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Frauenplan - Denk nicht, du kommst davon ...
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Frauenplan - Denk nicht, du kommst davon ...
eBook460 Seiten6 Stunden

Frauenplan - Denk nicht, du kommst davon ...

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Über dieses E-Book

Was als harmonisches Wochenende der Schwestern Alex und Nadja geplant war, endet mit einem Verbrechen. Keine Polizei, das steht bald fest und ist nicht verhandelbar. Das war es dann? Ist passiert. Augen zu. Alles hinter sich lassen. Und der Täter bleibt unerkannt? Und kommt davon? Nein, finden Alex, Moni, Magdalena, Betty, Janine und Nadin. So nicht! Nicht mit uns. Denn wir haben schon einen Plan … Der Krimi erzählt von Frauen, die mit einer plötzlichen Bewährungssituation konfrontiert werden und beschließen, sich ihr zu stellen. Sie begeben sich entschlossen auf Tätersuche, finden Verbündete, schließen Freundschaften und beweisen Ausdauer, Einfallsreichtum und Witz.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Dez. 2018
ISBN9783746957142
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    Buchvorschau

    Frauenplan - Denk nicht, du kommst davon ... - Helga Dreher

    KAPITEL 1

    Noch zwanzig Minuten bis nach Hause! Doreen Meier stellte das Navigationsgerät ab und konzentrierte sich wieder auf die Straße. Kurz nach zehn, nicht schlecht für die lange Tour von ihrem Urlaubsort an der dänischen Ostseeküste. Das Ortsausgangsschild des Dorfes Großobringen war auf der linken Seite vorbeigehuscht und sie fuhren wieder durch ein Waldstück. Ungünstig, dass sie noch kurz vor dem Ziel eine längere Umleitung nehmen mussten, also würden sie über Ettersburg und den Buchenwaldabzweig nach Weimar hineinfahren. Ihr Ehemann Marco auf dem Beifahrersitz tippte etwas in sein Smartphone und die Jungen in ihren Kindersitzen hinter ihr verhielten sich ruhig.

    Bis jetzt.

    „Ich muss mal, ich muss mal!, krähte es von links hinten. Bill, ihr jüngerer Sohn, schaffte es, wie insgeheim befürchtet, doch nicht bis nach Hause. „Und Leo muss auch mal raus! Das war Kinderschwindel, denn ihr Leonberger mit dem passenden Namen Leo (Schnapsidee, aber die Kinder mussten wieder ihren Willen bekommen) hatte bisher auf seiner Decke im abgetrennten Kofferraum ihres Kombis leicht schnarchend geschlafen. „Ich auch!" Ben, Bills um vier Jahre älterer Bruder und gerade zehn geworden, schien nun auch aus dem Schlaf erwacht und bedürftig zu sein.

    „Also, wenn ich es bedenke …, vernahm sie Marco neben sich, „so ein kurzer Auslauf wäre für Leo nicht schlecht, dann kann er sich zu Hause gleich auf seine Decke legen und wir können in Ruhe auspacken. Doreen seufzte. Konfirmandenblasen, meinte ihre Oma immer.

    Sie verlangsamte die Fahrt und schaute mit halbem Auge nach rechts. Irgendwo hier müsste der kleine Waldparkplatz kommen, den sie immer zum Wandern in den Buchenwäldern auf dem Ettersberg benutzten. Ah, da war er schon. Sie bog ein und registrierte erstaunt, dass bereits zwei Autos hier parkten, ein Kleinwagen und ein dunkler großer, eher Oberklasse, hintereinander am linken Rand des freien Platzes und unbeleuchtet. Um diese Zeit? Da musste man jetzt strategisch parken, wer weiß, was die Passagiere gerade taten. Pilze sammeln wohl nicht.

    Doreen lenkte das Auto so weit wie möglich an den rechten Rand und hielt kurz vor der Barriere, die die Weiterfahrt auf dem angrenzenden Betonweg verhinderte. Marco stieg aus und half den Jungen aus den Gurten. Doreen sah, dass beide auf den Sitzen herumkramten, dann rannten sie über den Plattenweg in den Wald, jeder in eine andere Richtung und einem hell leuchtenden Taschenlampenstrahl nach. Auch Marco hatte seine geliebte Markenstableuchte gegriffen, öffnete die Heckklappe und ließ den inzwischen heftig bellenden Leo hinaus.

    „Marco, ehrlich, wie soll denn das mit der Taschenlampe in einer Hand …", Doreen hielt inne. Sie hatte im dänischen Urlaub, mit ihrem Mann als Freizeitkoch und den Jungen ständig im Sand, erstens drei Romane gelesen und zweitens ihr ehefrauliches beziehungsweise mütterliches Verhalten in letzter Zeit reflektiert und war zu einem Schluss gekommen. Immer aufpassen, immer kritisieren, immer befehlen – immer Stress – das brachte nichts. Sie würde von jetzt an versuchen, eine gelassene und tolerante Person zu sein und sich strenge Ansagen für würdige Anlässe aufheben. Solch ein Anlass war das hier nicht. Einzige Folge dieser Aktion könnte sein, dass nachher zwei Hosen vor der Waschmaschine lägen. Oder drei. Und vielleicht waren die Taschenlampen ja heutzutage schon wasserdicht.

