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Söhne der Rosen: Das geheimnisvolle Tattoo
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Söhne der Rosen: Das geheimnisvolle Tattoo
eBook260 Seiten3 Stunden

Söhne der Rosen: Das geheimnisvolle Tattoo

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Über dieses E-Book

Julian Grifter wird direkt nach seinem Abschluss an der Highschool durch die Versetzung seines Vaters dazu gezwungen, seine Heimat in Nampa, Idaho zu verlassen und mit seinen Eltern nach Cape Orchid, California zu ziehen. In dem kleinen Ort an der Küste lernt er Alain Blanchard kennen, den Sohn seiner neuen Nachbarn, der scheinbar die meiste Zeit allein in der geheimnisumwitterten, alten Villa lebt. Julian verliebt sich in seinen neugewonnenen, seltsamen Freund, immer darauf bedacht, das langgehütete Geheimnis seiner Homosexualität nicht preis zu geben. Trotz vieler versteckter Andeutungen von Alain und den gemeinsamen, teilweise sehr intimen, sportlichen Aktivitäten, bleibt Julian unsicher, ob seine Gefühle erwidert werden. Weitere Rätsel geben Alains tätowierte Rosenranke auf, die nach jeder Begegnung der Jungen ein Stück größer wird. Und warum fühlt sich Julian - besonders Nachts - ständig beobachtet?
Während sich unheimliche Geschichten um die Villa ranken, spitzt sich die heimische Situation zwischen ihm, seinem militanten Vater und seiner verständnisvollen Mutter unaufhaltsam zu, bis es zu einer lebensbedrohlichen Katastrophe kommt.
SpracheDeutsch
HerausgeberHimmelstürmer
Erscheinungsdatum16. Aug. 2012
ISBN9783863612511
Söhne der Rosen: Das geheimnisvolle Tattoo

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    Buchvorschau

    Söhne der Rosen - Thorsten Bonsch

    Himmelstürmer Verlag, part of Production House GmbH

    Kirchenweg 12, 20099 Hamburg

    E-mail: info@himmelstuermer.de

    www.himmelstuermer.de

    Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer, AGD, Hamburg

    www.olafwelling.de

    Coverfoto: © C.Schmidt  www.CSArtPhoto.de

    Das Model auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Models aus. 

    2. Auflage, September 2008

    E-book Auflage: August 2012

    Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

    ISBN print:    978-3-934825-74-1

    ISBN E-pub:  978-3-86361-251-1

    ISBN pdf:      978-3-86361-252-8

    Thorsten Bonsch

    Söhne der Rosen

    Ein schwuler Fantasy Roman

    1. Teil

    für Marco Canetto

    Danke für die Gegenwart, in der ich das gebraucht habe, was du mir gegeben hast.

    und für Sven Minne

    Danke für die Vergangenheit, die ich heute noch hüte, wie einen einzigartigen Schatz.

    Menschen, die wie wir an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion ist.

    (Albert Einstein)

    1

    Ich erinnere mich noch sehr genau, es war im Frühsommer 1997 als meine Eltern und ich nach Cape Orchid gezogen waren. Kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag. Damals hatte Zeit noch eine Bedeutung.

    Mein Vater hatte einen Versetzungsbefehl erhalten und nach seinen Aussagen war eine Weigerung unmöglich. Befehl ist Befehl – das war sein Standardsatz. Und was sein Vaterland ihm abverlangte, das übertrug er mit uneingeschränkter Selbstverständlichkeit auf seine Familie. Weder meine Mum noch ich hätten es jemals gewagt, etwas gegen die Versetzung zu sagen oder sie auch nur in Frage zu stellen. Schließlich war er General Ernest W. Grifter, im Dienst und im Privatleben.

