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wie Hulle
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eBook457 Seiten6 Stunden

wie Hulle

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Über dieses E-Book

Zwei Freunde sind auf der rasenden Suche nach Auflösung und Verschmelzung, nach Feuerwerk und Rausch, nach Zärtlichkeit und Liebe, nach echter Freundschaft, die wichtiger ist, als alles in der Welt, nach Freiheit die so eng ist, dass sie zerquetscht und die trotzdem frei macht. Sie wollen dies erreichen, indem sie ihr Leben 'verdichten'.
Dies Buch strotzt also vor Energie. Zunächst ist sie unbändig, kreativ und lustig. Aber sie schlägt manchmal um. Dann ist sie sauer, destruktiv, niederschmetternd und kaputt. Zum Schluss wird die 'natürliche' Energie dieser Heranwachsenden durch einen Wohlstands- und Kleinstadtsumpf abgerieben und nahezu völlig aufgelöst. Das ist auch für den Leser schmerzhaft und schwer zu ertragen.
Für die Ereignisse wurden die Tagebücher zweier Freunde herangezogen und mit dem Slang, den die Jugendlichen, in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern in Hannover gesprochen haben, in ein geeignetes Sprachrohr gebracht.

"Hinterher völlig ausgerastet. Durch die Stadt bis zur Eilenriede getobt. Noch mehr gesoffen. Mitten auf die Straße gelegt. Leute angeschrien. Barrikaden errichtet.
Dann war totale Ruhe."
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum19. Sept. 2015
ISBN9783738040531
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    Buchvorschau

    wie Hulle - Peter Baldinger

    Peter Baldinger

    ‚...wieHulle‘

    ein Zeitrafferroman - manchmal jedoch in Zeitlupe

    Inhaltsverzeichnis

    Titel

    Inhalt

    1968

    1969

    1970

    1971

    1972

    1973

    1974

    1975

    1976

    1977

    1978

    1979

    1980

    1981

    1982

    1983

    1968

    Es war Weihnachten und es gab Bescherung. Meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich liefen ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa saßen Muttern und Vatern. Echte Kerzen brannten an der verdammten Fichte. Wunderkerzen spuckten grelle Sternchen. Muttern spielte Horrorweihnachtssongs auf einer ollen Blockflöte. In einem Räuchermann aus dem Erzgebirge verschröggelte Geruchszeug. Ich wollte noch einen Schritt tun, aber mittendrin ging es nicht mehr. Mein Körper war gelähmt. Meine Schwester riss schon die Pakete auf, aber ich konnte mich, so sehr ich mich auch anstrengte, einfach nicht rühren. Ich war nur noch im Kopf. Muttern trug ein Kleid, mein Vater hatte einen Anzug an, meine Schwester trug eine weiße Wollstrumpfhose und ein rotes Röckchen. Ich wusste, ich hatte einen hellblauen Rollkragenpullover, eine graue Stoffhose und karierte Socken an. Aber ich konnte es nicht sehen. Mein Körper war weg.

    Muttern fing gerade an „Schneeflöckchen, Weißröckchen" zu tröten, als sie sah, dass etwas nicht stimmte. Sie legte die Flöte weg und fragte, was los ist. Mein Vater stand auf und kam hinter dem Glastisch vor. Er griff mich wohl am Arm und schüttelte ihn, aber das konnte ich nicht fühlen oder sehen. Ich versuchte zu rufen, aber kein Laut kam aus meiner Stimme.

    Eine Sekunde später war alles wieder normal.

    „Was war denn?" fragte Muttern, aber ich antwortete ihr nicht, denn ich wusste nicht, was gewesen war. Ich raste rüber zu den Geschenken und riss die Verpackungen auf.

    „Vielleicht war er nur aufgeregt", hörte ich meinen Vater sagen. Aber das konnte nicht sein, da ich mir die Geschenke schon vorher heimlich angesehen hatte. In dem langen Paket war die Silberbüchse von Winnetou und Old Shatterhand. In dem anderen Paket musste das Startset von Fischertechnik sein. Dabei hatte ich doch tausendmal gesagt, dass ich Fischertechnik blöd fände.

    Vielleicht hatte ich ja mein Bewusstsein erlangt?

    1969

    In der Schule setzte ich mich neben ein Mädchen mit Rattenschwänzen. Sie war sehr freundlich, denn sie ließ mich alle Hausaufgaben und Klassenarbeiten von sich abschreiben. Ihre Mutter erlaubte nicht, dass wir auch nachmittags zusammen spielten. Sie musste immer lernen. Deshalb war sie auch so gut.

    Mein bester Freund war Meschan. Er wohnte gleich im Nachbarhaus.

    Weil ich vorher in Trier gewohnt hatte, sagte ich immer „gell und „isch und so was. Meschan hänselte mich deswegen. Das versuchte ich mir also ganz schnell abzugewöhnen.

    Ich rief und er kam runter.

