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Der Legat (Projekt Stellar Buch 6): LitRPG-Serie
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eBook521 Seiten9 Stunden

Der Legat (Projekt Stellar Buch 6): LitRPG-Serie

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Über dieses E-Book

"Hiermit ergeht folgender Befehl:
- Verbindung der Militär-Orbitale entsprechend des Himmelsangriffsplans.
- Start eines synchronisierten Angriffs auf den Schwarzen Mond, sobald dieser in Reichweite kommt.
- Völlige Entleerung der Absolute-Reaktoren sämtlicher Raketen zur Sicherstellung des Vernichtungsvorgangs."

Als Grey mit einer Armee neuer Verbündeter zurückkehrte, war die Legion besiegt. Viele Inkarnatoren hatten den Heldentod erlitten, und die Stadt stand kurz vor der völligen Zerstörung. Tausende von Seelen, die noch immer im Würfel gefangen waren, versuchten, sich aus ihrem extradimensionalen Gefängnis zu befreien, während der Stern vom Himmel aus tatenlos zusah.

Aber die wahre Gefahr stellen weder die A-Monster, die Shivas noch die Besessenen dar. Vielmehr ist es derjenige, der Projekt Stellar einst ins Leben rief – und der nun sein wahres Gesicht enthüllt und die Existenz aller Inkarnatoren bedroht.
SpracheDeutsch
HerausgeberMagic Dome Books
Erscheinungsdatum23. Dez. 2022
ISBN9788076198814
Der Legat (Projekt Stellar Buch 6): LitRPG-Serie

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    Buchvorschau

    Der Legat (Projekt Stellar Buch 6) - Roman Prokofiev

    Einschub: Hexe

    ES WURDE BEREITS HELL, als Tyrea »Hexe« Mun die Mauer von Prometheus erklommen hatte.

    Die Einheiten der Legion waren gezwungen gewesen, ihren Beobachtungsstützpunkt nach dem Kampf hastig aufzugeben. Die Überreste der Schlacht waren überall zu sehen: dunkle Blutflecken auf den Pflastersteinen, Leichen inmitten der zerstörten, rauchenden Ausrüstung.

    Die Truppen der Besessenen waren im Rücken der Stadtverteidiger gelandet. Dadurch und dank ihres blitzschnellen Vorrückens hatten sie es geschafft, die gigantischen Befestigungsanlagen im Nullkommanichts zu erobern. Die Flugtruppen der Bina Shea hatten beim Kampf während der letzten Nacht eine entscheidende Rolle gespielt, indem sie mehrere Vorstöße wagten und die Luftunterstützung der Stadt blockierten.

    Der Angriff hatte die Legionäre aus heiterem Himmel getroffen, die nach dem achtundvierzig Stunden andauernden Ringen mit Tausenden von Krabbenskorpionen ohnehin schon völlig ausgelaugt waren. Die Verteidigung der Stadt wurde an mehreren Stellen durchbrochen, woraufhin sie zusammenbrach und die überlebenden Legionäre sich aus letzter Kraft in Sicherheit bringen und verhindern konnten, vollkommen eingekesselt zu werden.

    Hexe war außerordentlich enttäuscht, dass es den Inkarnatoren der Legion, die den Rückzug der Kämpfer gedeckt hatten, gelungen war, die komplette Auslöschung der Stadttruppen zu verhindern. Trotz ihrer immensen Bemühungen hatte sie sie dennoch unterschätzt. Der Angriff war zwar überraschend erfolgt und die Angreifer hatten ihre taktische Überlegenheit ausnutzen können, doch die Legionäre hatten erbittert, wild und brutal gekämpft. Es war so gut wie niemand in Gefangenschaft geraten, und die Verluste der Angreifer waren sehr viel höher als erwartet, insbesondere unter den Einheiten der Bina Shea.

    Aber es herrschte Krieg. Der Sieger bekam alles.

    Sie hörte die Stimmen der Männer weiter unten, die sich lautstark unterhielten und die Leichen aufschichteten, wobei sie ihnen jegliche Wertgegenstände abnahmen. Hin und wieder erfolgten noch Gnadenschüsse, die wie Echos des fernen Geschützfeuers jenseits des Horizonts klangen.

    Von hier aus konnte man die Stadt schon sehen. Die schützende Kuppel wurde von blassblauen Blitzen überzogen und ließ die glänzenden Umrisse der Supertürme darunter erkennen.

    Sie kniff erbost die Augen zusammen. Die ehemalige Legatin der Ersten Legion und legendäre Verzauberin war nun eine Besessene, die man auch die Mondhexe nannte. Beim Anblick der Doppelnadeln, die den Nadelturm bildeten und die fast schon über der Megapole zu schweben schienen, loderte der unüberwindbare bittere Hass abermals in ihr auf.

    Es war eine Ewigkeit her, dass sie die Stadt zum letzten Mal mit eigenen Augen gesehen hatte. Nun wurde es Zeit, dass sie an den Ort zurückkehrte, den sie einst als ihr Zuhause betrachtet hatte.