    Sie ließ das Standlicht an, damit sie zurückfänden.

    Leo bellte laut und wild, offenbar war er tiefer in den Wald hineingerannt, denn die Kinder riefen laut nach ihm. Dann schrie auch Marco: „Leo! Verdammt, Leo! Hierher!"

    Doreen war ausgestiegen und vertrat sich hinter dem Auto die Füße. Ah, blöd, jetzt musste sie auch mal. Wo jetzt? Was soll’s. Sie löschte das Standlicht und hockte sich hin.

    Wenig später hörte sie auf der anderen Seite des Parkplatzes Äste knacken. Sie stand erschrocken auf und sah hinüber auf die andere Seite. Ein Mann kam aus dem Wald gelaufen, eher hastig als vorsichtig bei der Dunkelheit. Noch ein Konfirmand, vermutete sie. Er schien im Laufen an sich herumzunesteln, so, wie sie das nicht selten an Männern beobachten musste, die von der Toilette kamen. Unschöne Angewohnheit, fand sie. Der Mann sah sich nicht um, sondern rannte zu den Autos und blieb vor der Fahrertür des hinteren, größeren, stehen. Offenbar suchte er nach seinem Autoschlüssel. Jetzt hörte sie das Geräusch der sich öffnenden Schlösser und sah gleichzeitig die Beleuchtung kurz blinken. Ah, einer von hier, mit Weimarer Nummer. Als der Mann die Fahrertür öffnete und sich in den erleuchteten Innenraum setzte, kam er ihr irgendwie bekannt vor. Er setzte abrupt zurück, fuhr mit viel Gas in weitem Bogen um den vor ihm stehenden Kleinwagen herum und wirbelte dabei herumliegenden Splitt auf. Ein Steinchen traf ihr Auto. Idiot, dachte sie und nahm sich vor, die Fahrerseite morgen bei Tageslicht genau zu besehen.

    Jetzt kamen auch die Taschenlampenstrahlen zurück. Billy hatte sich wohl etwas verlaufen, denn er stolperte hinter dem kleinen Auto aus dem Wald.

    „Mami, Mami, wir wollen jetzt endlich nach Hause!" Doreen schüttelte nochmals den Kopf, sammelte ihre drei Männer ein und öffnete die Heckklappe für den Hund.

    „Leo? fragte sie. „Marco, wo ist Leo?

    Leo war nicht zu sehen, aber zu hören. Er bellte laut und anhaltend, möglicherweise hatte er im Wald ein Tier aufgestöbert.

    „Leo! Hier!" Marco pfiff laut und der Hund kam, noch immer mit Gebell, aus dem Wald gesprungen. Doreen scheuchte ihn in den Kofferraum, setzte sich ans Steuer und fuhr zurück auf die Landstraße. Ganz kurz überlegte sie, wer wohl das kleine Auto dort abgestellt haben mochte. Nachsehen? Dann fiel ihr Blick auf die Uhr. Fast dreiviertel elf. Sehr gut, dann könnten sie spätestens um Mitternacht alle im Bett sein.

    Alex Widmann fuhr an diesem Karfreitagabend aus Hannover in Richtung Weimar. Auf der A 4 war sie auch auf ihrem letzten Streckenabschnitt gut vorangekommen und hatte eben das Kreuz Erfurt passiert. Jetzt konnte nicht mehr viel passieren und sie würde vor zehn Uhr bei Nadja in der Thomas-Müntzer-Straße sein. Eigentlich hatte sie Nadja gewarnt, dass es Mitternacht werden könnte, bevor sie in Weimar ankäme, aber dann hatte ein Kunde seinen Nachmittagstermin absagen müssen. Das passte ihr gut, nun würde sie viel früher in Weimar sein können. Sollte sie Nadja noch einmal anrufen? Sie verwarf den Gedanken, die Schwester würde doch nichts dagegen haben, wenn sie, Alex, zwei Stunden früher vor der Tür stand.

    Alex sah dem Wochenende mit ihrer Schwester, nun gut, eigentlich Halbschwester, mit gemischten Gefühlen entgegen. Ihr letzter Versuch eines harmonischen Zusammenseins mit Nadja hatte in einem lautstarken Streit mit anschließenden Drohungen (Nie wieder Urlaub mit dir! – Werde erwachsen! – Du kannst mich mal! – Du mich erst recht!) ein unschwesterliches Ende gefunden.

    Alex erinnerte sich nur ungern an den Ausgang dieses ersten und einzigen gemeinsamen Sommerurlaubs mit Nadja. Alles hatte noch gut angefangen: Nadja fand, sie könne doch mit ihrer großen Schwester, die damals an einer privaten Mädchenschule in King’s Lynn im Osten von England arbeitete, den Sommer verbringen. Das passte ihr, Nadja, insofern gut, als sie für ihr Lehramtsstudium Englisch noch etwas Sprachpraxis benötigte. So ein Sommer am Meer in englischer Atmosphäre müsste doch etwas bringen, und so konnte sie sich unter Umständen ein Auslandsstudienjahr sparen und würde ihren Freund Patrick nicht unnötig verärgern. Denn dieser hatte ihr angedeutet, dass seine Liebe zu ihr bei längerer Abwesenheit in Gefahr geriete zu erkalten.

