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Schmetterlingsscherben
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eBook312 Seiten4 Stunden

Schmetterlingsscherben

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Über dieses E-Book

Louise kann von klein auf Dinge sehen, die andere Menschen nicht wahrnehmen. Sie spricht nicht nur mit ihren Puppen, sie antworten ihr auch. Das stört niemanden weiter, solange sie klein ist, aber je älter sie wird, desto mehr wird sie von den Leuten schräg angeguckt. Kurz nach ihrem zwölften Geburtstag eskaliert die Situation schließlich, als sich auch ihr einziger Verbündeter, ihr bester Freund, gegen sie stellt. Louise rastet aus und zieht kurz darauf mit ihrer Mutter weg aus dem Dorf. Fünf Jahre später stirbt ihre Mutter bei einem Autounfall und Louise muss zurück an den Ort, wo alle sie für eine Psychopathin halten. Wo alles sie an ihn erinnert... und wo er immer noch lebt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum16. Mai 2014
ISBN9783847653134
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    Buchvorschau

    Schmetterlingsscherben - Esther Hazy

    Kapitel 1

    Ich liebe diesen Ort, Mama!», rief ich und drehte mich einmal um mich selbst. Lachend fing sie mich auf und nahm mich in die Arme.

    «Er ist so wunderschön, ich werde für immer hier wohnen bleiben, da bin ich mir sicher.» Ich kicherte und vergrub das Gesicht in der Bluse von Mama. «Hier heirate ich und bekomme meine Kinder und die wohnen dann auch noch hier und bekommen ihre Kinder und dann bin ich irgendwann gaaaanz alt.»

    Mama lachte, strich mir über das Haar und küsste meinen Kopf. «Darüber reden wir nochmal in zehn Jahren, Louise», antwortete sie. Wieso Erwachsene so etwas immer sagten, verstand ich nicht. Aber es war auch egal. Ich war glücklich und Mama auch.

    Bild 70848 - Dieses Bild ist aus diesem Werk.

    Ich konnte nicht fassen, dass ich tatsächlich wieder in diesem allerletzten Scheißkaff festsaß. Ich hatte dieses Drecksloch wirklich alles andere als vermisst. An so ziemlich jedem anderen Ort der Welt wäre ich lieber gewesen und dennoch war ich gezwungen, die nächste Zeit wieder hier zu wohnen.

    Unsicher sah ich die Straße rauf, die mir so seltsam vertraut und doch völlig fremd vorkam. Ich war schon öfters hier gewesen, da war ich mir sicher. Kinderlachen hallte durch meine Erinnerungen und verebbte wieder, ehe ich es konkret mit etwas verbinden konnte. Seufzend drehte ich mich zu meinem Vater um und sah zu dem Haus hoch, vor dem wir standen.

    «Es ist nicht so groß wie euer Haus in Hannover, aber ich hoffe, es gefällt dir trotzdem ein bisschen… Louise?» Mein Vater sah mich erwartungsvoll an und lächelte verlegen. Das Reihenhaus vor mir war alt und hatte seine besten Zeiten bereits hinter sich. Der Putz bröckelte von der Wand und von den Fensterläden waren einige Bretter lose. Aber es musste einmal ein wahres Schmuckstück gewesen sein. Stuck zierte die Fassade und den Eingang und der Balkon links an der Fassade war von einem schmiedeeisernen Rankengitter umgeben, das nach Handarbeit aussah. «Sicher, Paps», antwortete ich schulterzuckend.

    Mein Vater war in den letzten Jahren wahnsinnig gealtert. Aber vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich ihn schon so lange nicht mehr gesehen hatte und er im Moment ziemlich geschafft sein musste. Für ihn war diese Situation nicht einfacher als für mich. Und er gab sich wirklich Mühe mit mir.

    Jetzt seufzte er leise und es tat mir fast schon wieder leid, dass ich mich nicht zu etwas mehr Begeisterung hatte aufraffen können. «Es ist eigentlich ideal für uns, es ist zwar nicht groß, aber es hat einen tollen, kleinen Garten und du bist von hier aus in zehn Minuten mit dem Rad bei der Schule.»