    Zudem wurde es höchste Zeit, dass sie Gerechtigkeit walten ließ.

    Ihr vom Rock-Genom verbessertes Sehvermögen erlaubte es ihr, selbst aus dieser Entfernung die kleinsten Details auszumachen, so wie Raubvögel aus höchster Höhe eine weit unter ihnen durchs Gras huschende Maus erkennen konnten. Sie sah die gefrorenen Kolosse toter Scyllas, die rauchenden schwarzen Krater und das Geschützfeuer an der verbliebenen Sektion der letzten Mauer, die noch von den Legionären gehalten wurde. Die Stadt schöpfte ihre restlichen Ressourcen aus in dem Versuch, die Woge an A-Monstern zu vernichten, die sich aus den Tiefen des Ozeans erhob.

    Ihr blieb nur noch, den letzten Schlag auszuführen.

    Ihre Streitmacht war dreimal so groß wie die der Stadt: die Insektoiden der Bina Shea, die Abtrünnigen, die Kampfgruppen der Besessenen sowie eine ganze Horde Zeloten. Ihnen konnten nur zwei Probleme zu schaffen machen: der Mangel an Koordination und ihr gegenseitiger Abscheu voreinander.

    Genau darum musste sie sich kümmern, denn wie hieß es doch so schön: Der Feind meines Feindes...

    Wie als Antwort auf ihre Gedanken machte sich eine neue Präsenz in ihrer Psi-Wahrnehmung bemerkbar. Mächtig und boshaft schien diese Person aus dem Nichts aufzutauchen und eine seltsame Azur-Technik einzusetzen, die sie an uralte Magie erinnerte.

    Sie wirbelte herum und wich instinktiv einen Schritt zurück. Zwar hatte sie keine Ahnung gehabt, welcher Zelot als ihr Vertreter auserwählt wurde, doch nun stand vor ihr die einzige Person, die sie auf gar keinen Fall sehen wollte.

    Die Leere unter dem langen blauen Kopfputz schien nichts als Hass und Boshaftigkeit auszustrahlen. Falls er jemals ein normaler Inka gewesen war, so hatte er seine menschliche Gestalt schon vor sehr langer Zeit aufgegeben. Sein Anblick erinnerte sie an den Grund, aus dem so viele Inkarnatoren vor den höheren Evolutionen zurückschreckten. Bei Kriegern bedeuteten sie einige irreversible Körperveränderungen, während Technomanten zu mechanischen Abscheulichkeiten wurden und Verzauberer ihre entsetzliche azurische Natur enthüllten.

    Umgeben in eine Nebelwolke blieb der Mann einige Schritte von ihr entfernt stehen.

    Hexe spürte, wie ihre Wimpern und Augenlider zu Eis wurden, als die bitterkalte Aura ihre Haut versengte. Die seltene Quelle dieses Mannes und seine mächtigen Azur-Genomods hatten ihn in eine wahrhaftige Verkörperung des Elements Eis verwandelt.

    Erschrocken aktivierte sie Höherer Metabolismus, um ihre Körperfunktionen zu beschleunigen und seinen Angriff abzuwehren. Den Gerüchten zufolge hatte dieser besondere Inkarnator keine Geduld für seinesgleichen, die seine Nähe nicht ertragen konnten, und betrachtete sie als Schwächlinge, die seiner Aufmerksamkeit nicht wert waren.

    »Hexe«, sagte er mental, und seine subvokale Aussprache fühlte sich in ihrem Verstand wie verrosteter Stahl auf Glas an.

    »Aeneas.«

    In der Vergangenheit waren nicht alle Inkarnatoren bereit gewesen, sich der Ersten Legion anzuschließen. Prometheus’ besondere Strategie war vielleicht fragwürdig, aber nichtsdestotrotz effektiv gewesen. Auf diese Weise waren die Stadt-Inkas zur stärksten aller Gruppen geworden und hatten den mächtigsten Staat der Erde erschaffen.

    Doch selbst vor dem Eintreffen der Besessenen hatten sich innerhalb der Reihen der Inkas zahlreiche Verstoßene, Außenseiter und all jene, die ihre Unabhängigkeit behalten wollten, wiedergefunden. Viele von ihnen waren abgehauen und untergetaucht, abgeschnitten von den Terminals und ohne Zugriff auf das Stellar-System.

    Nach vielen Jahren des Umherstreifens durch das Ödland, des Erkundens von A-Zonen und des Sammelns aller Arten unglaublicher Genome hatten sich die überlebenden verstoßenen Inkas schnell entwickelt. Einige wenige verloren im Verlauf ihrer Entwicklung den Verstand und ihre menschliche Gestalt und wurden zum Grund für neue Alarme. Zwar waren die Reihen der Überlebenden aufgrund von Prometheus’ Säuberungsaktionen ausgedünnt worden, doch die Verbliebenen verfügten über immense Macht und einen wahrhaft diabolischen Verstand.