    Nachdem mein Vater uns von der Versetzung erzählt hatte, hatte meine Mum nachts in unserer spärlich beleuchteten Küche gesessen und leise geweint. Ich hatte sie gehört, weil ich selber nicht schlafen konnte. Der General hatte es zu unserem Glück nicht mitbekommen, er verfügte immer über einen kurzen, aber tiefen Schlaf. Im Gegensatz zu ihm hieß für uns sein Befehl, eine Menge Dinge und Menschen zurückzulassen, die uns viel bedeutet hatten. Meine Mum war Vorsitzende im Komitee zur Hilfe AIDS-infizierter Kinder, Mitglied bei dem M.H.S.Y.C. und sie traf sich jeden Mittwochabend mit ihren Freundinnen zum Pokern. Ich war zwar durch keine Vereine gebunden – dafür bin ich zu introvertiert – aber ich musste einige wirklich gute Freunde zurücklassen, deren Freundschaft bis zu fünfzehn Jahre überdauert hatte. Und ich weiß, dass eine Distanz von vierhundertachtzehn Meilen auch solche Freundschaften zerstören kann.

    Trotzdem haben wir es in jener Nacht geschafft, uns gegenseitig ein wenig Trost zu spenden. Wir hielten uns im Arm, trocknende Tränen auf den Wangen, und witzelten über den Grund für die plötzliche Versetzung. Eine der ernsteren Überlegungen meiner Mum war, dass der General vielleicht mit einem frischen Rekruten auf der Männertoilette erwischt worden sei, als er dessen Kopf zur Abhärtung und zum eigenen Besten in der Kloschüssel wusch, und man ihn nun unauffällig abschieben wollte. Er war hart und nie zu Kompromissen bereit. Diese Eigenschaft hatte ihm vergleichsweise schnell den Posten eines Generals inklusive zweier Sterne eingebracht – mit siebenundvierzig Jahren war er jetzt nicht unbedingt einer der jüngsten Generäle in der Geschichte der Army, dafür allerdings einer der härtesten – aber vielleicht war es eben gerade auch diese Eigenschaft, die bestimmten Politikern unter der Regierung von Clinton nicht zusagte. Man konnte ihn nicht einfach kündigen, also ließ man ihn verschwinden, in ein kleines, unbedeutendes Nest.

    Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können. Ich stand vor meinen letzten Abschlussprüfungen in der Highschool, hatte mich auf den Sommer gefreut und im Anschluss daran auf das College statt auf die Militärakademie, die meine Mum in wochenlanger Arbeit und mit Engelszungen meinem Vater ausgeredet hatte. Nicht, weil mir lernen so viel Spaß machte – es fiel mir leicht, aber ich war kein Streber – nein, es war hauptsächlich die Aussicht darauf, mein Elternhaus zu verlassen und auf den Campus zu ziehen. Mir ein eigenes Zimmer mit Chad Tassilo zu teilen, meinem besten Freund seit dem ersten Jahr auf der High, ohne die Zwänge einer familiären Militärdiktatur durch meinen Vater. Einfach frei zu sein und mich irgendwann nicht mehr verstecken zu müssen. Diese Idee hatte lediglich einen winzigen, säuerlichen Beigeschmack: Ich wäre dann raus, aber meine Mum müsste allein mit dem General bleiben. Andererseits würde ich früher oder später sowieso unser Heim verlassen und meine Mum hatte ihn mit ihrer passiven Art Widerstand zu leisten, einigermaßen im Griff. Ghandi hätte seine wahre Freude an ihr gehabt.

    Jedenfalls bemühte ich mich um die besten Noten, um meinen Vater gnädig zu stimmen, und war recht erfolgreich damit. Ich hatte mich innerlich sogar schon mit dem technischen Bereich angefreundet, obwohl mir musische Fächer wesentlich besser lagen. Aber mit so etwas hätte ich bei dem General nicht landen können. Wer benötigt schon Poesie in Worten, Tönen oder Bildern im Gefecht? Ein Computerexperte, den man zum Beispiel in Raketentechnik weiterbilden könnte, wäre dort lieber gesehen. Ich tröstete mich mit der Idee, nach einem abgeschlossenen Informatikstudium Mathematik und Kreativität miteinander zu verbinden. Der begnadete Künstler M. C. Escher hatte seinerzeit bewiesen, dass dies möglich ist. Allerdings dachte ich dabei weniger an gezeichnete optische Täuschungen, sondern eher an die Computerspiel- oder Filmindustrie.