    Wir streunten durch die Straßen und durften nur auf den Rissen im Asphalt gehen. Wir stellten uns vor, dass der Rest Hundekot war. Mit einem Fingerdruck in der Hosentasche auf unsere Dödelspitze konnte man ihn aber abschalten. Wenn also einer neben eine Linie getreten war, stritten wir uns darüber, ob er rechtzeitig abgestellt hatte oder nicht.

    Das wurde schnell doof, auch weil wir das schon wochenlang spielten. Deshalb suchten wir den Süßigkeitenmann. Irgendwo latschte er immer rum. Wir trafen auf ihn, als er gerade an der ‚Reichsapotheke‘ (hieß echt so) vorbei ging.

    „Hallo, Mann, kaufst du uns Süßigkeiten?" fragte Meschan. Er beäugte uns.

    „Ja, los! Mach schon!" drängelte ich. Tatsächlich ging er mit uns an eine Bude und kaufte uns eine Tüte voll mit buntem Pfennigzeugs.

    Während ich Brausepulver mit Waldmeistergeschmack von der Handinnenfläche leckte und Meschan eine Lakritzeschnecke in seinen Mund stopfte, hockten wir auf einer Bordsteinkante und spielten ‚Opas letzten Versuch‘. Dazu stellten wir drei Streichhölzer mit den Köpfen gegeneinander auf die Streichholzpackung. Zwei davon klemmten wir mit der Schublade fest. Das dritte lehnten wir nur lose gegen die anderen beiden. Dann zündete man von unten die Phosphorköpfe an. Das nicht eingeklemmte Holz stellte sich beim Verbrennen lustig auf. Wir lachten und machten neue Versuche.

    Da Meschan nicht konnte, rannte ich zum Kinderspielplatz auf dem Karl-Marx-Platz. Da lungerte Inka rum. Prima Name! Sie war dick und hatte schon Busen. Sofort griff sie mich und küsste mich. Fühlte sich dufte an. Mit dem Ärmel trocknete ich meine nasse Backe und fischte aus dem Mülleimer neben der Bank eine winzige, leere Underbergflasche. Ich schraubte den roten Deckel ab, zündete eine Wunderkerze an, knickte den Draht hinten um, stülpte sie brennend in das Fläschchen, drehte schnell den Deckel drauf und schmiss sie in den nächsten Busch. Es gab einen dumpfen Knall und die Glassplitter peitschten durch die Gegend.

    An einem Samstag nach dem Frühstück gab mir mein Vater drei Mark und schickte mich zum Frisör. Es war so ein Altherrenfrisör am Stephansplatz. Er konnte Kinder nicht leiden. Deshalb ging er rabiat mit ihnen um.

    Er machte den Umhang so eng, dass ich hustete und riss mir am Kopf rum. Während er schnippelte, quasselte er mit anderen Kunden über Fußball. Er schnitt eine Seite viel zu kurz. Also holte er die Maschine und ratschte alles auf eine Länge. Mit seiner stoppeligen Bürste fegte er die Haare aus dem Nacken.

    „Aua", sagte ich, weil es kratzte. Er hörte es gar nicht, sondern fuhr mich runter, kassierte die Kohle und schickte mich raus.

    Es war richtig kalt am Kopf. Eiskalt, wie ich fand. Den Tränen nahe, rannte ich nach Hause. Vor der Tür merkte ich, dass mein Schlüssel weg war. Ich klingelte, aber keiner machte auf. Logisch, denn Muttern war mit meiner Schwester Klamotten kaufen und Vatern half nem Kumpel eine Kommode in die Garage tragen (Bierkästen leeren).

    Hundertmal klapperte ich die Strecke zum Friseur ab, ewig durchsuchte ich meine Hosentaschen und stülpte sie nach außen. Aber der Schlüssel blieb verschwunden.

    Ich klingelte bei Meschan und allen anderen Nachbarskindern, die ich kannte. Aber keiner war da. Es fing an zu regnen und zog immer mehr am Kopf.

    Stundenlang lungerte ich so rum. Es war ätzend langweilig und ich kriegte Kopfschmerzen im Hinterkopf.

    Ab und zu lief ich zur Haustür und klingelte. Dann trottete ich wieder los, rieb den Kopf oder rannte, damit mir wärmer wurde. Am Nachmittag klingelte ich wieder. Diesmal ertönte der Summer und ich raste hoch in den dritten Stock. Muttern war aus der Stadt zurück.

    Sie war schockiert und schimpfte, weil der Frisör die Haare stoppelkurz geschoren hatte.

    Ich griff in die Jacke, die an der Flurgarderobe hing und hatte als erstes meinen Schlüssel in der Hand.

    „Nie wieder gehe ich zum Frisör! rief ich zu Muttern und bekräftigte noch mal: „Wirklich, nie wieder! Da sah sie mich verwundert an.

    1970

    Es war Februar und ich ging von der Schule nach Hause. Es lag noch etwas Schnee, aber der war schon alt. Ich formte einen Schneeball und vereiste den Ball mit meinen Händen den gesamten Nachhauseweg lang. Fast zu Hause angekommen, zermarterte ich mir den Kopf darüber, was ich spannendes damit machen könnte. Da entdeckte ich ein sperrangelweit offenes Fenster. Mit aller Kraft donnerte ich die Eiskugel da rein und rannte was das Zeug hielt weg.