    Der wahre Name dieses Mannes schien im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten zu sein. Heute kannte man ihn unter diversen Bezeichnungen und Spitznamen: Aeneas, Frost, Eisig oder der Fürst des Eises waren nur einige davon. Zu Prometheus’ Zeit hätte der Würfel auf ihn gewartet, doch der grausame und gerissene Verstoßene war nie in die Hände der Stadt geraten. Nach allem, was Hexe in Erfahrung gebracht hatte, war er früher einer von Lefties Assistenten im Kult der Schwarzen Rose gewesen, dessen Nest bei Castors Angriff zerstört worden war.

    Es hatte Zeiten gegeben, zu denen sie Jagd auf andere Verstoßene gemacht hatte, doch die Zeiten hatten sich geändert. Heute waren dies die einzigen Verbündeten, die sich die Besessenen noch leisten konnten.

    Aeneas wurde als einer der Anführer des Zelotenkults angesehen. Anscheinend gab es noch andere, die ihre Namen und Identitäten jedoch geheim hielten und von denen einige tief innerhalb der A-Zonen inmitten der Fanatiker lebten, während andere als Tempelwachen von Urgentum eingesetzt wurden; wiederum andere hatten sich offenbar den Reihen der Bastler, der angeheuerten Kopfgeldjäger, versteckt. Nun versammelten sie sich alle hier wie ein Schwarm Aasgeier, angezogen von den Reichtümern der Stadt und in der Hoffnung, etwas von dem sagenhaften Loot abzubekommen.

    Zuvor war es Leftie gewesen, der alle Verbindungen dieser verworrenen Kette zusammenzufügen und ihre kombinierten Bemühungen zu koordinieren vermochte. Aber jetzt war Leftie fort, spurlos verschwunden — und sie würde selbst herausfinden müssen, was sie von den Zeloten zu erwarten hatte.

    »Ich bin jetzt hier«, sagte Aeneas. »Was willst du?«

    »Die Stadt.« Sie deutete auf die hoch aufragenden Wolkenkratzer, die sich unter der Kuppel drängten. »Wir sind fast da. Und wir haben ein gemeinsames Ziel. Wenn wir diese Schlacht gewinnen wollen, müssen wir zusammenarbeiten.«

    Aeneas trat näher und hinterließ eine sichtbare Spur aus Raureif hinter sich. Trotz des gemäßigten Klimas verwandelte sich alles um sie herum rasend schnell zu Eis und wurde von einer dicken Frostschicht überzogen.

    Die wütenden kristallisierten Sterne seiner Psi-Aura setzten ihr zu und bedrängten ihre Wahrnehmung. Selbst ihre kürzlich erfolgte Auseinandersetzung mit Prometheus’ jüngster Inkarnation hatte sich nicht derart schmerzhaft und furchterregend gestaltet.

    »Glaubst du allen Ernstes, wir würden deine Befehle befolgen, Puppe?«

    Ihr Blut geriet in Wallung, als sie diese uralte herablassende Anrede hörte. Diese Beleidigung für jede Frau deutete an, dass sie nichts als ein hirnloses Weibchen wäre.

    Es war noch nie leicht gewesen, sich mit den Zeloten abzugeben. Diese Azur-Fanatiker lebten schon immer in ihrer eigenen Welt. Sie hassten und verabscheuten die Stadt-Inkas und die Besessenen gleichermaßen und zogen es vor, nur kurze, temporäre Allianzen zu schließen. Wieso begriff Aeneas nicht, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als zusammenzuarbeiten?

    Hexe riss sich zusammen und entgegnete mit fester Stimme: »Nein, ich will nicht, dass ihr meine Befehle befolgt. Wir sollten uns schlichtweg einigen. Warum kommt ihr nicht in die Stadt? Wieso mussten wir uns hier treffen? Was hat Leftie euch versprochen?«

    »Das will ich zuerst von dir hören.«

    »Unser Ziel ist allseits bekannt!« Sie warf stolz den Kopf in den Nacken. »Wir wollen Stellar! Und Rache! Wir wollen die Verräter aus der Stadt tot sehen.«

    »Aber die Shea. Ihr habt die Shea hergebracht. Haben sie einen Mittelsmann?«

    »Das geht euch nichts an.«

    Als würde er ihre Unhöflichkeit gar nicht zur Kenntnis nehmen, wandte sich der Eis-Verzauberer den Bina Shea in der Ferne zu, deren silbrig-blaue Umrisse aussahen wie steinerne Gargoylen, die an den Zinnen der Mauer erstarrt waren.

    »Das ist ein neuer Schwarm«, stellte er fest. »Er ist nicht vollständig. Sie brauchen den Nukleus. Sind sie deshalb hergekommen?«

    »Das ist unwichtig. Sie stehen unter unserer Kontrolle«, erwiderte Hexe eisig. »Was sie für ihre Hilfe erhalten, geht euch nichts an.«

    Der Zelot war sichtlich unzufrieden mit ihrer Antwort. Hexe erschauderte bei dem verzweifelten Versuch, die immense Kälte, die ihren Hals umfing, abzuwehren. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Aeneas im Verlauf der Verhandlungen aggressiv werden könnte — erst recht nicht im Herzen der Armee der Besessenen.