    3D-Grafik stand momentan hoch im Kurs und bot einen regelrechten Spielplatz für große Kinder wie mich. Nach dem College und dem Studium – da war ich mir sicher – hätte ich ausreichend Abstand zum General, um mich seinem Einfluss gänzlich zu entziehen und meinen eigenen Weg zu gehen.

    Meine Mum kannte meine unkonformen Pläne und tröstete mich in jener Nacht damit, dass meine Chancen in einem digitalen und zugleich kreativen Job in Kalifornien sowieso besser standen. Dort, so sagte sie, befänden wir uns in der modernsten Künstlermetropole Amerikas überhaupt. Trotz ihrer persönlichen Verluste schaffte sie es, mir die Vorzüge der neuen Umstände klar zu machen. Ich bewunderte sie für ihre Stärke und Anpassungsfähigkeit.

    Die Abschlussfeierlichkeiten an meiner Highschool verliefen mit dem üblichem Prunk, dem Stolz der Eltern derer, die ihr Diplom freudig empfangen durften, der Erleichterung und plötzlichen Kameradschaft der Lehrer, die es fertiggebracht hatten, einen weiteren Jahrgang auf die Menschheit loszulassen und der Ausgelassenheit der Absolventen, die trotz ihrer Ausbildung noch weit davon entfernt waren, zu ahnen, was das schreckliche Leben eines Erwachsenen für sie noch in petto hatte. Dennoch genoss ich die Zeremonie der Zeugnisübergabe, die Ansprache meiner Mitschülerin Lorane Witten, unsere traditionelle Kostümierung und das Hochwerfen unserer quadratischen Kopfbedeckungen, dem Academic Graduation Hat. Und der überschwänglichen Umarmung von Chad, für den ich mehr empfand, als er je in seinem heterosexuellen Leben begreifen würde. Meine Eltern befanden sich unter den zahlreichen Besuchern, meine Mum, elegant aber jugendlich gekleidet wie immer und mein Vater in seiner besten Ausgehuniform. Viele Fotos wurden geschossen, viele Videokameras surrten und freudige Tränen wurden vergossen.

    Obwohl mein Interesse nicht besonders groß gewesen war, hatte ich mich für den Abschlussball zwischen drei Mitschülerinnen entscheiden dürfen. Ich hatte Marcy Stanton gewählt, weil ich ihre schüchterne Art mochte und sie von den dreien die geringste Chance besaß, einen anderen Partner für den Abend zu finden. Wir hatten unseren Spaß, auch, oder gerade weil wir mehr redeten als tanzten. Nach Mitternacht brachte ich sie im Wagen meiner Mum heim – der Militärjeep meines Vaters schien mir unpassend für ein Rendezvous zu sein, selbst, wenn es für mich keines war. Marcy erwartete weder Sex auf dem Rücksitz, noch einen einfachen Abschiedskuss vor der Haustür. Für beides war ich ihr insgeheim dankbar.

    2

    Nur vier Wochen später, im Juni, war es soweit. Unser Haus war leer, riesig und kalt, der Abschied tränenreich und kurz. Eine Militärmaschine brachte uns nach Santa Ana, Kalifornien, von wo aus wir weiter über Landstraßen nach Cape Orchid fuhren. Wir hatten gerade das Ortsschild nach einer langen Fahrt des Schweigens passiert, als sich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigten. Cape Orchid war einer der unzähligen Orte an der Westküste, für den es keine Bezeichnung gab. Er war zu klein für eine Stadt und zu groß für ein Dorf. Ein netter kleiner Ort mit langen Alleen, gepflegten Vorgärten, Grillgeruch, flitzenden Eichhörnchen, radfahrenden Zeitungsjungen und einer Haben-Sie-schon-gehört-Mentalität. Zuviel Platz für Tratsch, zu wenig Platz für mich.