    Alex war seit einem halben Jahr in England. Eine eigene Wohnung besaß sie nicht in King’s Lynn – sie sah die Arbeit in der Schule als Übergangslösung an. Nach Abschluss ihres Studiums wollte sie eigentlich nur wieder einmal für längere Zeit in die englische Sprache eintauchen. Alex hatte Anglistik und Germanistik in Leipzig studiert. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte sie allerdings nach dem Abitur ein Jahr als Assistenzlehrerin in Bath im Westen Englands gearbeitet und nach dem zweiten Studienjahr ein Semester an der dortigen Universität eingeschoben. Zwar war sie von Papa Grischa, was das Finanzielle betraf, jeweils komfortabel unterstützt worden. Trotzdem hatte sich Alex immer Jobs gesucht, um Freunde zu finden und sprachsicherer zu werden.

    Nun gut, hatte sie vor den Ferien gedacht, was immer sich Nadja versprach von drei Wochen in England, sie war erwachsen und würde wissen, was sie tat. In ihrem Zimmer im Internat der Schule in King’s Lynn durfte Alex niemanden wohnen lassen. Also hatte sie ein Ferienhaus in der Nähe von Cromer gemietet, ein altes Natursteinhaus mit Küche, einem Schlafzimmer und einem gemütlichen Wohnraum mit Kamin.

    Anfang Juli schien alles bereit für einen erholsamen Feriensommer – bis zu dem Augenblick, als ein Auto mit deutscher Nummer vor dem Ferienhaus hielt und Alex ihren Augen und Ohren nicht trauen wollte. Denn nicht Nadjas kleiner Corsa stand da in der Einfahrt, sondern ein tiefergelegtes BMW-Cabrio mit affig-breiten Reifen, viel Chrom rundherum und Lautsprechern, die Heavy Metal in die Dorfstraße dröhnten. Heraus stieg ein Kerl mit spiegelnder Sonnenbrille, kräftig bemuskelt und tätowiert. Hinter ihm sprang ein Riesenhund von der Rückbank und zum Schluss, zugegeben etwas verlegen lächelnd, Schwester Nadja. Und der Ärger begann.

    Dass ihr Patrick, denn der musste es wohl sein, mit einem lauten „Überraschung!" entgegenkam, sie enger als nötig umarmte, obwohl sie sich noch nie gesehen hatten, und stolz auf den Hund zeigte (Das ist Mad Max, der sieht gefährlich aus, beißt aber nur auf Zuruf, haha.), war Schritt eins in Richtung Urlaubsdesaster. Dass ihr Nadja mit falschfröhlicher Stimme mitteilte, dass Patrick einfach nicht drei Wochen ohne sie sein wollte, was doch eigentlich ganz süß sei, war Schritt zwei. Und als die beiden das Haus besichtigten, es etwas klein aber akzeptabel fanden, ihre Sachen sofort ins Schlafzimmer trugen und auf das einzige Doppelbett des Hauses warfen, platzte Alex der Kragen.

    Erstens, sagte sie mit möglichst fester Stimme, gibt es hier nur ein Schlafzimmer. (Aber Alex, da findet sich doch sicher eine Art Klappbett?), zweitens sind Haustiere laut Mietvertrag nicht erlaubt (Also, gegen Mad Max kann doch keiner was haben, guck mal, wie lieb der schaut!) und drittens: Hätte ich nicht wissen sollen, dass ihr zu dritt kommt?

    Alex erinnerte sich noch gut an die erste Urlaubswoche. Das kleine Cottage musste storniert werden, und zwar kostenpflichtig. Sie hatte ein anderes Haus mieten müssen, in einer Ferienanlage (Dogs welcome, und so ging es dort auch zu.) mit billigen Holzhäusern und allabendlichen lauten Biergelagen. Patrick wollte jeden Tag zum Strand fahren und dort von morgens bis abends in der Sonne liegen, und Nadja leistete ihm Gesellschaft. Alex blieb mit ihrer hellen Haut lieber im Schatten, der allerdings in der staubigen Feriensiedlung knapp war.

    Am vierten Tag war Schluss mit dem strahlenden Sommer und das englische Wetter übernahm. Nebel, Regen, Wind. Wanderschuhe und Regensachen hatten die beiden zwar mit, aber drinnen war es einfach trockener, fanden sie. Der Hund tobte draußen herum und stank dann im Wohnraum vor sich hin. Alex und Nadja machten es sich trotzdem gemütlich und lasen bzw. versuchten zu lesen, denn Patrick ließ den Fernseher stundenlang und lautstark laufen.