    Dennoch ging er das Risiko ein. Innerhalb dieser ersten Sekunden ihres mentalen Duells, das für jeden ahnungslosen Beobachter unsichtbar verlief, gelang es ihm, sie zu brechen, zu blockieren und zu einem langsamen Tod zu zwingen.

    Hexe erstarrte, stand regungslos da und konnte keinen Finger mehr bewegen und nicht einmal atmen. Das musste das Phänomen sein, das als kryonische Stasis bekannt war und bei dem sich sämtliche Körperflüssigkeiten des Opfers augenblicklich zu Eis verwandelten.

    Entsetzt merkte Hexe, dass sie dem nichts entgegensetzen konnte. Aeneas hatte ihren Wirtskörper soeben in eine leblose Eisstatue verwandelt und sie darin eingesperrt. Sie konnte sich nicht einmal mehr reinkarnieren, da er ihre Umbra längst mit seinen gefrorenen Krallen aus ihrem Leib gerissen und in einen Klumpen aus kristallisiertem Eis eingesperrt hatte.

    »Uns geht alles etwas an, Tyrea Mun. Hast du das verstanden?«

    Sie konnte nicht einmal schreien.

    Einige Sekunden lang musterte Aeneas die in dem gefrorenen Kristall gefangenen sich schlängelnden schwarzen Venen, als wüsste er nicht, was er mit ihr anstellen sollte. Zu guter Letzt berührte er das Gebilde mit einem fleischlosen Finger.

    Ein greller Funke bohrte sich in den Kristall.

    Die Folter schien überhaupt kein Ende zu nehmen, dabei hatte sie gerade mal einen Sekundenbruchteil gedauert. Lautlos schreiend wand sich Hexe in krampfhafter Agonie. Das Azur des Funken drang in ihre Enyo ein und peinigte die Essenz ihrer Inkarnatorennatur.

    Dann ließ der Schmerz nach. Sie befand sich erneut in ihrem toten Wirtskörper.

    Reinkarnation.

    Ihr stehen gebliebenes Herz schlug wieder. Ihr Blut, das zu einem eisigen Matsch erstarrt war, setzte seinen üblichen Kreislauf fort. Die Nadeln, die sich in ihre Lunge bohrten, waren verschwunden. Sie konnte wieder sprechen.

    Dennoch blieb sein eisiger Griff um ihre Kehle bestehen. Er spielte mit ihr, hielt sie an der Schwelle zwischen Leben und Tod, nur um seine Macht zu demonstrieren.

    Wie konnte er es wagen? Nun gut, dann würde sie es ihm eben mit gleicher Münze heimzahlen!

    »Denk nicht mal daran«, warnte Aeneas sie.

    Mehr Schmerz durchzuckte sie, als eine neue Eisladung ihr Herz durchbohrte, derart qualvoll und mächtig, dass sie aufkeuchte und sich instinktiv an die Brust fasste. Der grelle Funke war noch immer dort und verharrte in ihrer Umbra wie ein Dorn, bereit, sie jeden Moment in Stücke zu reißen.

    »Was hast du mit mir gemacht?«, stieß sie keuchend hervor.

    »Das bezeichnet man als Eissplitter. Mein persönliches Brandmal.« In Aeneas’ Stimme schwang eine Spur von Selbstgefälligkeit mit. »Solltest du dich je gegen mich wenden, dann stirbst du. Wenn du versuchst, ihn zu entfernen, ist das ebenfalls dein Tod. Und solltest du jemals meine Befehle missachten, ist das dein Ende. Hast du dämliche Puppe allen Ernstes geglaubt, du könntest uns vorschreiben, was wir zu tun und zu lassen haben?«

    »Ganz und gar nicht. Ich...«

    »Halt den Mund! Niemand hat dir die Erlaubnis gegeben, etwas zu sagen. Du gehörst jetzt mir. Du wirst tun, was ich sage — oder du beißt ins Gras.«

    Dieser Mistkerl! Sie hatte schon von solchen Methoden gehört und auch einige der Opfer gesehen — allerdings hätte sie nie gedacht, dass sie eines Tages das Ziel eines derartigen Angriffs werden könnte. Es war ein großer Fehler gewesen, seinem Wunsch nach einem Treffen unter vier Augen zuzustimmen und ihm zu gestatten, sich ihr zu nähern.

    Sie nahm ihre letzte Kraft zusammen und versuchte, sich zu wehren, nur um sofort die Sinnlosigkeit ihres Unterfangens zu erkennen. Aufgrund der azurischen Art des Splitters war Aeneas die einzige Person, die ihn wieder entfernen konnte, solange er lebte. Ihre Optionen stellten sich daher denkbar einfach da: Entweder sie gehorchte ihm oder sie starb.

