schrank im Serviergang vorbei. Ihr wisst nicht, was ein Serviergang ist? Scheißegal, aber das ist so ein kleiner Hohlraum zwischen der Küche und dem übrigen Haus, wo man zum Beispiel einen Schrank stehen hat. Der Schrank, von dem hier die Rede ist, hat irgendwann in einer Apotheke irgendwo in Värmland gestanden, ich glaube, in Karlstad.

    Der Vater meiner Stiefmutter hat in der Pillendreherbranche gearbeitet, wie schon vor ihm sein Vater und dessen Vater und so weiter bis zurück zu den alten Heiden. Irgendwann, lange vor meiner Zeit, hat Barbro den Schrank geerbt. Hat die alte Farbe abgebeizt. Hat ihn krachweiß angestrichen. Hat die meisten Schubladen weggezaubert. In die offenen Fächer hat sie Familienfotos gestellt. Und kleinen Erinnerungskram, Schüsselchen und Untersetzer aus dem Werkunterricht, die Ellika, meine Stiefschwester, und ich fabriziert haben. Die Fotos, ja, die sind ihr wichtig. Barbro ist die Familie wichtig. Dass wir eine überaus normale Familie sind, wir vier. Und vermutlich sind wir das ja.

    In der Mittelsektion sehen wir das Abiturfoto von Ellika, einunddreißig. Ich meine, jetzt ist sie einunddreißig. Die immer charmante und erfolgreiche Ellika. Gefragte Maklerin. Dann kommt das Hochzeitsbild mit dem hiinreeeeißenden Bräutigam Aron, einem frisch aus dem Ei gepellten Landschaftsarchitekten, und der wuuuunderbaren romantischen Braut Ellika mit weißen Spitzen bis über beide Ohren. Und mit ihren vier Brautjungfern. Dieses Bild ist so verdammt groß, dass Barbro es oben auf den Schrank stellen musste. Zwischen zwei schwere Kerzenleuchter. Das Ganze sieht aus wie ein kleiner Altar. Und das ist es ja auch vielleicht ...

    Voller Ekel denke ich daran, wie ich mich damals mit knapper Not an einem Einsatz als Brautjungfer vorbeidrücken konnte (auf die Idee war natürlich meine Stiefmutter gekommen). Ellika wollte das so wenig wie ich, aber ihr blieb ja nichts anderes übrig als mich zu fragen. Ich weiß nicht mehr, welchen Vorwand ich mir aus den Fingern gesogen habe, aber stellt euch mich doch bloß mal in einem eigelben langen Kleid vor (die Hochzeit fand am Karsamstag statt). Tja, die Mädchen, die grinsend neben dem jungen Paar stehen, sind sicher okay. Ich dagegen hätte garantiert ausgesehen wie ein verirrtes Riesenküken mit Akne.

    Egal, weiter unten, in altmodischen ovalen Goldrahmen, kommen dann eins-zwei-drei die wunderbaren Ellika-Aron-Töchter, immer nach der neuesten Mode gewandet. Na ja, vielleicht sind sie nicht ganz so toll gelungen, wie ihre Eltern gehofft hatten. Die Gene haben eine kräftige Kernschmelze durchgemacht. Es wäre bestimmt schwer, hässlichere kleine Mädchen zu finden. Vor allem die Zwillinge hätten bei einer »Ausstellung unattraktiver Kinder« große Chancen. Rattenjunge, so nenne ich sie in Gedanken. Die Älteste, sieben im September, ist ein kleiner Widerling. Immer, wirklich immer nervt sie mit meinem Gewicht herum und hat die Lacher auf ihrer Seite.

    »Mama findet, dass du einen miesen Charaktääär hast, Brenda. Was ist so ein Charaktääär denn überhaupt?«

    »Tja, wenn ich das wüsste, kleine Oda. Sag deiner Mutter, sie kann mich ...« und so weiter und so weiter.

    Anstandshalber ist auch der Fettkloß, also ich, auf zwei Pillenschrankfotos vertreten. Meine Stiefmutter, die meistens die Kamera hält, hat es höchst künstlerisch geschafft, mich zur Hälfte hinter einer Hollywoodschaukel beziehungsweise einer größeren Birke zu verstecken.