    Alex hatte sich vorgenommen, die drei Wochen auszuhalten, schließlich war Nadja ihre Schwester und sie sahen sich selten. Dazu kam es nicht. Als Nadja kurz im Dorf einkaufen war, fühlte sich Alex von hinten umarmt und begrapscht. „Du willst das doch auch, flüsterte ihr Patrick ins Ohr und atmete ihr seine Bierfahne an den Hals. Alex kämpfte sich frei und gab ihm eine Ohrfeige. Mad Max begann zu grollen, Patrick nuschelte: „Verklemmte Kuh und verschwand im Schlafzimmer. Als Nadja mit dem Einkauf zurückkam, hatte er gepackt und bereits alles im Auto verstaut. Alex sagte nichts zu dem Vorfall, sprudelte aber ihren geballten Frust über diese unmögliche Urlaubskonstellation über ihre Schwester. Unschöne Sätze fielen, bevor das Cabrio samt Hund und Pärchen davonrauschte.

    Inzwischen war Patrick Geschichte, man hatte sich austelefoniert und zu zwei Geburtstagen der Eltern auch getroffen. Jetzt hatte Nadja Alex über Ostern eingeladen, es gäbe reichlich Anlass für einen schwesterlichen Besuch. Seit August hatte Nadja einen festen Arbeitsvertrag mit dem Schulamt und eine Stelle im Weimarer Goethe-Gymnasium. Sie war endlich aus ihrer WG in eine eigene Wohnung gezogen, die sie angeblich bereits mit Möbeln bestückt hatte. Auf den Ausgang dieser Aktion war Alex ebenso gespannt wie auf einen gewissen Caspar, dessen Name in den vergangenen Wochen häufig telefonische Erwähnung gefunden hatte. Alex wollte fair sein, schließlich konnte man Nadja diesen Patrick nicht ewig anlasten.

    Beide Schwestern hatten am Telefon schon tüchtig Pläne für die drei Tage gemacht: ausgiebig frühstücken, durch die Schillerstraße bummeln, irgendwo gut essen gehen, durch den Park wandern, in einer der Galerien vorbeischauen, vielleicht abends ins Kino und danach einen kleinen Kneipenbummel, und, und … Alex musste lächeln, nie würden sie das alles schaffen, aber vor allem wollten sie sich viel erzählen – von sich, von ihren Freunden, der Arbeit, den Sorgen und Freuden. Inwieweit besagter Caspar einen Auftritt bekäme, blieb abzuwarten. Ganz gewiss aber würden sie ein wenig über ihre exzentrische Mutter herziehen, die mit Nadjas Vater, Alex’ geliebtem Stiefvater Grigorij, auf Mallorca wohnte.

    Jetzt hatte sie die Raststätte Eichelborn passiert und musste zusehen, dass sie die Abfahrt Nohra nicht verpasste. Alex’ Familiengeschichte war eng mit dem wenige Kilometer westlich von Weimar gelegenen kleinen Ort verbunden und irgendwie fühlte sie sich verpflichtet, Nohra bei ihrer Fahrt nach Weimar nicht ganz links liegen zu lassen. Sie hörte Papa Grischa buchstäblich beim nächsten Telefonat fragen: Und, mein Mädelchen, du bist vorbeigekommen in Nohra, ja? Erzähl, wie sieht es aus? Steht noch etwas? Ist alles weg? Vergessen? Natürlich wusste er alles auch von Nadja, die ja in Weimar wohnte. Aber mit seiner Stieftochter Alexandra konnte er sich viel länger über die alten Zeiten unterhalten. Sie hatte ihn schon immer ausgefragt, wie alles war. Sie konnte sich stundenlang mit ihm die alten schwarz-weißen Fotos mit den Zackenrändern anschauen, legte dann ihren Arm um seine Schultern und drückte ihn. Sie verstand, dass er das alles nicht einfach beiseitelegen konnte in seinem neuen Leben.

    Jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, machte Alex keinen Abstecher an die alten Orte. Es war viertel vor zehn und sie wollte nicht zu spät bei ihrer Schwester ankommen. Auf der Erfurter Straße musste sie vor der Bahnschranke noch kurz warten, um den Triebwagen der Bahn nach Bad Berka und Kranichfeld durchfahren zu lassen. Sie erinnerte sich gern an die langen Radtouren auf dem Ilmtalradweg mit ihrer Familie, an deren Ende die Fahrt mit der Bahn zurück nach Weimar immer eine beruhigende Alternative zur ermüdenden Rückfahrt auf den Rädern gewesen war.

    Die zwei ungleichen Schwestern, das hatte sie noch aus ihrer Kindheit im Ohr. Da war die kleine Nadja, ein schönes blondes Kind, das man einfach gernhaben musste und das von allen geliebt werden wollte. Nadja machte alles richtig, hielt Ordnung in ihrem Zimmer und ihren Schulsachen, erledigte ihre Hausaufgaben pünktlich, verärgerte die Lehrer nicht und brachte beste Zeugnisse nach Hause. Ihr Freundeskreis in der Schule war groß, und auch Erwachsenen konnte sie charmant begegnen. Sie legte früh Wert auf schicke Sachen und bekam sie dann auch von den Eltern.