    »Diese Lektion wirst du dummes Püppchen nie mehr vergessen«, fuhr Aeneas fort. »Wir sind durchaus dazu in der Lage, die Stadt zu betreten und uns zu nehmen, was immer wir wollen. Und jetzt wirst du meine Fragen beantworten oder sterben. Haben die Shea einen Mittelsmann?«

    »Ja«, stieß sie keuchend hervor und schluckte ihren Stolz herunter.

    Diesen Kampf hatte sie wie eine blutige Anfängerin verloren. Jetzt musste sie dafür sorgen, dass sie nicht auch noch ihr Leben verlor. Aeneas konnte sie ebenso leicht zerbrechen, wie sie es mit einem normalen Menschen vermochte. Wie viele Evolutionen hatte er durchlaufen, um eine derart unfassbare Macht zu erlangen — vier oder sogar fünf?

    »Wer ist es? Wo sind sie?«

    Nachdem er seine Antwort erhalten hatte, nickte Aeneas zufrieden und fuhr fort. Nun sprach er mit der ruhigen Stimme eines Sklavenhalters, der Befehle erteilte.

    »Hör mir jetzt genau zu. Es gibt drei Hindernisse, die wir überwinden müssen, um in die Stadt zu gelangen. Das erste ist der Titan. Du wirst ihn mit deinem Raumschiff angreifen.«

    »Das ist unmöglich. Die Rächer ist weg.«

    Aeneas schlug ihr ins Gesicht — nicht körperlich, sondern diesmal mental –, wodurch sie auf die Knie fiel. In der rechten Gesichtshälfte hatte sie augenblicklich jegliches Gefühl verloren. Hexe starrte sein eisiges Erscheinungsbild an, während ein fünffingriger Abdruck wie eine chemische Verbrennung auf ihrer Haut prangte.

    »Dadurch wirst du mich nie mehr vergessen, Puppe!«, stieß Aeneas zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Was für ein Haufen Verlierer. Schwach. Armselig. Wo ist dein Schiff?«

    »Das wissen wir nicht. Zack ist mit einigen unserer Leute weggeflogen.«

    »In diesem Fall muss es der Stern regeln. Die Startrampe. Ich will, dass ihr die Startrampe angreift und blockiert. Bist du mutig und fähig genug, um das hinzukriegen?«

    Das war genau das, was sie im Verlauf der Verhandlungen vorschlagen wollte. Die Startrampe im All war einer der strategisch wichtigsten Punkte der Stadt — der Orbitalfahrstuhl und der einzige Versorgungshub, über den sie mit dem Stern verbunden war. Sobald man sie blockierte, wären die Cosmo zu Verhandlungen gezwungen.

    Offen gesagt bezweifelte Hexe stark, dass es der Stern wagen würde, Orbitalschläge innerhalb der Stadtgrenzen durchzuführen. Die tektonische Kriegsführung war dafür viel zu destruktiv. Dennoch mussten sie sicherstellen, dass so etwas nicht passierte, schlichtweg weil man nie wissen konnte, auf welche Ideen verzweifelte Personen kamen.

    »So«, fuhr Aeneas fort. »Der Titan. Der Stern. Und der dritte Schlüssel zur Stadt... Du weißt selbstverständlich, wo sich der Würfel befindet, nicht wahr?«

    »Er ist vor menschlichen Augen verborgen. Die einzige Person, die den genauen Standort kennt, ist ihr Hüter«, murmelte Hexe.

    Wieder einmal durchloderte entsetzlicher Schmerz ihre Quelle, sodass sie sich krümmte und an den kalten Steinen der Mauer festklammern musste. Ihr neuer Herr empfand diese Antwort offensichtlich nicht als zufriedenstellend.

    »Möglicherweise muss ich dich doch töten«, meinte Aeneas nonchalant. »Du bist sogar noch nutzloser, als ich erwartet hatte.«

    Das war sein voller Ernst. Tief in ihrer Umbra entwickelte der Splitter langsam neue Ausläufer und machte sich bereit, sie von innen heraus zu zerreißen.

    »Nein! Nein, warte... Ich weiß vielleicht nicht, wo der Würfel ist, aber... aber ich kenne jemanden, der das weiß!« Hexe stöhnte und nahm ihre letzte Kraft zusammen.

    Noch vor fünf Minuten hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie mal um ihr Leben flehen, sich vor Schmerz winden und zu Füßen des reglos dastehenden Aeneas gegen das Eis ankämpfen würde. Für sie hatte der Tod immer wie die bessere Wahl ausgesehen. Sie hatte sich nie davor gefürchtet, auf die andere Seite des Randes zu wechseln, doch jetzt, wo sie im wahrsten Sinne des Wortes direkt vor der Stadt stand und der ersehnte Sieg und die Rache bereits in Reichweite waren, kam ihr das Kriechen in die Sicherheit des Todes wie etwas völlig Absurdes vor.

    Auf einmal wurde ihr klar und deutlich bewusst, dass sie sich gar nicht aus eigenem Willen an ihr Leben klammerte. Die stolze Tyrea Mun, die legendäre Legatin der Ersten Legion, die sie einst gewesen war, wäre lieber gestorben, als zu einer fügsamen Marionette zu werden. Doch die Mondhexe, die sie heute war — die Besessene, die von der Dunkelheit geführt wurde — zog das Überleben um jeden Preis vor.