    «Ja. Das ist gut», nickte ich. Aber das war auch nicht das Problem an dem Haus. Selbst mit dem heruntergekommenen Teil kam ich klar. Nur…

    «Also etwas mehr Begeisterung könnte dieses unhöfliche Fräulein wirklich zeigen», fauchte der Maskaron, der in dem Stuck über der Haustür eingearbeitet war, vor der ich grade stand. Es war ein ziemlich hässliches Abbild eines Gesichtes und aus demselben Material wie der restliche Stuck. Ich ignorierte ihn gekonnt und sah stattdessen meinen Vater an. «Die Fratze da ist gruselig», sagte ich, ohne noch einmal auf den Maskaron zu blicken.

    «Fratze? Gruselig?! Welch ungeheure Impertinenz!», brüllte es prompt hinter mir. Mein Vater lachte leise. «Das ist doch nur ein Neidkopf, Louise. Die sehen immer so aus, weil sie das Haus vor Geistern und dem Bösen beschützen sollen. Aber wenn es dich so sehr stört, können wir die Figur auch entfernen lassen.»

    «Mich entfernen?! Wer ist dieser überhebliche Dilettant, dass er mich entfernen lassen will?!»

    «Nein, Pa. Schon gut. Das geht schon irgendwie klar.» Ich war mittlerweile ganz hervorragend darin, solche Dinge zu ignorieren. Dinge, die zu mir sprachen oder die sich bewegten. Ich wusste, dass ich mir das nur einbildete, also versuchte ich, meinen Hirngespinsten nicht auch noch mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Wenn ich sie nicht beachtete, das hatte jedenfalls Doktor Meineken behauptet, würden sie irgendwann verschwinden.

    Ich fragte mich manchmal wirklich, wie krank mein Gehirn sein musste, dass es sich vorstellte, wie diese hässliche Fratze meinen Vater als Dilettanten bezeichnete.

    «Außerdem führen keine Stufen zum Haus hoch, du wirst also keine Probleme haben reinzukommen.»

    «Ich werde nicht ewig einen Gipsfuß haben, Pa», erwiderte ich. Er nickte. «Ich weiß, aber die nächsten Wochen wirst du es mir danken. Komm erst mal rein.» Mein Vater schloss die Haustür auf und ich folgte ihm humpelnd, während der Maskaron uns weiter nachrief.

    Der Flur war nur sehr klein, aber das war bei Reihenhäusern ja meistens der Fall. Auf der linken Seite führte eine Tür ab zu einem kleinen, renovierungsbedürftigen Gäste-WC, geradeaus war keine Tür, sondern ein direkter Durchbruch in der Wand. Das dahinterliegende Wohnzimmer war einigermaßen hübsch und auch die angrenzende Küchenzeile sah in Ordnung aus. Alles war bereits eingerichtet und an seinem Platz. Ein großes Ecksofa bot genügend Platz für mehrere Personen, es gab einen alten, stuckverzierten Kamin an der gegenüberliegenden Wand, neben dem ein Esstisch mit vier Stühlen stand. Neben dem Sofa hatte mein Vater offenbar seine Arbeitsecke eingerichtet, jedenfalls stand da ein antik aussehender Schreibtisch, auf dem haufenweise Papier rumflog. Und die Wände waren so gut wie alle vollgestellt mit Bücherregalen. Ich hatte ganz vergessen, wie viele Bücher mein Vater besaß. Bei meiner Mutter hatte es bis auf Kochbücher und ein paar Ratgeber kaum Literatur im Haus gegeben.

    «Schaffst du es die Treppe rauf? Oder brauchst du Hilfe?» Mein Vater kratzte sich skeptisch am Hinterkopf. Er schien leicht überfordert zu sein.

    «Ich komm schon klar.» Irgendwie rang ich mir ein Lächeln ab und machte mich dann auf den Weg nach oben. Natürlich brauchte ich eine ganze Weile länger als sonst, weil ich nur den rechten Fuß belasten konnte und den linken wie ein Anhängsel nachziehen musste. Aber es war nicht ganz unmöglich.