    Unser Haus befand sich im Südwesten der Stadt, in einer Sackgasse, die in einem Wendeplatz endete. Es schien, als hätten sich Architekten aus aller Welt an Cape Orchid versucht, kaum ein Haus glich im Baustil dem Nachbarhaus. Mein Vater parkte den Wagen vor einem Bungalow in mexikanischer Bauweise, direkt vor dem Umzugswagen der Wasco Moving Company, der wie zur Bestätigung der militärischen Korrektheit meines Vaters fast zeitgleich mit uns eingetroffen war. Meine Mum und ich betrachteten das Haus durch die geschlossenen Fensterscheiben unseres Autos wie ein Wissenschaftler ein Versuchstier, welches das Resultat eines missglückten Gen-Experiments war. Derweil erteilte der General den Leuten von Wasco erste Anweisungen.

    „Was meinst du, Julian, ob es uns hier gefallen wird?"

    „Ich weiß nicht, Mum. Ich hoffe es."

    „Ich denke, wir haben sowieso keine andere Wahl. Zumindest sieht das Haus doch ganz nett aus. Stell dir mal vor, dein Vater hätte sich das Nachbarhaus ausgesucht."

    Meine Mum deutete auf die zugewachsene, heruntergekommene Villa im spätgotischen Stil rechts neben unserem Bungalow. Sie fiel durch ihre Architektur komplett aus dem Rahmen. Das Grundstück war als einziges von einer wildwuchernden, mannshohen Hecke umschlossen, während alle anderen Vorgärten typischerweise keine Begrenzungen aufwiesen. Und ja, die Villa wirkte verfallen und leer, aber das war nicht alles. In der strahlenden Mittagsonne glänzte sie in einem Zwielicht, wie man es von den seltenen Tagen kennt, an denen trotz dicker Gewitterwolken ein Paar Sonnenstrahlen den Erdboden erreichen und die Regentropfen wie Quecksilber aussehen lassen.

    „Wäre auch nicht schlimmer. Es hat doch einen gewissen Charme."

    „Das sagst du. Du musst ja auch nicht alle Fenster putzen. Außerdem wirkt es unheimlich."

    „Finde ich nicht. Es wirkt wie, ... wie ..."

    „Wollt ihr hier im Wagen übernachten? Mein Vater hatte die Fahrertür aufgerissen und beugte sich zu uns in das Auto. „Es sieht so aus, als können die Schlappschwänze von Wasco Hilfe gebrauchen. Ich will, dass das Haus bis zu meinem Dienstantritt morgen Früh bewohnbar ist, also los, Jul. Zack-Zack.

    Ich hasste es, wenn er so sprach.

    In einem Film hätten wir jetzt zu dritt auf dem Bürgersteig vor dem Haus gestanden, Vater in der Mitte, Mum und mich im Arm, auf das Haus geblickt und gesagt, wie schön unser neues Heim ist. Stattdessen ging ich zum Möbelwagen, während meine Eltern das Haus allein betraten. Wenigstens gab es einen kleinen Lichtblick, denn einer der beiden Möbelpacker war ein gutaussehender, junger Latino mit Latzhose, hautengem Unterhemd und einem einnehmenden, blendenden Lächeln, das durch seine dunkle Hautfarbe besonders strahlend wirkte. Zwar wusste ich nicht, ob er schwul war, aber selbst wenn, hätte es keinen Unterschied gemacht. Er würde nach erledigtem Auftrag aus Cape Orchid verschwinden und in eine Stadt zurückkehren, die mit ziemlicher Sicherheit größer und besser war als dieses Nest und in der man sich nicht für seine Neigungen verstecken muss.