    Dagegen musste sie, Alex, notgedrungen als ein Gegenentwurf daherkommen. In der Schule galt sie als nervig, hatte immer wieder einmal etwas einzuwenden, machte sogar Vorschläge, wie man dieses oder jenes im Unterricht anders behandeln könnte, ignorierte manche Aufgaben, kurzum: Lehrers Liebling war sie nicht. Sie hatte rötliche Haare und eine blasse Haut mit gefühlten tausend Sommersprossen. Ihr Äußeres behandelte sie praktisch, kurzer Haarschnitt, Jeans, T-Shirt, Anorak. Mit 14 wuchs sie noch einmal kräftig, spielte Volleyball im Verein und lief Halbmarathon. Sie schminkte sich nicht und ging nicht zur Disco. Stattdessen schien sie unentwegt zu lesen. Während ihre Mutter sie als hoffnungslosen Mädchenfall ansah, joggte Papa Grischa mit ihr, sie schauten zusammen Fußball, er fuhr sie zu den Volleyballspielen und drückte ihr die Daumen. Dass sie Sprachen studieren wollte, überraschte die Familie, aber Alex traute ihrem technischen Verständnis nicht so recht und ihren mathematischen Fähigkeiten noch weniger.

    Vorbei, dachte Alex, jetzt sind wir erwachsen und die Karten werden neu gemischt. Die nächste Ampel stand auf Rot und sie konnte sich kurz orientieren. Ah ja, sie hatte sich richtig eingeordnet; jetzt rechts in die Trierer Straße einbiegen, dann wieder rechts in die Lisztstraße und links in die Thomas-Müntzer, so hatte es Nadja am Telefon sicherheitshalber noch einmal erklärt. (Vielleicht sollte sie sich doch endlich ein Navi anschaffen?) Sie schaute auf die Uhr, kurz vor zehn. Nadja würde wohl schon beim zweiten Glas Rotwein sein.

    Alex fand das Haus ohne Probleme – ein großes Gründerzeithaus in einer Straßenzeile ähnlicher Gebäude aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Sie wollte an den Klingelschildern gerade Nadjas Namen suchen, als sich die Tür öffnete und ein Mann fast mit ihr kollidierte. „Verzeihung", riefen beide fast gleichzeitig. Der Mann, ein ziemlich großer Typ in ihrem Alter, hielt die Haustür geöffnet, bis sie ihren Rollkoffer in den Hausflur gezogen hatte. Mit der winzigsten Andeutung eines Lächelns verschwand er nach draußen in die Dunkelheit.

    Alex wusste, dass Nadja im zweiten Stock wohnte und griff nach dem Koffer. Oben fand sie das Klingelschild und läutete erwartungsvoll.

    KAPITEL 2

    Keine Reaktion. Vielleicht hatte Nadja ja den Fernseher an. Obwohl, aus der Wohnung kam kein Geräusch. Sie läutete noch einmal und dann Sturm. Nichts.

    Alex setzte sich auf die Treppe und suchte ihr Telefon im Rucksack. Sie wählte Nadjas Festnetznummer und hörte es in der Wohnung klingeln. Niemand öffnete. Dann wählte sie Nadjas Handynummer. Diesmal blieb es still hinter der Tür. Alex wusste, dass ihre Schwester ihr Handy immer bei sich hatte – also war Nadja tatsächlich nicht in ihrer Wohnung. Aber warum nicht? Hatte sie, Alex, irgendetwas verwechselt? Den Tag? Das Wochenende etwa? Unmöglich, sie hatten doch noch vor zwei Tagen miteinander gesprochen, Nadja hatte die Wegbeschreibung durchgegeben und sie hatten sich über das warme Frühlingswetter gefreut.

    Alex stand auf und drückte, nun schon etwas verzweifelt, noch einmal lange auf die Klingel. Jetzt öffnete sich die Tür zur Nebenwohnung und eine Frau – dunkelhaarig, mittleres Alter – schaute sie fragend an.

    „Ah, guten Abend, Sie sind sicher Nadjas Schwester?"

    „Ja, aber sie ist offensichtlich nicht zuhause, sagte Alex und hob ratlos die Schultern. „Ich habe mehrmals geklingelt, angerufen, auch ihr Handy … Allerdings, unterbrach sie sich, „wollte ich auch erst gegen Mitternacht ankommen, ich bin also echt zu früh."

    „Na, das wird sich klären. Auf jeden Fall werden Sie freudig erwartet. Nadja hat sich gestern von mir ein Rezept geholt und danach wie wild eingekauft. Heute Abend ist sie allerdings noch einmal weggefahren. Ihre Großmutter wollte wohl von irgendwo abgeholt werden. Sie müsste allerdings längst zurück sein. Die Frau schaute Alex für einen Moment prüfend an, sagte dann aber in bestimmtem Ton: „Auf der Treppe lässt sich das jetzt nicht lösen. Am besten, Sie kommen erst einmal herein zu mir, dann überlegen wir gemeinsam, was wir da tun können, ja? Ich bin Monika John. Sie reichte Alex die Hand.