    Geduldig folgte mir Rüdiger, bis wir im Obergeschoss ankamen. Hier gab es drei weitere Türen, von denen eine in ein etwas größeres, saniertes Badezimmer mit Badewanne und Dusche führte.

    «Die beiden Zimmer sind beide relativ gleich groß. Ich musste bei deinen Möbeln ein paar Abstriche machen, weil wir nicht so viel Platz haben. Ich hoffe, das macht dir nichts aus.» Rüdiger öffnete die Tür zu meinem Zimmer. ‚Ein paar Abstriche‘ war die Untertreibung des Jahres. Außer meinem Bett und meinem Kleiderschrank war nichts meiner Möbel mitgekommen. Jetzt war ich froh, dass ich mich doch für das 130er Bett entschieden hatte und nicht das 150er, das ich zuerst haben wollte, sonst wäre es vermutlich auch nicht mitgekommen. In der Ecke neben dem Bett stand ein kleiner Schreibtisch, den mein Vater offenbar irgendwo ausgegraben hatte.

    Der dunkelgraue Sessel, der bei meiner Mutter im Arbeitszimmer gestanden hatte, hatte ebenfalls einen Platz in meinem neuen Heim gefunden. Das Zimmer war eng, zugegeben. Aber es wirkte eigentlich ganz gemütlich, auch wenn es irgendwie komisch war, meine gewohnten Sachen an diesem fremden Ort zu sehen.

    «Das ist super, Paps. Danke.» Ich rang mir ein Lächeln ab und humpelte zum Sessel, um mich darauf niederzulassen. Der geblümte Stoff erinnerte mich an zu Hause und wehmütig strich ich mit den Fingern über das kleine Loch, das ich vor zwei Jahren aus Versehen dort reingerissen hatte.

    «Etwas Größeres gab es leider nicht», sagte mein Vater entschuldigend. «Wir mussten ja relativ kurzfristig was finden.»

    «Ich weiß, Pa. Das ist schon okay.» Ich nickte und sah zu ihm auf. Er sah müde aus. Vermutlich hatte er enorm Stress gehabt, die letzten Wochen. Immerhin hatte er eine Menge organisieren müssen, während ich im Krankenhaus gelegen hatte.

    «Gut, ich lass dich dann mal alleine. In einer Stunde gibt es Abendessen, ich ruf dich dann.» Er lächelte aufmunternd und zog die Tür hinter sich zu, ehe er runter ging.

    Seufzend warf ich den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Ich wollte nicht wieder hier sein. Definitiv nicht.

    Mein Vater hielt sein Versprechen und rief eine gute Stunde später nach mir. Obwohl ich nicht wirklich hungrig war, zwang ich mich dazu, eine Scheibe Brot runterzuwürgen und ein Glas Saft zu trinken.

    Anschließend verzog ich mich wieder in mein Zimmer und kuschelte mich in meinem Bett zusammen. Es roch nach zu Hause und ich musste mich zusammenreißen, um nicht schon wieder zu weinen. Damit hatte ich abgeschlossen. Keine Tränen mehr. Sie halfen nichts und sie machten mich nur noch schwächer und verletzlicher. Und das wollte ich nicht mehr sein.

    Seufzend lehnte ich mich an die Wand und sehnte mich nach meinem Fernseher. Ich befürchtete fast, mein Vater hatte ihn absichtlich zurückgelassen. Er selbst hielt nicht viel vom Fernsehen und hatte kein solches Gerät im Haus.

    Stattdessen machte ich also Musik an und ließ irgendeine Hardcoreband durch mein Zimmer schreien, während ich lustlos meinen Kleiderschrank öffnete und mir eine schwarze Jeans und ein schwarzes Kapuzenshirt für morgen rauslegte. Ich hatte den Arzt dazu überreden können, wirklich nur meinen Fuß einzugipsen und nicht mein halbes Bein, sodass ich immerhin normale Jeans darüber anziehen konnte und nicht auf die Jogginghose zurückgreifen musste, die ich im Krankenhaus getragen hatte.