    »Das ist deine letzte Chance, Puppe«, erklärte Aeneas. »Mir ist völlig egal, wie du es machst, aber du wirst es herausfinden. Ansonsten ist das dein Tod. Hast du verstanden?«

    »Ja. Ja, das habe ich«, brachte sie mühsam hervor und versuchte vergeblich, sich auf alle viere aufzurappeln. »Ich werde es herausfinden.«

    »Gut. Ich bin sehr froh, dass wir uns einig werden konnten.« Aeneas schnaubte. »Du wirst später genauere Anweisungen erhalten. Was ist? Hast du noch Fragen?«

    »Nur eine«, antwortete sie keuchend und schaffte es endlich, aus der Position einer sich übergebenden Katze in eine etwas aufrechtere Haltung überzugehen. »Weißt du, was aus Leftie geworden ist?«

    »Das kannst du ihn auch selbst fragen, Puppe.«

    1

    ES HATTE NOCH NICHT EINMAL angefangen zu dämmern, als ich hinausging, um jene zu treffen, die meinem Ruf gefolgt waren.

    Sie waren die ersten Vorboten unserer Armee, wenn man die riesigen Kampf-Rocks und die Flotte aus Heliflugzeugen, die nur wenige Stunden gebraucht hatten, um mehrere hundert Arktis-Soldaten ins Nest zu befördern, denn so bezeichnen konnte.

    Auf der Landeplattform wimmelte es von bewaffneten Einheiten. Allein der Anblick dieses militärischen Chaos mit klappernden Rüstungen, summenden Propellern und flatternden Flügeln munterte mich auf. Wenn all diese Freiwilligen aus einem einzigen Clan hergekommen waren, dann hatten wir vielleicht eine Chance auf den Sieg.

    »Grey!«

    Zwei Individuen, die ich nur zu gut kannte, traten aus der Menge hervor. Ich erkannte Eds schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und Aces runde, bärtige Visage.

    Die beiden hatte ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen! Zuletzt waren wir uns bei der Befreiung des Timus begegnet.

    In ihren Späheranzügen — deren Modifikationen ich nicht erkannte — und mit den Suvorovgewehren über der Schulter wirkten die beiden ehemaligen Tribute wie erfahrene Krieger. Ace, der noch immer ein Muskelprotz war, schleppte einen schweren Raketenwerfer und einen Sack voller Munition mit sich.

    »Grey! Du bist es wirklich, Mann! Oh, Verzeihung, Senior-Zenturio Grey, Sir! Ave!« Ed nahm Haltung an und salutierte auf Legionsart.

    »Lass den Rang aus dem Spiel, Ed.« Ich umarmte erst ihn und danach auch Ace herzlich. »Ihr habt also beschlossen, uns zu begleiten?«

    »Was dachtest du denn, Mann?«, donnerte Ace. »Du rufst uns, also kommen wir! Und wir haben die anderen mitgebracht! Wir oder niemand!«

    Wir oder niemand war das uralte Motto der Wolfsköpfe, Rakshas legendärer Zweiter Kohorte, die im Laufe der Geschichte die meisten Tribute der nördlichen Clans erhalten hatte. Ace sprach die Worte aus, ohne darüber nachzudenken, was für die tiefe Verbindung zwischen seinem Clan und der Legion sprach. Dieses Band war in jeglicher Hinsicht mit Blut geschmiedet worden.

    »Danke, Freunde. Wie ist die Stimmung im Clan?«

    »Sie haben uns deine Rede vorgespielt. Und du hast absolut recht. Zwei meiner Brüder sind bei der Legion, genau wie Aces Schwester. So ist das bei allen, wie du ja genau weißt. Unsere Leute werden kämpfen. Und vielen Dank für den Eid...«

    Ich tippte ihm freundschaftlich gegen das offene Visier. Wieder einmal zog sich mein Brustkorb derart zusammen, dass ich keinen Ton mehr herausbrachte.

    Diese jungen Leute setzten ihr Vertrauen in mich; sie schlossen sich mir an und hatten viele andere mitgebracht. Ich durfte einfach nicht zulassen, dass sie umkamen...

    Da ritten die Eliteeinheiten der Clans auf den legendären Weißen Wölfen Fenrirs an uns vorbei. Diese riesigen Tiere reichten selbst dem größten Mann bis zur Schulter und verließen gelassen in Zweierreihen die Tiefen der kampferprobten Drachen-Flugzeuge, wobei sich schwarze Lederharnische auf ihrem weißen Fell abzeichneten. Auf jedem Wolf saß ein Soldat in voller Kampfmontur. Mein Interface identifizierte sie als Morphs der Bina-Klasse — doch anders als die Cyberwarge der Abtrünnigen sahen diese Wölfe beeindruckend aus und waren wohlproportioniert.