    Zu Hause hechtete ich hoch.

    „Tu auch mal was! rief Muttern. „Bring den Müll runter! Daran war nicht zu rütteln. Also ging ich mit dem Plastikeimer wieder runter und bog um die Ecke, wo die Tonnen fürs Haus standen, als ein riesiger Mann sich vor mir aufbaute.

    „Hast du den Schneeball in unser Fenster geworfen?" fragte er.

    „Nö?" log ich. Aber er kriegte eine violette Birne, weil er genau wusste, dass ich es gewesen war.

    „Ich komme mal mit hoch!" zischte er.

    „Ich kann Sie nicht mit hochnehmen. Ich bin alleine zu Hause", log ich weiter.

    „Werden wir ja sehen", sagte er und drückte sich mit mir ins Haus. Er preschte vorneweg die Treppe hoch.

    „Wo bleibst du denn?" fragte Muttern gereizt, als der Mann höflich an der offenen Tür klopfte. Muttern trocknete ihre Hände an der Schürze ab, als er sich vorstellte. Er erklärte, dass er eine behinderte Frau habe, die im Rollstuhl sitze und während er gerade in der Küche war, habe sie durch das offene Fenster einen Schneeball voll ins Gesicht bekommen und das sei ja wohl nicht richtig so. Muttern gab ihm da völlig recht und er verabschiedete sich.

    Anschließend kassierte ich eine gepfefferte Backpfeife und musste zu den Leuten gehen, um mich zu entschuldigen.

    Die Frau im Rollstuhl sagte, dass ich ein Rüpel sei und sie von mir keine Entschuldigung akzeptiere.

    Ich also wieder zurück. Muttern fragte, was sie gesagt hatte. Ich gab ehrlich Auskunft. Muttern war nicht zufrieden, sie sagte, ich müsse noch mal hin. So was doofes. Ich also wieder los. Diesmal tat ich aber nur so, als ob ich wieder hinging. Hinterher erzählte ich, dass die die Tür nicht mehr aufgemacht hätten. Ist zum Glück nicht aufgeflogen.

    Sicherheitshalber ging ich von nun an immer einen Umweg nach Hause.

    Meschan und ich tauschten unsere Schwestern. Ich knutschte also seine und er meine. Wir standen dabei im Hof unter den Teppichklopfstangen. Eine Nachbarin, ein echter Drachen riss ein Fenster auf und schrie runter:

    „Hört sofort auf, die Mädchen anzufassen! Eine Schweinerei ist das!"

    Wir gingen in den Keller und machten dort weiter. Der Keller war sowieso dufte und wir richteten uns hinter einem Haufen Eierkohlen ein kleines Lager mit Kerzen, Essen und Trinken ein.

    Nach und nach versuchte ich alle Mädchen aus der Nachbarschaft dahin zu locken und abzuknutschen. Klappte aber nur selten.

    Wochenlang hatten Meschan und ich unsere Eltern weichgeklopft, damit wir mal zusammen übernachten durften. Endlich war es soweit. Ich ging mit meiner Zahnbürste und meinem Schlafanzug zu Meschan. Die Eltern von Meschan waren knorke. Meschans Vater war Übersetzer für die Gebrauchsanweisungen von Elektrogeräten. Deshalb hatten sie einen großen Fernseher. Sie glotzten immer. Am liebsten Sport. Sie sahen alle Olympiaden, Leichtathletikwettbewerbe, Fahrradrennen, Tennisturniere und so weiter. Der Vater stand währenddessen im Durchgang zum Esszimmer und rauchte ‚Stuyvesant’. Er hatte die speziellen 40 Stück Packungen. Von denen rauchte er zwei am Tag. Manchmal zündete er mit der alten Fluppe eine neue an.

    Zum Fernsehen wurde dann noch Scrabble gespielt. Als Sendeschluss war, gingen wir alle ins Bett.

    Als Meschan und ich sicher waren, dass seine Eltern schliefen, leuchteten wir mit unseren Taschenlampen so rum. Später untersuchten wir in den Lichtkegeln gegenseitig unsere Dödel. Meschan hatte eine lange, weiche Vorhaut. Sie zurückzuschieben war recht dufte. Wir fummelten so lange an uns rum, bis wir erregt waren.

    An einem Sonntagmittag jockelten wir ins ‚Esplandekino‘. Wir saßen oben auf dem Balkon zwischen hunderten, schreienden, Popcorn werfenden Kindern. Es lief ‚King Kong‘. Echt dufter Film.

    Hinterher regnete es wie aus Kannen. Trotzdem stellten wir uns auf den Spielplatz des Stephansplatzes. Die Tropfen schlugen hart in den Sand des Sandkastens und bildeten kleine Krater. Unter Mutterns großem gelbbraunem Regenschirm pafften wir eine Zigarre, die wir vorher ‚für unseren Opa‘ in einem Tabakgeschäft gekauft hatten. Die blauen Tabakwolken standen unter dem Schirm, bis sie vom Regen angezogen und zerfetzt wurden. Hinterher mussten wir nach Hause flitzen, weil wir beide aufs Klo mussten. Klassisch.