    Obwohl es noch keine neun Uhr durch war, machte ich mich bettfertig und ging schlafen. Da ich immer noch erschöpft und kraftlos von den letzten Wochen war, fiel es mir nicht allzu schwer einzuschlafen. Aber ich schlief unruhig und wachte mehrmals nachts auf, wo ich mich dann in einer ungewohnten Umgebung wiederfand.

    Irgendwann um kurz nach sechs gab ich es schließlich auf, humpelte ins Bad und wickelte einen Plastikmüllsack um meinen Gips, ehe ich unter die Dusche stieg.

    Mein Vater stand um kurz nach Sieben bereits in der Küche, weil er es offenbar als seine Pflicht ansah, mir Frühstück zu machen.

    «Soll ich dir ein Spiegelei machen? Oder Brötchen holen? Was frühstückst du denn sonst immer so?»

    «Müsli oder Brot oder so reicht mir völlig», lächelte ich matt. Rüdiger schien erleichtert zu sein und holte fünf verschiedene Sorten Müsli aus den Schränken. Ich löffelte eine Schüssel Früchtemüsli aus, ehe ich mir eine Flasche Wasser und einen Apfel in den Rucksack stopfte.

    «Mein Rad steht draußen, oder?», fragte ich meinen Vater, der noch am Tisch saß und in die Zeitung blickte. Als ich ihn ansprach, sah er auf. «Ich kann dich eben hinfahren!», schlug er vor.

    «Ich krieg das schon irgendwie hin, denke ich. Aber danke.» Die Schule war direkt um die Ecke, aber das war in diesem Ort sowieso alles. Ich könnte Hoya vermutlich sogar mit dem Rad einmal komplett umrunden und würde dafür keine Stunde brauchen. Es wäre absolut lächerlich, wenn mich mein Vater mit Auto bringen würde. Gipsfuß hin oder her. Außerdem brauchte ich den Fahrtweg, um mich seelisch auf das vorzubereiten, was danach auf mich zukommen würde.

    «Ganz, wie du willst», lächelte mein Vater. «Viel Spaß in der Schule.»

    Den würde ich ganz bestimmt nicht haben. Aber der Tag würde vorübergehen. So wie alle anderen auch. «Danke, Pa.» Ich zwang mich zu einem Lächeln. Es fühlte sich verkrampft und irgendwie falsch an, aber ich war mittlerweile ganz gut darin, es einigermaßen überzeugend rüberzubringen.

    Sobald ich aus dem Haus war, entspannte ich meinen Kiefer, zog mir die Kapuze über den Kopf und weit ins Gesicht und schob mir meine Sonnenbrille auf die Nase.

    «Großer Gott», kommentierte gleich die dämliche Fratze über der Tür sarkastisch. «Seit wann ist denn der Gothiclook wieder in Mode?»

    Ich ignorierte ihn und zwang mich dazu, mich nicht nochmal umzudrehen, um ihm einen feindseligen Blick zuzuwerfen, sondern humpelte stattdessen zielstrebig den Weg zu meinem Fahrrad entlang.

    Irgendwie schaffte ich es mit dem Gips auf den Sattel und die Pedale, und sobald ich erst einmal am Fahren war, lief es eigentlich sogar ganz gut. Nur das Abbremsen an Ampeln war kompliziert. Ich schaffte es innerhalb von fünfzehn Minuten zur Schule. Wenn ich den Gips los war, würde ich vermutlich sogar nur noch halb so lange brauchen.

    Sobald ich auf dem Schulhof war, hefteten sich die ersten Blicke an mir fest. So etwas wie Anonymität gab es in Orten wie diesen nicht, und dass die durchgedrehte Tochter von Rüdiger Engel wieder hergezogen war, hatte bereits längst vor meinem Erscheinen die Runde im ganzen Kaff gemacht. Ich hatte damit gerechnet. Ich hatte mich seelisch darauf vorbereitet. Aber das Glotzen ging mir trotzdem ziemlich auf die Nerven.

    Ich schob mein Rad zum Fahrradständer und kettete es dort an, ehe ich den Eingang ansteuerte. Mit dem Gipsfuß war ich leider nicht allzu schnell und ich spürte den ganzen Weg bis zur Tür die Blicke in meinem Rücken. Einige der Schüler hielten sogar in ihren Gesprächen inne und fingen an zu tuscheln, als ich an ihnen vorbei kam.