    „Alexandra Widmann. Ja, danke, aber …" Alex griff zögernd nach der Hand der Nachbarin und schaute kurz auf ihre Armbanduhr. Da hatte die Nachbarin schon den Koffer ergriffen und die Tür weit geöffnet. Frau John ging voran, durch einen geräumigen Flur in eines der angrenzenden Zimmer. Alex fand sich in einem Raum, der offensichtlich ein kombiniertes Wohn- und Arbeitszimmer war, mit Schreibtisch und Computer unter einem der Fenster. Den Rest des Zimmers nahmen Bücherregale und bequeme Sitzmöbel ein. Zwischen Sofa und Sessel stand ein flacher Tisch auf einem sehr weichen Teppich. Eine Zeitung lag aufgeschlagen auf dem Tisch und eine Teetasse verriet, dass die Nachbarin wohl allein war.

    Wenig später saßen sich Alex und Monika John gegenüber. Frau John hatte frischen Tee gekocht und ein Brett mit Butter, Käse und Baguettescheiben vor Alex auf den Tisch gestellt. Alex aß alles auf und sah entschuldigend zu Monika John.

    „Tut mir leid, aber ich war richtig hungrig."

    „Dazu war das Essen da. Nachschlag?"

    „Danke, ich glaube, ich bin jetzt schön satt."

    Während sie aß, hatte Alex Monika John unauffällig angeschaut. Sie schätzte Nadjas Nachbarin auf Anfang oder Mitte fünfzig, so im Alter ihrer Mutter. Ihr Gegenüber hatte das dunkle Haar aufgesteckt, war sorgfältig geschminkt und trug bequeme Hosen und einen leichten Wollpullover mit großzügigem Ausschnitt. Eine attraktive Frau, dachte Alex. Sie erinnerte sich, dass Nadja eine nette Nachbarin erwähnt hatte und musste zugeben, dass sie sich unter netter Nachbarin irgendetwas Älteres vorgestellt hatte, wenn schon nicht mit Kittelschürze, dann definitiv mütterlich. Ah, die Stereotype unseres Lebens, dachte sie.

    Alex kam mit Monika John schnell ins Gespräch. Sie erfuhr, dass Frau John in Weimar ein Lokal führte, das „Grüne Bistro" in der Schillerstraße.

    „Wow, in der Schillerstraße? Das ist ja in bester Lage!"

    Ja, das sei es, und es liefe auch sehr gut. Sie bemühten sich, viele der Gerichte oder Snacks auf der Speisekarte mit Bioprodukten zuzubereiten, Kaffee und Tee seien Fair Trade und die Kunden würdigten es. Nun ja, viele der Stammkunden zumindest. Und dann wanderten ja täglich mehrere Hundert Touristen nach anstrengenden Touren durch die klassischen Stätten die Schillerstraße entlang und liefen ihr und ihrem Team geradewegs in die Arme, sozusagen. Ihr Team? Ja, das seien sie, ihr Sohn Sven und dessen Frau Loretta. Sven sei für die Küche verantwortlich, sie und Loretta für alles andere. Ein echtes Familienunternehmen eben. Ob man sich verstünde? Meistens sehr gut, sie hätten alle drei schon andere Dinge gemacht und wären hier im Bistro zur Ruhe gekommen. Das mit der Ruhe wäre allerdings ein endlicher Zustand, ein Enkelkind sei im Anmarsch, lang ersehnt und mit Freude erwartet. Im Herbst sei es soweit, sie suchten schon die notwendige Verstärkung. Ob sie Lust hätte?

    Alex sah, dass es als Scherz gemeint war und lachte. „Oh nein, das wäre wohl nichts für mich. Mein Daumen geriete unweigerlich in die Suppe!"

    Was sie, Alex, fürs tägliche Brot täte?

    „Also, hm … ich bin Ghostwriter."

    Monika John schien weniger überrascht, als Alex erwartet hatte. Vermutlich hatte ihre Schwester schon geplaudert. Und Alex möge doch erzählen, welcherart Geister sie beschriebe.

    Alex erzählte. Von Wissenschaftlern, die die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit partout nicht in die richtigen Worte fassen konnten. Von Firmen, die ihre Geschäftsberichte gern fehlerfrei zu Papier gebracht hätten. Von halbwegs bekannten Künstlern, Musikern, Schauspielern und so weiter, die einfach nicht mehr länger warten konnten, um der Menschheit ihre Lebensgeschichte mitzuteilen. Frau John habe doch vielleicht schon Bücher gesehen mit Titeln wie „Von ganz unten nach ganz oben oder „Mein Weg zum Wasweißich oder etwas in der Art? Dann gebe es noch die mittelständischen Unternehmer, die kurz vor der Firmenübergabe an die nächste Generation noch gern eine richtig schöne Erfolgsgeschichte zwischen zwei Buchdeckeln gedruckt sähen, und vor dem Druck käme ja das Schreiben, das könne man zwar auch noch selbst, aber die Zeit, die Zeit …

    „Sie bringen mich auf eine Idee! Monika John lachte lauthals. „Wenn ich an unsere Jahre im Busbahnhofskiosk denke, also Dinge könnte ich da erzählen … will sagen erzählen lassen!