    Am nächsten Sonntag sollte Godzilla gezeigt werden. Wir planten alles zu wiederholen.

    1971

    Heute klemmte ich mich oben zwischen den Türrahmen und las. Ging astrein, weil meine Filzpantoffeln Gummisohlen hatten.

    Danach fesselte ich meine Schwester. Ich schnitt von einem Kaktus ein Stück ab, zermantschte es, verknetete es mit Mehl und briet das Ganze zu einer Art Pfannkuchen. Meine Schwester musste das Klößchen essen, damit ich sie wieder losband.

    Endlich kam Meschan. Er hatte Schokolade und Sprite mitgebracht. Da er katholisch war, musste er alles mit mir teilen. Höhö.

    „Sonst blutet den Katholiken das Herz", sagte er ernst. Super.

    Seit ein paar Wochen beschäftigten wir uns damit Einpfennig- und Zweipfennigstücke aus dem dritten Stock auf die Straße zu werfen. Die Uridee war superchristlich (zumindest waren wir davon überzeugt): die Leute sollten sich freuen, wenn sie Geld fanden und einen netten Tag haben.

    Mit der Zeit hatten wir die Idee etwas abgewandelt und hatten Groschen mit Kleber auf die Straße geklebt.

    Aber danach war uns heute nicht.

    Wir fingen das Programm damit an, vorbeigehende Leute mit Wasser aus dem Aquarium zu bespritzen.

    Das langweilte uns aber auch bald. Also pullerten wir in eine Gießkanne und begossen die Passanten damit. Das machte schon viel mehr Spaß. Später bewarfen wir Leute mit Blumenerde, angelutschten Bonbons, gekochten Spaghetti und Gurkenstückchen.

    Einige klingelten überall im Haus, weil sie nicht wussten, wo es herkam, oder standen ewig unten und schimpften.

    Ein neuer Freund von mir war Carsten. Er aß ununterbrochen Karotten. Seine Haut war ganz gelb davon. Er trug eine an der Seite nach oben geschwungene Hornbrille, die er von seiner Mutter geliehen hatte, weil er keinen Bock hatte, zum Augenarzt zu gehen. Die Brille war viel zu stark für ihn.

    Meschan, Carsten und ich gingen auf ein brachliegendes, eingezäuntes Gelände. In einem Busch lag ein Porno, den blätterten wir durch. Ich hätte schwören können, dass eine der Frauen Carstens ältere Schwester war. Sagte ich ihm aber lieber nicht.

    Später zeigte Carsten Meschan und mir seinen Dödel, da er beschnitten war. Erregt stand er wie eine eins nach oben. Wir staunten nicht schlecht. Aber Carsten sagte, dass so eine freie Eichel unangenehm in der Unterhose reibe.

    Weil ich immer von dem Mädchen mit den Rattenschwänzen abgeschrieben hatte, schaffte ich es sogar ins Gymnasium. Obwohl Meschan besser war, packten ihn die Eltern auf eine Realschule.

    Schulferien. Es war richtig warm. Meschan und ich gingen ins Maschseebad. Der See war flach und voller Algen und Wasserpflanzen. Wir meldeten uns für den Fahrtenschwimmer an.

    Sofort ging es los. Wir mussten mit acht anderen dreißig Minuten im Kreis schwimmen. Ein Kerl stand auf einem Steg und bewachte die ganze Schose. Aber es war am Ende des Stegs noch so flach, dass ich mit den Füßen den ekligen, schlammigen Boden berühren konnte. Ich tat also so, als würde ich schwimmen und lief eine halbe Stunde im Kreis herum. Ich versuchte dabei herauszukriegen, ob all die anderen wirklich schwammen oder ob sie auch nur liefen. Wahrscheinlich war ich aber einfach etwas größer als sie.

    Hinterher verriet ich niemand, selbst Meschan nicht, dass ich geschummelt hatte. Als unsere Mütter und Schwestern mittags im Freibad eintrudelten, zeigten wir stolz die Plaketten und den Schwimmpass.

    Wir cremten uns alle gegenseitig ein und die Mutter von Meschan fing dabei an, meinen Rücken zu kraulen. Das machte sie ewig lang, obwohl es mir gar keinen Spaß machte. Aber sie sagte:

    „Warte doch nur ab. Du wirst sehen, gleich wird es dir ganz toll gefallen." Tat es aber nicht. Es war eher eine Folter, da ihre Finger meine Haut fast nicht berührten.

    Aber ich merkte mir die Technik, weil ich dachte, dass sie später mal nützlich sein könnte.

    Zwischendurch sprangen wir ins Wasser. Aber das war nun ganz warm und gelb von der vielen Pisse aller Kinder (einschließlich meiner). Also ließ ich mich wieder kraulen. Meschans Mutter war richtig vernarrt in diese Sache und ich war froh, als es endlich ein ‚Mini Milk‘-Stieleis gab.