    Aber er war offen und freundlich, also genoss ich einfach seine Gegenwart und half hauptsächlich ihm beim Entladen und Hereintragen der Möbel, immer darauf bedacht, dass der General nicht misstrauisch wurde.

    Ein erstes Mal ist immer einprägsam, vermutlich sogar für den Rest unseres Lebens. Das gilt nicht nur für den ersten Sex, sondern für jedes einschneidende Erlebnis, abgesehen von der eigenen Geburt, dem ersten gesprochenen Wort und ähnlichen Dingen, die in den frühsten Jahren der Kindheit stattfinden; in einer Zeit, in der unser fast noch leeres Gehirn mit wesentlichen und unwichtigen Ereignissen überflutet wird. Aber ich glaube, jeder erinnert sich an seinen ersten Tag in der Elementary- und der Highschool, an das erste Ferienlager, die erste Zigarette und an viele weitere Anfänge.

    Ich erinnere mich auf jeden Fall an die erste Nacht in unserem neuen Heim. Innerhalb weniger Stunden nach unserer Ankunft sah das Haus wie eine Baustelle aus. Es gab kaum ein Zimmer, in dem nicht Kisten, riesige Plastiktüten oder beschriftete Kartons zwischen den teils unausgerichteten Möbeln herumstanden. Gegen Abend bestellten wir Pizza für meine Mum und mich und einen Salat für den General. Danach ging es weiter mit dem Auspacken und Einräumen, bis mein Vater um kurz vor Mitternacht entschied, dass sich unser neues Haus in einem prinzipiell bewohnbaren Zustand befand. Diese Feststellung bezog sich zwar nicht auf mein Zimmer im ersten Stock, aber ich war zu erschöpft von der Reise und dem Umzug, um in der Nacht noch etwas daran zu ändern. Ich suchte lediglich den Karton mit meinem Bettzeug, bezog die noch auf dem Boden liegende Matratze und legte mich in dem ganzen Durcheinander schlafen.

    Der kleine Bruder des Todes wollte nicht kommen. Unruhig, müde, mürrisch, aber wach, wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Im matten Licht des sichelförmigen Mondes betrachtete ich die verschwommenen dunkelgrauen Umrisse der Einrichtung vor dem schwarzen Hintergrund. Chaos. Dieses Wort beschrieb nicht nur den Zustand meines Zimmers, sondern den meines kompletten Lebens. Gegen meinen Willen arbeitete mein Gehirn auf Hochtouren, fleißig damit beschäftigt, die durch den Umzug entstandenen Verluste durchzugehen. Freunde, Ereignisse, die Sicherheit einer gewohnten Umgebung.

    Es war zu warm, um zu schlafen. Ich stand auf, öffnete mein Fenster, hörte das seit Jahrmillionen anhaltende Geräusch des Meeres, und schloss es wieder. Stattdessen zog ich mein Shirt aus und legte mich wieder hin, ohne mich zuzudecken. Scheiß trockene kalifornische Hitze, scheiß Meer, scheiß Umzug, scheiß Leben.

    Zwanzig Minuten später schlief ich endlich ein.

    Als ich verstört die Augen öffnete, war es noch immer dunkel. Etwas hatte mich geweckt, aber es war nicht der seltsame Traum gewesen, dessen Fragmente sich bereits auflösten. Etwas von einem gefährlichen Jugendlichen in meinem Alter, der versucht hatte, mich umzubringen, und von einstürzenden Häuserfassaden.

    Ich lag mit dem Gesicht zur Wand und lauschte. Eine neue Umgebung bringt neue Laute mit sich. Jedes Haus besitzt seine persönlichen Geräusche und ist ständig am arbeiten; wie ein Lebewesen. Trotzdem war ich mir sicher, dass es keine knarrende Diele, keine angesprungene Klimaanlage und kein Knacken im Gebälk war, das mich wach gemacht hatte. Auch keine Waschbären an den Mülltonnen oder Ratten in den Wänden. Überhaupt kein Geräusch.