    „Busbahnhofskiosk? Ich dachte, Sie haben ein Bistro?, fragte Alex. Monika John hob die Augen zur Decke, lächelte und sagte: „Ah, der Busbahnhofskiosk – der gehört zu meinem früheren Leben, aber das ist eine andere Geschichte …

    „Na, dann fangen Sie schon mal bald mit den Notizen an, das Gedächtnis ist ein unzuverlässiges und dann auch noch trügerisches Ding. Da könnte ich Ihnen Beispiele nennen." Und Alex erzählte von ihrer größten Klientel, den Rentnern.

    „Heutzutage reicht es nicht mehr, wenn Opa die Familienfotos ins Album klebt und Oma die Namen und Daten darunterschreibt. Das war einmal!"

    „Ach ja, und jetzt?"

    „Jetzt muss es die Lifestory sein, voll aus dem Computer, gern auch bebildert und gescannt – die alten schwarz-weißen Fotos, meine ich … Nur, eine Geschichte braucht es zwischen den Bildern, und die muss halt jemand schreiben. Allerdings, Alex wurde etwas ernster, „habe ich auch ältere Menschen kennengelernt, die das Erlebte sehr gut aufgeschrieben hatten. Und was für Dinge da erzählt werden – unglaublich. Eigentlich …, sie hielt kurz inne und fuhr dann fort, „eigentlich schreiben sie Geschichtsbücher. Sie erzählen Geschichte aus sehr persönlicher Sicht. Und oftmals kommen sie zum ersten Mal in ihrem Leben dazu, das Erlebte zu bedenken, im eigentlichen Wortsinn. Sie beginnen beim Schreiben oder Erzählen ihre damaligen Gedanken, Haltungen und Handlungen zu reflektieren, wie man auf Neudeutsch sagt. Ich habe bisweilen das Gefühl, das geht nicht ohne Schmerzen ab. Sie hielt inne und gab ihrer Stimme wieder einen leichteren Ton. „Manchmal brauchen sie mich dann nur, um das Ganze ein wenig zu strukturieren und in Form zu bringen.

    „Ich finde das sehr interessant … Und davon können Sie leben?"

    „Eigentlich ja. Reich werde ich nicht, aber ich mache es auch nicht für ’n Appel und ’n Ei. Billig wird das für meine Klienten nicht. Aber dafür eben gut – denke ich jedenfalls. Und mal ehrlich: Für den Rentner und den Fernsehstar arbeite ich am Ende mit der gleichen Sorgfalt. Das Honorar allerdings unterscheidet sich."

    Wie auf Verabredung schauten Alex und Monika John auf die Uhr.

    Alex hatte bereits während des Gesprächs begonnen, sich Sorgen zu machen – Nadja war verlässlich und überpünktlich, das hatte sie von ihrem Vater. Margrit, ihre Mutter, behandelte Dinge wie Zeit und Raum eher kreativ, und dieses Erbe war ungerecht anteilig an Alex gefallen.

    Dann fiel ihr ein: „Wenn Nadja zu Oma Edith nach Berlstedt gefahren ist, müsste sie dort ja zu erreichen sein."

    „Aber ja, und das wird sie sicher auch!" Monika John nickte und zeigte auf ihr Telefon.

    „Danke, aber die Nummer ist auf meinem Handy gespeichert." Alex suchte die Nummer und wählte. Der Ruf ging lange ab, ohne dass jemand hörte. Komisch, Oma Edith würde doch abnehmen. Dann dachte Alex an Omas Fernseher mit dem angeschlossenen Kopfhörer – wenn Oma jetzt einen Krimi schaute, was ihre Leidenschaft war, könnte sie das Klingeln überhören. Aber Nadja war doch da! Alex wählte Nadjas Handynummer noch einmal. Der Ruf ging hin. Nadja nahm nicht ab.

    „Am besten, ich schicke erst einmal eine SMS", sagte sie etwas ratlos zu Monika John. Die nickte und schien inzwischen ebenfalls nachdenklich. Alex schickte einen kurzen Text an Nadjas Nummer und legte das Handy neben sich auf das Sofa. Sie unterhielt sich noch eine Weile mit Monika John, schaute aber immer wieder auf ihr schweigendes Handy.

    „Was kann ich denn jetzt tun? Ob ich mit dem Auto zu Oma fahre? Sie schaute auf die Uhr. „Halb zwölf ist es inzwischen. Da ist Oma möglicherweise längst im Bett.

    „Und würde sich auch noch Sorgen machen, und das am Ende vermutlich genauso grundlos wie wir, sagte Monika John. „Trotzdem stimmt hier irgendetwas nicht. Ihre Schwester ist doch sonst absolut verlässlich, ja sogar fast penibel, was Zeiten und Verabredungen betrifft. Wir waren einige Male zusammen im Kino, auch mal zu einem Vortrag, da stand sie immer auf die Minute auf der Matte, wenn nicht …

    „Auf die Sekunde!, lachte Alex. „Das hat sie von Papa. Der musste sein Leben lang nach der Uhr funktionieren, da ist es ihm wohl gleich in die Gene gefahren. Alex hielt inne – das war jetzt nicht die Zeit für Small Talk. Auf dem Handy keine SMS. Noch einmal wählte sie Nadjas Nummer. Nichts. Sie spürte, wie sich etwas in ihrer Brust verengte. Sie hatte Angst.