    Anschließend düsten Meschan, seine Schwester und seine Mutter nach Hause, weil Meschan mit dem Knabenchor in der Kirche proben musste und seine Schwester noch eine Klavierstunde hatte.

    Muttern, meine Schwester und ich brieten weiter, bis Muttern mit dem VW-Käfer nach Hause fuhr, da sie einige Anrufe machen und was zu essen und zu trinken holen wollte.

    Als das Freibad geschlossen wurde, war sie aber immer noch nicht zurück und ich latschte mit meiner Schwester den ganzen Weg nach Hause.

    Zu Hause war Muttern aber auch nicht. Also warteten wir nur so ab. Als sie kam, hatte sie eine Halskrause und überall blaue Flecken im Gesicht. Am Sallplatz war ein Auto von hinten in unseren Käfer gerast und hatte ihn gegenüber gegen eine Kirche geschleudert. Von dort war er wieder abgeprallt und auf der Straße hatte ihn noch ein anderer Wagen von der Seite gerammt. Totalschaden.

    Von dem langen Tag in der Sonne, hatte ich rote, juckende Hitzepusteln am Hals.

    Das Gymnasium hieß Lüdersschule und war eine reine Jungenschule. Würg.

    Lex, ein rotzfrecher Knirps, der einzige, mit dem ich auch schon auf die Grundschule gegangen war, wollte unbedingt, dass ich sein Freund wurde. Da ich sonst noch niemanden kannte, war er halt etwas mein Freund. Aber er wollte mir immer alles abluchsen. Das hasste ich. Lexes Mutter war eine anspruchsvolle Haarsprayblondine und sein Vater ein armes Würstchen.

    Wir gurkten durch die Eilenriede. Ich hatte mein Fahrrad mit einem Bananensattel und einem hohen Lenker ausgestattet. Wir rasten die Rodelbahn runter. Unten überschlug ich mich bei voller Fahrt, lag auf dem Boden und kriegte keine Luft mehr. Nur kurz. Ich drehte den Lenker wieder grade und wir rasten die Huckelwege lang.

    An einem Tümpel holten wir unsere Fischnetze vor. Wir fischten Stichlinge, Lurche und kleine Flusskrebse. Die packten wir mit Wasser in eine Plastikschüssel. Ich hatte mein Aquarium in ein Terrarium umgewandelt. Aber die Kaltwasserviecher krepierten dauernd. Während wir noch etwas mit Blutegeln spielten, gab Lex wie zehn nackte Neger mit seinem Bruder an. Der klaute immer und war gerade wieder mal im Knast. Na toll!

    Als Lex merkte, dass ich ihn gar nicht so sehr abkonnte, wie er dachte, suchte er sich einen anderen Kumpel - einen Brutalo. Einen ganzen Winter lauerten die beiden mir auf dem Nachhauseweg auf und verdroschen mich, wenn sie mich kriegten.

    Die meisten Sonntage mussten meine Mutter, meine Schwester und ich um acht aufstehen, weil der Alte wandern wollte. Keiner hatte Lust, aber es war eine Pflichtveranstaltung. Müde schleppten wir uns durch den Wald im Deister. Es wurden Pilze und Beeren gesammelt.

    Regelmäßig trotz des ‚grünen Führers‘ und deshalb bestimmt absichtlich, denn seine Orientierung war normalerweise ausgezeichnet, verlief sich der Alte und fand das Auto nicht mehr. Wir rannten also den ganzen Tag durch die Walachei, manchmal weit mehr als 25 Kilometer. Der Alte vorneweg, dann in der Mitte meine Schwester und ich und fünfzig Meter weiter hinten Muttern.

    Wenn wir endlich wieder im Auto saßen, standen wir im Stau mit all den ganzen anderen Deppenfamilien, die auch den ganzen Tag rumgelatscht waren. Ich war dann echt sauer, denn alles war genau wie immer: wieder würde ich den Anfang von ‚Raumschiff Enterprise‘ verpassen, wenn nicht die ganze Folge, obwohl der Alte hoch und heilig versprochen hatte, dass wir rechtzeitig zurück seien.

    Muttern und der Alte stritten sich, ob die gesammelten Pilze genießbar, essbar oder giftig wären. Sie wälzten Pilzbücher, aber sie konnten sich nicht einigen. Schließlich heulte Muttern und warf dem Alten die Pilze an den Kopf.

    Er briet sich die Reste und aß sie. Er starb nicht daran – aber vielleicht lagen sie ihm schwer im Magen.

    1972

    Meschan war katholisch, ich evangelisch. Sein Vater spielte sonntags in der Kirche die Orgel und Meschan sang im Knabenchor. Ich wollte mir das mal anhören.

    Schnell war ich in den ganzen Gottesdienst verwickelt und es war unmöglich wieder abzuhauen. Also wackelte ich auch vor den Altar und spülte die trockene Oblate mit dem ranzigen Wein runter.

    Hinterher war Meschan total sauer:

    „Das kannst du doch nicht machen, sagte er entsetzt, „du bist nicht mal konfirmiert!