    Ich schob die Hände in die Taschen meiner Jeans und versuchte mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dann endlich erreichte ich die Eingangstür und verschwand im Inneren des Gebäudes. Ich konnte nicht behaupten, dass sich hier viel verändert hätte. Selbst die meisten Gesichter kannte ich noch, auch wenn ich mich nicht unbedingt an die dazugehörigen Namen erinnern konnte.

    «Louise?!», kreischte irgendjemand, als ich gerade auf der Treppe war. Erwartungsvoll drehte ich mich um und sah stirnrunzelnd zu dem Mädchen runter, das mir jetzt nachgelaufen kam. Sie sah noch genauso aus wie vor fünf Jahren. Sie trug sogar die gleichen albernen Zöpfe, die mit elf vielleicht noch ganz niedlich ausgesehen hatten, aber sicherlich nicht mehr mit 16. Ihre großen Glubschaugen starrten hinter einem Brillengestell hervor. Ihre stämmigen Beine steckten in einer ausgewaschenen, ausgebeulten Jeans und in dem Pullover hatte ich das letzte Mal ihre große Schwester stecken gesehen.

    Nur die Sommersprossen auf ihrer Nase hatten sich von der Anzahl her etwa verdoppelt.

    «Dora?»

    «Louise!», strahlte sie. Ich seufzte leise und ging weiter die Treppe nach oben. Sie lief mir hartnäckig hinterher. «Das ist total stark, dass du wieder hier bist. Ist ja echt eine Ewigkeit her, Mensch!» Dass sie sich wirklich darüber freute, mich wiederzusehen, bereitete mir Sorgen. Denn ich war zum Schluss nicht wirklich besonders nett zu ihr gewesen und hatte jegliche Kontaktversuche von ihr abgeblockt. Da sollte man doch meinen, sie hätte in der Zwischenzeit vielleicht andere Freunde gefunden.

    «Und voll toll, dass du jetzt in meine Klasse gehst!» Sie strahlte gut gelaunt. «Na los, komm schon, ich zeig dir erst mal alles. Aber eigentlich kennst du dich ja hier aus, oder?» Sie kicherte albern und ich war mir nicht ganz sicher, ob ich froh über ihren Enthusiasmus sein sollte. Ich kam mittlerweile eigentlich ganz gut allein zurecht.

    In meiner Klasse waren dreizehn Schüler, was wirklich beängstigend wenig war. In der sechsten Klasse waren wir immerhin zwanzig gewesen. In meiner Schule in Hannover waren es 32. Aber dreizehn war der absolute Horror. Als neues, altes Gesicht fiel ich da sofort auf.

    Ich ignorierte das ständige Starren und ließ mich in der letzten Reihe nieder, weil mir dann immerhin niemand auf den Rücken glotzen konnte und sich die Leute umdrehen mussten, um mich anzusehen. Das würde wenigstens während des Unterrichts niemand tun.

    Doras Platz war ganz vorne bei den Strebern, sodass ich kurzzeitig Ruhe hatte. Ich starrte demonstrativ aus dem Fenster und versuchte die Blicke der anderen zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln sah ich mir meine Mitschüler näher an. Die meisten erkannte ich wieder. Bis auf einen Jungen, dessen Gesicht so mit Pickeln entstellt war, dass ich nicht genau sagen konnte, wer tatsächlich darunter steckte. Ich wollte eigentlich nur die Schulzeit möglichst schnell hinter mich bringen, ohne mit irgendjemandem reden zu müssen, aber offenbar schien mir das nicht vergönnt.

    «Hey, Louise!», grinste mich ein Kerl an, der vor fünf Jahren noch genauso dämlich ausgesehen hatte. Nur, dass seine Stupsnase jetzt in einem relativ erwachsenen Gesicht saß und absolut lächerlich wirkte. «Ist ja stark, dass du wieder hier bist!» Gott, wie hieß der noch? «Äh, ja. Geht.»

    «Und? Bleibst du jetzt für immer hier?!»