    Zögernd fragte sie Monika John: „Polizei? Die Krankenhäuser?"

    Monika John setzte sich zu ihr auf das Sofa. „Alexandra, wir sind doch hier nicht im Krimi. Das wird sich alles als Missverständnis herausstellen, eine fehlgegangene SMS oder ein leerer Handy-Akku. Sie sah Alex aufmunternd an. „Wissen Sie was?, fuhr sie fort, „wir fahren einfach mit dem Auto die kurze Strecke bis Berlstedt ab. Viel länger als zwanzig Minuten brauchen wir da nicht. Vielleicht hängt Nadja ja hinter irgendeiner Unfallstelle fest – Gott behüte, nicht die eigene – oder sie hat eine Panne oder was auch immer. Dann sehen wir einfach weiter. Einverstanden?" Alex nickte.

    Monika John stand auf. „Fahren Sie, Alexandra? – Gut, ich hole nur eine Jacke und eine Taschenlampe. Sie hielt kurz inne. „Ich darf doch Alexandra sagen? Ich bin Moni für fast alle, und für Sie jetzt auch. Ach, und das mit dem Siezen lassen wir besser auch gleich sein, einverstanden? Also, Alexandra, Papiere, Handy, Autoschlüssel, Jacke. Auf geht’s.

    Sie fuhren schweigend durch die Stadt auf die Ettersburger Straße und bergan Richtung Buchenwald, dann vorbei am Obelisken, von dem die Straße zur Gedenkstätte für das ehemalige Konzentrationslager abbog. Es herrschte wenig Verkehr, so dass Alex oft mit aufgeblendeten Scheinwerfern fahren konnte. Moni schaute aufmerksam nach beiden Seiten, doch die Bäume des Laubwaldes standen dicht und dunkel, wenn der Strahl des Scheinwerfers vorüber war. Alex fuhr vorbei am Abzweig Ettersbergsiedlung, der Straße zum Dorf Ettersburg und durchquerte den kleinen Ort Ramsla. Hier war an diesem Karfreitagabend niemand auf der Straße zu sehen. Jetzt waren es nur noch wenige Kilometer bis Berlstedt. Die Strecke war Alex von unzähligen Besuchen bei den Großeltern vertraut. Nur von Nadja oder ihrem himmelblauen Corsa war nichts zu sehen. Alex sah kurz zu Moni hinüber, die noch immer und offensichtlich zunehmend ratlos den Kopf nach rechts und links drehte.

    Nach dem Tod von Opa Heinz, erzählte sie Moni, wohnte die Großmutter allein und, rüstig wie sie war, bereitete das bisher keine Probleme. Manchmal rief sie Nadja an, wenn es etwas Dringendes zu besorgen gab oder sie eine Beförderung irgendwohin oder -her brauchte. Oma Ediths Freundinnenkreis war groß und erstreckte sich auf die Nachbardörfer bis nach Weimar. Dort hatte Edith Widmann früher als Kindergärtnerin gearbeitet.

    Alex fand Oma Ediths Haus, das letzte am südlichen Ortsrand, fast schon in Ottmannshausen. Es lag ein wenig versteckt hinter einer hohen Hecke und war von Büschen und Nadelbäumen umgeben. Alles war dunkel. Alex und Moni sahen fast gleichzeitig auf ihre Armbanduhren: kurz vor halb zwölf.

    Sie stiegen aus und gingen leise bis zum Gartentor und von dort am Zaun entlang um das kleine Haus herum. Nirgends war ein Lichtschein zu sehen und es war sehr still – so still, wie es sich Alex nur auf dem Land und am Dorfrand vorstellen konnte. Nach einer Umrundung standen sie wieder vor dem niedrigen Tor.

    „Was jetzt?", flüsterte Alex. Moni fasste sie leicht am Arm und wies zum Auto. Sie öffneten die Türen so geräuschlos wie möglich und setzten sich hinein.

    „Wir können da jetzt nicht klingeln, meinte Moni. „Wir müssten eurer Oma beunruhigende Fragen stellen. Und dann …

    „Droht bei älteren Leuten ja gleich etwas Gesundheitliches – Oma nimmt, wenn ich mich recht erinnere, täglich eine mehrfarbige Sammlung Pillen, seufzte Alex und schüttelte den Kopf. „Das wäre jetzt doch ungünstig.

    „Zumal weder von Nadja noch vom Corsa etwas zu sehen ist, ergänzte Moni. „Ruf sie am besten noch einmal an, vielleicht nimmt sie jetzt ab und alles klärt sich auf.

    Alex wählte. Wieder keine Antwort. Sie sah auf das Display. Keine SMS. Dann hob sie die Schultern und startete das Auto. Sie fuhren schweigend durch den Ort zurück. Eine Katze überquerte die Straße, ansonsten war auch hier alles menschenleer.

    Zurück durch Ramsla, die Landstraße entlang in Richtung Weimar, dann wieder durch den Wald hinauf zum Abzweig mit dem Obelisken.

    Moni drehte sich plötzlich um und schaute zurück auf die dunkle Straße. „Stopp, Alex!", rief sie. „Dort hinter uns, so hundert Meter

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