    Eine junge Frau sprang vom Rücken eines Wolfs. Sie war groß, gut gebaut und bei bester Gesundheit. Ihr Gesicht wirkte noch sehr jung, und unter ihrer mit Pelz ummantelten Haube quoll goldenes Haar hervor.

    Zaghaft trat sie vor mich und fragte verunsichert: »Grey?«

    Ihre Stimme klang hell und laut. Zwar hatte ich sie noch nie zuvor gehört, dennoch erkannte ich sie sogleich wieder. Ich hatte sie in der Vergangenheit genau ein einziges Mal gesehen: auf dem Bild im alten Vox, das ich von Sven Greyholm geerbt hatte. Vor mir stand Ellyn Greyholm, Svens Halbschwester, die dieselbe Mutter hatte wie er.

    »Ich dachte einfach...« Sie stockte, fuhr dann jedoch fort. »Du bist es also wirklich — der Inkarnator, der den Körper meines Bruders übernommen hat? Der neue Prometheus?«

    »Nein«, widersprach ich. »Ich bin Grey. Mein Name ist jetzt Grey.«

    »Das war Svens Codename...«

    »Das weiß ich. Ich habe ihn übernommen, um seiner zu Gedenken. Zu jener Zeit wusste ich nicht, wer er oder ich war, und ich bin auch nicht schuld an seinem Tod.«

    »Du bist anders. Auch wenn du Svens Gesicht hast, wirkt es ebenfalls verändert«, stellte sie nachdenklich fest. Plötzlich wirbelte sie herum. »Vater!«

    »Ooh.« Ace fiel die Kinnlade herunter, als ein Reiter auf einem riesigen weißen Wolf auf uns zukam. Lautlos zog er sich zurück, während der weitaus diplomatischere Ed längst mit der Menge verschmolzen war.

    »Ich bin der Vater des Mannes, dessen Körper Sie an sich genommen haben, Inkarnator«, sagte der Mann und blickte mit seinen strahlenden, immer noch sehr blauen Augen auf mich herab.

    Er hatte sich kein bisschen verändert und ähnelte seinem älteren Bruder, dem Anführer des Fenrir-Clans, stark: trocken, stark und sehnig, trotz seines Alters ohne ein Gramm Fett am Leib. Sein ernstes Gesicht erinnerte mich an die Borke einer alten Eiche, sein Haar an einen vom Alter weiß angelaufenen Goldbarren.

    Damals im Timus hatte ich seine Biografie gelesen. Fünfzehn Dienstjahre bei den Wolfsköpfen, verbunden mit zahlreichen Kampf-Raids und Medaillen, gefolgt von weiteren zehn Jahren als Konsul der Neuen Arktis. Das war ein erfahrener Mann, der sich in der Welt auskannte, die Quintessenz dessen, wie weit es ein Clan-Tribut innerhalb der Legionshierarchie bringen konnte.

    Ich nickte. »Ich weiß. Schön, dass wir uns jetzt kennenlernen.«

    »Eins wollte ich Sie die ganze Zeit fragen«, gestand der Mann. »Wie ist es passiert? Wie ist er gestorben? Mein Sohn... Wie haben Sie ihn gefunden?«

    »Er gehörte dem Legions-Raid an, der in die A-Zone vordrang, in der mein Sarkophag gelandet ist. Sie wurden von einem Tiferet angegriffen, einem Rieseninsekt. Als ich Sven fand, fehlte sein halber Schädel. Er hat nicht mehr geatmet. Ich konnte ihn nicht retten.«

    Von dem Mann ging eine starke Aura der Trauer und des Verlusts aus. Mein Anblick hatte ihn daran erinnert, was sie verloren hatten — aber es schwang auch so etwas wie Eifersucht darin mit. Ich hatte mich des Körpers eines Menschen bemächtigt, den sie liebten, und ihnen die Gelegenheit genommen, sich von ihrem Sohn und Bruder zu verabschieden und ihn anständig zu beerdigen. In ihren Augen glich das einem Sakrileg.

    Ich versuchte, ihre Emotionen mit meinem Anführer des Rudels zu besänftigen, während ich ihnen in meinem offenen Blick meine tief empfundene Aufrichtigkeit vermittelte. Es war in der Tat ein unglücklicher Zufall gewesen, für den ich rein gar nichts konnte.

    »Dumm gelaufen«, kommentierte der Anführer der Wölfe schließlich und wandte den Blick ab. »Ich weiß, wie so etwas passieren kann. Hatten Sie... hatten Sie zu jener Zeit andere Optionen?«

    »Nein, die hatte ich nicht«, erwiderte ich. »Hört mich an, Wölfe. Ich kann euch euren Sohn und Bruder nicht zurückgeben. Ich kann euch nicht einmal mehr seinen Körper überlassen. Bitte nehmt stattdessen das hier an, damit ihr ein Andenken an ihn habt.«

    Ich reichte ihnen den Fang-Dolch und den Cryptor-Siegelring mit den Clansymbolen. Beides waren Svens persönlicher Besitz, und sie hatten mir mehr als einmal das Leben gerettet — doch ich war auch der Ansicht, dass man seine Schulden bezahlen musste. Zudem ging ich fest davon aus, dass der Fenrir-Clan neue Nachfolger finden würde, die dieser Objekte würdig waren.