    «Auf keinen verfickten Fall.» Eher würde ich mich erhängen. «Glubschi, oder?!», fiel mir sein Name wieder ein. Gott, jetzt wusste ich auch, wieso ich ihn nicht gleich erkannt hatte. Es fehlte diese monströse Brille, mit denen seine Augen ausgesehen hatten wie Golfbälle. Er verzog das Gesicht. «So nennt mich schon lange keiner mehr. Ich trag jetzt Kontaktlinsen. Ich bin Daniel.»

    «Schön», nickte ich und wandte mich ab, als glücklicherweise unser Klassenlehrer den Raum betrat. Herr Aschermann sah noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Damals hatte ich nur Mathe bei ihm gehabt, jetzt war er auch noch mein Klassenlehrer. Er musterte mich skeptisch mit seinem psychopathischen Blick, kratzte sich am Bart und rückte seine Hornbrille zurecht. «Louise, richtig?», lächelte er mitfühlend. Das war fast noch schlimmer als das ständige Starren. Wenn ich auf eins verzichten konnte, dann war das Mitleid. Er musterte mich mit schief gelegtem Kopf.

    «Sind Kopfbedeckungen im Unterricht nicht verboten?», rief einer der Idioten aus der Reihe vor mir. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich meinte, er hieß Kai und offenbar gehörte er jetzt der Fraktion mit den tiefsitzenden Baggyhosen an, die lächerlich um seine schmächtigen Beinchen schlotterten. Aber er hielt sich offenbar für ganz groß.

    «Ja, das stimmt. Tut mir leid, Louise. Und nimm die Sonnenbrille bitte auch ab.» Herr Aschermann sah mich auffordernd an, während alle Köpfe sich jetzt zu mir umdrehten. Widerwillig zog ich mir die Kapuze vom Kopf, senkte die Augenlider und nahm die Sonnenbrille ab.

    Als ich wieder nach vorne sah, versuchte ich die gaffenden Visagen zu ignorieren. Offenbar brachte der Anblick meiner Augen noch immer einige aus dem Konzept. Dabei waren sie eigentlich nicht einmal besonders aufregend, sie hatten lediglich einen sehr seltenen, intensiven Farbton. Ich hatte nichts gegen meine Augenfarbe. Ich hatte sie sogar mal sehr schön gefunden. Damals, als alle Leute mir dafür Komplimente gemacht hatten. Außergewöhnlich. Besonders schön. Mein ehemals bester Freund hatte immer gesagt, meine Augen wären wie gebrochenes Eis. Bis ich angefangen hatte, Dinge zu sehen. Und danach waren es immer nur noch die ‚psychopathischen Augen der Irren‘ gewesen.

    Selbst Herr Aschermann glotzte mich einen Moment fassungslos an, eher er sich laut räusperte und zur Kreide griff. «Gut. Fangen wir mit dem Kapitel von letzter Woche wieder an.»

    Die Gesichter wandten sich allmählich alle wieder ab und ich senkte die Augen und starrte den Rest des Tages nur noch auf mein Pult. In den Pausen verkroch ich mich wieder hinter dem Schutz meiner Sonnenbrille und der Kapuze und saß mit Dora zusammen auf dem Pausenhof herum. Sie redete die ganze Zeit, was mir ganz recht war. Sie brauchte keinen Partner für eine Konversation und ich war froh darüber, nichts sagen zu müssen.

    «Louise? Hörst du mir zu?!» Sie stupste mich gegen die Schulter und erschrocken fuhr ich hoch. «Was?»

    «Ob du Lust hättest, mit mir ins Kino zu gehen! Montags ist Kinotag, da kostet‘s nur drei fünfzig Eintritt!»

    «Äh.» Ich starrte sie irritiert an und dachte daran, wie sich mein Vater freuen würde, wenn ich ihm erzählte, dass ich mit einer Schulfreundin ins Kino gehen würde. «Klar, wieso nicht», seufzte ich also und hoffte inständig, dass irgendetwas Anständiges lief.

    «Echt? Das ist ja super!» Und schon sprudelte sie wieder von Neuem los.