    Wir hatten Musikunterricht bei Schmetter. Schon ein halbes Jahr saßen wir alle mit unseren Mistblöckflöten da und mussten zusammen oder einzeln aus dem Volksliederbuch: ‚Bruder Singer‘ was flöten.

    Zum Abschluss des Halbjahres sollte jeder was vorspielen, was Schmetter für uns auswählte. Ich sollte die Nationalhymne blasen. Also dazu hatte ich überhaupt keine Lust, also ließ ich den Quatsch. Dafür kriegte ich natürlich ne Sechs und im Zeugnis eine Fünf.

    Muttern sagte, sie wolle mal mit dem Lehrer reden. Dazu machte sie sich fein und legte Lippenstift auf.

    Als ich im neuen Halbjahr wieder Musik hatte, ließ mich Schmetter in Ruhe. Ich durfte mir sogar ein Stück aussuchen und eine Woche lang zu Hause eintrainieren. Am Schluss hatte ich eine Drei. Außerdem sollte ich Grüße an Muttern bestellen. Hab‘ ich aber nicht gemacht.

    Kurz vor den Abiturprüfungen war jemand nachts in die Schule eingebrochen, hatte die Waschbecken zugegipst und alle Wasserhähne aufgedreht. Das Wasser war durch alle vier Stockwerke bis in den Keller gelaufen und hatte die Penne unbenutzbar gemacht. Die nächsten zwei Wochen war schulfrei.

    Mein Vater war ein Mathefreak, der nur so aus Spaß sich mit Mathe befasste. Er gab einem Typen aus der dreizehnten Klasse Mathe-Nachhilfe. Der hatte eine lange, rote Matte und Sommersprossen. Ohne die Nachhilfe konnte er das Abitur nie bestehen.

    Im Korridor kriegte ich mit, wie mein Vater abends den wirklich schlechten Nachhilfeschüler spaßeshalber fragte, ob er die Verwüstung in der Schule angerichtet hätte. Der lief feuerrot an, röter als seine wilden Locken und kam nie wieder.

    Carsten wohnte in einem modernen Mietblock am Maschsee. Seine Eltern waren viel älter, als meine. Der Vater war echt schrullig und hatte einen Sammeltick. Der ganze Keller war voll mit irgendwelchem Zeug. Hauptsächlich sammelte er Standuhren und Kuckucksuhren. Hunderte, die zu jeder vollen Stunde einen Höllenlärm machten.

    „Wie könnt ihr dabei pofen?" fragte ich.

    „Gewöhnt man sich dran", sagte Carsten und biss von seiner Karotte ab.

    Ich entdeckte bei ihm eine schrottige Gitarre und fragte den Vater, ob ich sie haben könnte.

    „Ich repariere sie dir, sagte er, „und für 40 Mark ist sie deine.

    Beim nächsten Mal kaufte ich die Gitarre.

    Die Mutter von Carsten war böse, weil der Vater sie mir so teuer verkauft hatte. Mir war es aber schnuppe.

    Carsten und ich zuckten mit der Gitarre zu mir. Meschan kam auch und wir hörten ‚Deep Purple‘ ‚Made in Japan‘, meine erste Platte. Den Plattenspieler hatte ich vom Sperrmüll und auch das Röhrenradio, an das ich ihn anschlossen hatte. Carsten schlug zu der geilen Mucke auf Stühlen und Töpfen rum und ich versuchte auf der Gitarre mitzuspielen. Wegen der Stahlsaiten hatte ich schnell blutige Finger. Wir beschlossen eine Band zu gründen.

    In den Sommerferien fuhren wir nach Norwegen. Von Dänemark aus ging‘s mit der Fähre weiter. Die Überfahrt dauerte sieben Stunden. Ewig streunte ich durch die langen Gänge mit den Kabinen irgendwo unten im Rumpf des Schiffs. Als ich genug davon hatte, fläzte ich mich auf einen Stuhl bei meinen Eltern und schlürfte eine Cola. Draußen hinter der dreckigen Scheibe tobte das Meer. Der Seegang war eigentlich nicht so schlimm, aber schlimm genug, dass sich einige mit Kotztüten beschäftigten.

    Plötzlich sah ich ein Mädchen in einem bunten Kleid, das mich antörnte. Sie hatte große Augen, einen Schmollmund, lange hellblonde Haare und ganz goldbraune Beine.

    Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr lassen. Pausenlos stierte ich sie an. Wenn sie ins Café oder sonst wohin ging, stand ich auch auf und folgte ihr. Wie besessen, ließ ich sie keine Sekunde mehr aus den Augen, nagelte sie mit Blicken fest.

    Sie versuchte alles Mögliche, um mich abzuschütteln: drehte mir den Rücken zu, las ein Micky-Maus-Buch oder lächelte mich an. Da nichts half, verpetzte sie mich bei ihren Eltern, die mir wütende Blicke zuwarfen. War mir aber völlig egal.

    Nach einer ganzen Weile fasste sich ihr Vater ein Herz und kam an unseren Tisch. Er klärte meinen verblüfften Vater über die Sache auf.