    Aber mein Abiturfoto hat ein professioneller Fotognom gemacht. Da konnte Barbro keine Wunder bewirken. No, Madam, da sitze ich in einem versilberten Rokokosessel (der während der Sitzung bedenklich ächzte) und schwelle in meiner ganzen fetten Pracht mit Doppelkinn und einem Bauch dahin, der aussieht, als ob ich jeden Moment Achtlinge gebären könnte. Meine Füße sind in zwei U-Boote geschoben, die grauenhaft gedrückt haben.

    Igitt. Angeekelt schiebe ich das Foto hinter die anderen. Wie üblich wird Barbro es hervorziehen, sowie sie ihre eleganten Füße auf das Parkett gesetzt hat. Sie ist nämlich erschreckend gerecht, meine Stiefmutter. Da hilft kein Mannomann. Warum heißt es übrigens nicht Frauofrau? Typischer Fall von Genderdiskriminierung. Ihr hört schon, dass ich allerlei interessante Wörter kenne. Gender, da habt ihr wieder meine Freundin. Gender bedeutet ganz einfach Geschlecht, aber ihr müsst doch zugeben, dass Gender fetziger klingt.

    Man merkt, dass mein Vater Olav, unter Freunden Olle genannt, ein Angelfanatiker ist. Auf dem rechten Bild steht er in Gummistiefeln da und umarmt einen riesengroßen Hecht. Der hat wohl vierzehn Kilo gewogen. Die Pfeife im Mund, ja, nicht im Mund des Hechtes, das sollte ich wohl hinzufügen. Herrgott, gibt es außer meinem Vater heutzutage noch Leute, die Pfeife rauchen? Seine Haare – die inzwischen durch und durch stahlgrauen Haare – sind nach hinten gekämmt. Er hat ein mageres, leicht vom Wind gebeuteltes Aussehen. Olav Ivar Brisling. Feiert im September seinen Sechzigsten, genauer gesagt am fünfzehnten (hat am gleichen Tag Geburtstag wie die junge Rättin Oda, die älteste Enkelin).

    Papa macht einen erschöpften Eindruck. Älter als seine Jahre, wenn ihr versteht, was ich meine. Obwohl er ein so stilles Leben führt, als Angestellter in einem Plattenladen in der Klassik-Abteilung. Ich glaube, vor allem bestellt er dabei Platten von nah und fern. Pusselt mit Noten herum. Nur widerwillig benutzt er den Computer, wenn es sich wirklich nicht umgehen lässt. Einmal wurde ihm die Beförderung zum Abteilungsleiter angeboten, aber da hat er natürlich abgelehnt. »Ich hab es gut so, wie es ist.«

    Er steht nicht gerade auf Herausforderungen, um das mal so zu sagen. Mein Vater findet es schöner, wenn das Leben seinen langsamen Trott behält.

    Am liebsten hört er klassische Musik. Mozart, Mahler und die anderen Typen. Und wie gesagt, er raucht. Er steht gern vor dem Plattenladen auf der Treppe und steckt seine gurgelnde Pfeife an. Wenn man dann noch seine umfassende Briefmarkensammlung, mit der er als Sechsjähriger begonnen hat, und Barbro, Ellika und die kleinen Rättinnen dazunimmt, dann hat man ihn wohl erfasst. Was er eigentlich von mir hält, habe ich nie herausfinden können. Von Aron – Ellikas Mann, ihr wisst schon – hält er nicht viel, aber das sagt er natürlich nicht. In dieser Hinsicht sind wir einer Meinung. Aron ist einfach zu reizend und er trieft einfach dermaßen von Selbstzufriedenheit, dass es nicht mehr gesund sein kann.

    Barbro befindet sich in der anderen Hälfte. Des Bilderrahmens, meine ich. Bei Papa, aber eben doch für sich. Barbro arbeitet als »Designerin« im Palmen-Garden-Center gleich vor der Stadt. Sie arbeitet schon so lange da, wie ich mich überhaupt erinnern kann. Meine Stiefmutter ist Autodidaktin. Das ist ein schöneres Wort für »selbst erlernt«. Aber egal, auf dem Foto rammt sie rote Lilien in einen klobigen Betonkrug. Schaut hoch und lächelt sozusagen überrascht in die Kamera. Aber überrascht war sie bestimmt nicht. Barbro hat immer alles unter Kontrolle, das könnt ihr mir glauben.

    Ellika und sie sind

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