    Ich war erleichtert, als es endlich zum Ende des Schultages klingelte und ich mich auf den Weg nach Hause machen konnte. Ich freute mich auf ein paar Stunden Ruhe, ehe mein Vater nach Hause kam und mich wegen der Schule aushorchen würde.

    Aber irgendwie hatte ich verdrängt, dass in Orten wie diesen die Geschäfte noch richtig Mittagspause machten. Mein Vater war also bereits zu Hause und stand in der Küche, als ich den Flur betrat und die Tür hinter mir zuzog.

    «Na, wie war's?», fragte er neugierig und blickte um die Ecke. «Ich hoffe, du isst Spaghetti? Ich dachte, damit kann ich nichts falsch machen, oder?»

    «Klar, klingt super», nickte ich und schmiss meine Schultasche in die Ecke, ehe ich ins Wohnzimmer schlurfte und mich am Esstisch niederließ.

    «Und? Hast du noch jemanden wiedererkannt?» Rüdiger grinste gut gelaunt und häufte mir massig Spaghetti auf den Teller.

    «So lang ist das jetzt auch wieder nicht her, Paps», murmelte ich und schob mir eine Gabel voll davon in den Mund. Ich aß viel, obwohl ich nur wenig Appetit verspürte. Aber solange ich was im Mund hatte, konnte ich schließlich schlecht erzählen und ich wollte auch nicht die Hälfte des Tellers stehen lassen. Tapfer kämpfte ich mich also durch die riesige Portion und sehnte mich fast schon nach den winzigen Rationen aus dem Krankenhaus.

    Nach dem Essen musste mein Vater wieder zurück in den Buchladen und ich verzog mich auf mein Zimmer. Eine halbe Stunde lang starrte ich auf meine Hausaufgaben, ehe ich sie wegräumte. Lustlos sah ich mich in meinem neuen Zimmer um und griff nach dem Schlüsselanhänger, den mir meine Mutter noch vor ein paar Wochen gekauft hatte. Es war ein kleiner, silberner Engel, der mir Glück bringen sollte und mich beschützen sollte. Das war kurz vor dem Unfall gewesen. Ich biss mir auf die Unterlippe und schleuderte den Engel gegen die gegenüberliegende Zimmerwand, als ein leiser Aufschrei zu hören war.

    «Das hat verdammt weh getan!»

    Ich starrte auf den silbernen Fleck auf dem Sofa, der sich jetzt langsam erhob. Der Engel hatte die Flügel ausgestreckt und flog direkt auf mich zu. «Das war wirklich unhöflich!»

    Ich schloss die Augen, in der Hoffnung, die Halluzination würde verschwinden. Aber das hatte noch nie geholfen. Als ich sie wieder öffnete, hatte es sich der Engel auf meinem Schreibtisch bequem gemacht.

    Ich warf einen Blick auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis Dora mich abholen kam. Vielleicht war Gesellschaft doch gar keine so schlechte Idee. Da fiel es mir wesentlich leichter, solche Sachen zu ignorieren. Wenn man alleine war, und eines dieser Trugbilder beharrlich auf einen einredete, war das wirklich schwer.

    «Hey, Louise! Ich rede mit dir!»

    «Äh», machte ich und blinzelte irritiert auf das kleine Figürlein hinunter. Es war nicht real, verdammt. Ich packte den Schlüsselanhänger, riss das Fenster auf und schmiss ihn in den Vorgarten, ehe ich doch noch mit ihm sprach. Sobald ich das Fenster wieder verriegelt hatte, fühlte ich mich besser.

    Seufzend setzte ich mich wieder an den Schreibtisch und zwang meine Konzentration auf die Hausaufgaben. Solange ich an Mathematik dachte, würde sich mein Hirn vielleicht keine neuen Gespinste ausdenken.

    Dora holte mich um kurz nach Sieben ab. Da sie auf einem der Bauernhöfe außerhalb des Ortes wohnte, war der Weg für sie in die Stadt mit Rad ein wenig zu weit. Sie fuhr stattdessen eine ziemlich popelige, orangegelbe Vespa, weil sie mit ihren 16 Jahren noch kein Auto fahren durfte. Ich wäre mit meinem Rad vermutlich ähnlich schnell gefahren, aber ich wollte nicht meckern,

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