    Als der Vater des Mädchens wieder zu seiner Familie gegangen war, sagte mein Vater diplomatisch, dass ich so was lieber nicht so auffällig machen solle. Aber mir war es immer noch völlig schnuppe, was wer dachte, ich fixierte sie offen weiter, bis sie und ihre Eltern verfrüht in die Autodecks verschwanden, lange bevor wir Norwegen erreicht hatten.

    Viele Wochen verfolgte mich ihr Bild in meinem Kopf. Es war dort wie eingemeißelt. Ich träumte von ihrem Körper, wie sie so herrlich wütend war und der Art, wie sie sich bewegte. Ich schwor mir, sie später auf der ganzen Welt zu suchen.

    Ein paar Tage später hatte ich sie schon vergessen.

    Bei Meschan. Meschans großer Bruder war auch da. Sein Holzbein stand gleich hinter der Tür. Als Kind hatte ihm ein Zug das echte abgefahren. Wir saßen bei ihm im Zimmer. Er war colasüchtig. Also machte er mal wieder eine neue Liter-Flasche auf und gab uns auch ein halbes Glas ab. Auf seinem Schrank-Plattenspieler spielte er ‚Uriah Heep’, ‚Fleetwood Mac’, ‚The Birds’, ‚The Doors’ und so was.

    Dann gingen Meschan und ich ins Wohnzimmer und vertrieben die Schwester, die am Klavier saß. Ich versuchte sie zu knutschen, aber sie wollte das nicht.

    Wir sahen in der Glotze einen Auftritt der Gruppe: ‚Family‘ und Roger Chapman. Echt stark.

    Danach lief eine Sendung mit John Peel, der Gitarrenunterricht gab. Meschan hatte sich die Telecastergitarre seines Bruders gegriffen, ich hatte meine akustische aus der Stoffhülle geholt und wir versuchten mitzuspielen. Meschan war gut, weil er ein super Gehör hatte. Der Bruder hatte unterdessen geduscht und hüpfte nun auf einem Bein und im Bademantel durchs Wohnzimmer. Seine Freundin war auch gekommen. Sie hatte nicht viel an, einen Minirock und ein Trägershirt. Dufte Biene, mit einer ganz tiefen, rauchigen Stimme. Sie zischten dann los. Im Treppenhaus sprang Meschans Bruder immer über acht Stufen auf einmal. Das ganze Haus erzitterte davon. Aber er war viel schneller als jeder mit zwei Beinen.

    Den Rest des Nachmittags träumten wir von unserer Band.

    Früh morgens. Meine Schwester und ich frühstückten und machten uns für die Schule fertig. Muttern stand am Fenster und sah nach unten. Sie war nervös, weil der Alte die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war. Dann rief sie auf einmal runter: „So brauchst du dich gar nicht erst blicken zu lassen!"

    Ich sah nach, was da los war. Der Alte kam total knülle auf allen Vieren die Straße entlang gekrabbelt. An der Haustür zog er sich hoch. Muttern rannte zum Summer und drückte schnell – denn sie hatte Angst vor dem Gerede der Nachbarn. Der Alte brauchte ewig, bis er die drei Stockwerke geschafft hatte. Er schob sich, gerade so stehend, an der Wand entlang. Seine Stoffhose hatte an den Knien zwei große Löcher. Alles war voller Blut und Dreck. Seine Brille hatte einen Sprung und er lachte irre.

    Muttern heulte und schrie rum. Der Alte verschwand im Bad und duschte. Als er wieder rauskam, war er schon nüchterner. Er zog neue Klamotten an und suchte seine alte Brille. Gelassen frühstückte er ein Brötchen. Manchmal biss er ins Leere. Muttern stopfte die kaputte Hose in den Mülleimer und weinte leise.

    Als es Zeit war, zur Arbeit zu gehen, nahm der Alte ein Jackett von der Garderobe und zog wortlos die Tür hinter sich zu.

    Ich hatte Biologie bei Rattler. Bevor der Unterricht losging, musste man das Spiel: „Hände hinter den Rücken! Zappelt nicht! Aufstehen! Setzen! Aufstehen! Setzen!" mitmachen. Das weckte einen angeblich.

    Dann zeigte er uns Dias von seinen vorsintflutlichen Expeditionen in den Amazonas und nach Afrika. Die Dias waren aber klasse. Dazu erzählte er Geschichten über Badeerlebnisse in Flüssen voller Krokodile, Piranhas und über riesige Insekten und so weiter.

    Zwischendurch kriegte Rattler Tobsuchtsanfälle. Er war halt ein alter Fascho. Dabei schlug er mit einem Bambusstock wild auf den Tischen rum, immer dicht neben die Finger. Wenn er den Stock fransig geschlagen hatte, flogen einem die Bambusstücke um die Ohren. Mit hochroten Kopf schrie er dazu, was das Zeug hielt.

    Die Stöcke bekam er paketeweise von einer Schulbedarfsfirma direkt in die Schule geliefert.

    Dann war er wieder friedlich und sagte, dass es mit Sexualkunde weitergehe.