    Es war das beängstigende Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Dieses unerklärliche Prickeln auf der Haut, wenn man still und heimlich angestarrt wird. Dieser Eindruck verstärkte sich mit jeder Sekunde, bis seine erdrückende Last so groß wurde, dass ich es nicht mehr aushielt. Ich wirbelte herum, sah Schatten und Dunkelheit und tastete hektisch nach dem Lichtschalter der kleinen Nachttischlampe, die neben der Matratze auf dem Fußboden stand. Das Licht verscheuchte die Finsternis und präsentierte lediglich Kartons und Möbel, kein stummes, glotzendes Wesen, keine Monster, keine Einbrecher. Ich war allein.

    Trotzdem verschwand der Eindruck beobachtet zu werden nicht sofort. Ich hielt meinen Atem an und lauschte angestrengt. Erfolglos.

    „Hallo?", flüsterte ich. Der Klang meiner Stimme in dieser Ruhe war beängstigender, als sie selbst. Ich bekam keine Antwort. Nach ein paar Minuten legte ich mich wieder hin, zog die Decke bis zum Kinn und ließ die Lampe brennen. Sollte der General am nächsten Morgen in mein Zimmer kommen und ich noch nicht wach sein, würde er mir entweder einen Vortrag über das Stromsparen halten, oder darüber, dass ich ein unglaublicher Hasenfuß sei. Wahrscheinlich würde er sogar beide geschickt kombinieren. Es war mir im Moment egal.

    Dieses Mal brauchte ich etwas länger, bis ich wieder schlief.

    3

    Unser Frühstück verlief geordnet und relativ stumm, wie so viele zuvor. Die neue Umgebung änderte gar nichts daran. Nachdem der General zu Ende gegessen und sein Besteck akkurat mit der Rückseite nach oben auf den leeren Teller gelegt hatte, nahm er einen kräftigen Schluck aus seiner zweiten Tasse Earl Grey.

    „Ich habe beschlossen, dass du an den Brückenkursen am College teilnimmst, sagte er plötzlich mit unverschämter Gleichgültigkeit. Bevor ich auch nur den Ansatz eines Einwandes erheben konnte, fuhr er fort. „Du bist ein guter Schüler, das ist mir klar. Aber wir befinden uns jetzt in einem anderen Staat und wissen nicht, wie hoch hier die Messlatte hängt. Außerdem kannst du auf diese Art bessere soziale Kontakte knüpfen.

    Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Es war ihm nicht genug, meine Zukunft zu erschweren, in dem er meine Vergangenheit einfach abgeschnitten hatte, nein, er musste mir auch noch akkurat gemeißelte Steine auf meinen gegenwärtigen Weg legen. Meine sozialen Kontakte sollten sich nicht auf die Menschen beschränken, mit denen ich sowieso ein Drittel des Tages der nächsten Jahre verbringen würde. Ich wollte das Beste aus meiner Situation machen und den Sommer dazu nutzen, meine aufgezwungene neue Umgebung frei zu erkunden.

    „Das sind doch alles lernschwache Schüler, die diese Kurse besuchen, konterte ich. „Und Halbkriminelle. Das ist bestimmt kein vorteilhafter Umgang.

    Das war klischeehaft und entsprach nicht unbedingt der Wahrheit, aber es war meine einzige Verteidigung. Ein flüchtiger Blick zu meiner Mum verriet mir, dass der General sie nicht eingeweiht hatte. Sie sah ebenfalls überrascht aus. Trotzdem reagierte sie sofort.

    „Ich glaube nicht, dass Julian das nötig hat. Du kennst seine Noten, Ernest. Lass ihm doch den Sommer, um sich an unsere neue Umgebung zu gewöhnen."

    „Das ist mir durchaus bewusst. Ich möchte auch nicht, dass er Kontakte zu diesen Verlierern aufnimmt. Aber auf diese Art kann

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