    Das war natürlich ein Witz, denn er hielt uns einen Vortrag über die Wichtigkeit des täglichen Schwanzwaschens, Vorhautverengungen und darüber, dass wenn man mal müsse, man schnellstmöglich ein Klo aufsuchen solle, da jedes Verdrücken ungesund sei.

    Bei Rattler hatte ich auch Kunst: Zuerst mussten wir jede Menge Kniebeugen machen. Dann wurde mit Wasserfarben getuscht. Dazu rührten wir unser eigenes Deckweiß in Marmeladengläsern an. Ich lernte, dass es kein Weiß und kein Schwarz in der Natur gibt. Das ein Bild aber fast nur aus Weiß und Schwarz besteht. Interessant.

    Am Ende der Stunde mussten wir fegen und die Tische genau nach dem Fliesenmuster auf dem Boden ausrichten, da das nicht auf Anhieb klappte, spielte er wieder etwas mit dem Rohrstock und wir mussten erneut das Rauf-Runter-Gehampel machen.

    Insgesamt fand ich Rattler dufte, weil ich etwas über Malerei lernte. Am Ende des Jahres fragte er jeden, ob er eine Eins oder Zwei im Zeugnis haben wollte. Ich entschied mich natürlich für eine Eins und kriegte sie auch.

    Als er mit dem Stock jemanden auf dem Rücken erwischte, schickte man ihn in Rente.

    1973

    Der Sportlehrer, ein alter Knacker sagte, wir sollten um den Maschsee rennen. Das sagte er, wenn er keine Lust hatte, uns Fußball spielen zu lassen (also fast immer). Er ging mit raus ans Ufer des Maschsees, trillerte auf einer Pfeife zum Start und wartete bis alle losgelaufen waren. Das war‘s - für ihn. Einige quälten sich tatsächlich die acht Kilometer um den See. Andere spazierten auf Umwegen zurück. Ich nahm mit einigen eine Fähre und wir machten eine Maschsee-Rundfahrt. Gerade rechtzeitig großen Pause waren wir wieder auf dem Schulhof.

    Am Tor zur benachbarten Mädchenschule lungerten die Typen rum, die bald Abitur machten. Sie quarzten Selbstgedrehte.

    „Spielst du Gitarre?" fragte ich einen besonders Langhaarigen. Er hatte einen braunen Hirtenmantel an. Seine Matte lag locker auf dem Schafsfellkragen und bedeckte noch fast den ganzen Rücken. Seine Füße hatte er ganz dicht nebeneinander gestellt. Er machte keine überflüssigen Bewegungen - sparte Energie.

    „Ja", sagte er knapp.

    „Kannst du mir Unterricht geben?" fragte ich ihn.

    „Nee, erwiderte er, weiter bewegungslos, „aber der. Nur seine Kippe deutete auf einen Typen der neben ihm stand. Der war etwas kleiner, hatte auch eine stattliche Matte und einen abgebrochenen Schneidezahn. Er hieß Matze.

    Zwei Tage später war ich bei ihm zu Hause in Laatzen. Ich zeigte ihm meine Gitarre und er sagte sie sei Schrott. Wir fingen mit dem Unterricht an. Er zeigte mir, wie man Akkorde spielte. Ich klampfte einen ‚Donovan‘ Song und sollte dazu auch singen. Konnte ich aber nicht und hasste es deshalb.

    Einen Monat später ging ich mit Matze in die einschlägigen Instrumentenläden. Matze sah sich alle E-Gitarren an. Er hielt sie hoch und prüfte, ob der Hals gerade war, dann spielte er sie durch. Er quatschte mit den Leuten, die ihn alle kannten, da er regelmäßig Gitarren austestete. Ich stand wie ein Depp daneben. Am Schluss kauften wir eine feuerrote ‚Epiphone‘. Wegen Matze kriegte ich Prozente. Auch gut.

    Ich überredete den Alten, mich nach Wunstorf zu fahren. Dort spielte in der Aula einer Schule Matze mit seiner Band. Der Nachhilfeschüler vom Alten war auch da. Als er den Alten sah, verdrückte er sich.

    Es war ein Hippiekonzert. Matzes Freundin, eine superdufte, langhaarige, knödelbusige Frau in einem Hippiekleid verteilte Räucherstäbchen im Publikum. Kerzen und Wunderkerzen brannten. Der zweite Gitarrist war Matzes Freund von der Schule. Auch beim Gitarre spielen stand er wie eine Steinsäule da. Nur seine Hände bearbeiteten das Griffbrett. Astrein. Es waren nicht mehr als dreißig Leute da, also stellte ich meinen grauen Plastik-Mono-Kassettenrekorder (Neckermann – Hausmarke, zu Weihnachten bekommen), auf den Tisch, stöpselte das Mikrofon ein und nahm das Konzert auf.

    Die Band spielte atmosphärische Stücke, die eine halbe Stunde und länger dauerten - mit viel Wah-Wah-Gitarre. Gewaltig! Ich schwamm weg.

    Nach ein paar Stunden, das Konzert schien endlos, wurde der Alte ungeduldig, weil er nicht viel trinken konnte und wir düsten zurück.

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