    »Behaltet sie einfach, Inkarnator«, entschied der alte Greyholm ernst. »Als Symbol des Namens meines Sohnes und als Erinnerung an ihn. Uns erwartet eine glorreiche Schlacht, und ich hoffe, dass sie allen anderen Wölfen Glück bringen. Sitz auf, Ellie.«

    Er hob die Hand zum Legionssalut und reichte sie dann dem Mädchen. Ohne den nachdenklichen Blick von mir abzuwenden, saß sie auf seinem weißen Wolf auf und nahm hinter ihm Platz.

    Das Tier gähnte und bleckte seine zehn Zentimeter langen Fangzähne. Was für eine Bestie! Ich hätte zu gern gewusst, wie sie es schafften, sie ohne Zuhilfenahme von Neuralverbindern zu lenken.

    »Das beruht auf einer besonderen Technik, die nur die Wolfsflüsterer beherrschen«, erklärte mir Circe, die sich die ganze Zeit unauffällig in der Nähe aufgehalten hatte. »Es gleicht einer mentalen Verbindung, ist aber nicht ganz dasselbe. Die Technik ist ein Geheimnis des Clans, das Fenrirs Kinder über die Generationen weitergeben.«

    »Hast du meine Gedanken gelesen?«

    »Vergiss nicht, dass ich Verzauberin bin. Und seit letzter Nacht bin ich wie eine Stimmgabel auf dich eingestellt«, fügte sie mit beschämtem Lächeln hinzu. »Bitte entschuldige; das wird nicht wieder vorkommen. Es ist nur so, dass deine Gedanken sehr stark und klar waren. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du über ein unglaublich mächtiges Psi-Feld verfügst? Obwohl ich deine Azur-Aura nicht messen kann, vermute ich, dass deine Suggestionskraft schon fast die Stufe der vierten Evolution erreicht hat. Liege ich damit richtig?«

    »Fast«, gab ich widerstrebend zu, da ich nicht gern über meine ungewöhnliche Quelle sprach. »Wolfsflüsterer, sagst du? Außerordentlich interessant. Könntest du zufälligerweise auf dieselbe Art Rocks steuern?«

    »Ja, aber die Sache ist weitaus komplizierter. Rocks gehören zu den mächtigsten Bina-Kreaturen, die es gibt. Es kam bisher nur sehr selten vor, dass einer gezähmt werden konnte. Das letzte Mal hat jemand vor über fünfzig Jahren ein Ei gefunden. Man muss schon ein Verzauberer mit einer ganz besonderen Gabe sein, und diese gibt es nur hier in Avalon. Die Falken sind ein uraltes Volk, und durch ihre Adern strömt noch immer das Blut von Siegfried und Irene. Wenn diese besondere Quellenart bei einem von ihnen erwacht, werden sie von ihren Timus-Pflichten befreit und mit der Aufgabe betraut, für die Legion geflügelte Monster zu zähmen und zu züchten. Man bezeichnet sie auch als Vogelherren, und das ist eine höchst ehrenhafte Position. Warum fragst du?«

    »Ich habe vor einigen Monaten das Ei eines Rocks gefunden und das Küken unabsichtlich geweckt, sodass es beschloss zu schlüpfen.« Während ich ihr das mitteilte, spürte ich, wie ihr Staunen zunahm.

    »Soll das etwa bedeuten, dass du den Rock geprägt hast? Mental, meine ich?« Sie riss die Augen auf. »Du hast ihn erweckt und nicht mal versucht, ihn bei dir zu behalten? Wieso denn das?«

    »Weil seine Eltern kamen und dort, wo wir uns befanden, auf einmal jede Menge los war.« Ich erschauderte bei dem Gedanken an meinen Kampf gegen Gnarl und an das Eintreffen der Megavögel.

    »Bist du dir sicher, dass du ihn erweckt hast?«

    »Ja, das bin ich. Wieso?«

    »Folge mir.«

    Der Vogelmeister von Avalon stellte sich als dürrer alter Mann mit Adlernase heraus, das mich ebenfalls an einen großen Vogel erinnerte. Nun, da meine Evolution meine Quelle und die Intensität meines Psi-Felds und meiner Azur-Manipulationen verbessert hatte, war ich in der Lage, die kleinsten Details der Azur-Konzentrationen in anderen Personen und sogar Inkas wahrzunehmen, was es mir ermöglichte, den Kreislauf der A-Energie in ihren Körpern nachzuvollziehen. Das half mir wiederum dabei, fast fehlerfrei ihre Entwicklungsart und die Intensität ihrer Azur-Gaben allein anhand ihrer Formen und Farben zu erkennen.

    Der Vogelmeister war ein Verzauberer, so viel stand zweifelsfrei fest. Ich konnte seine seltsame samenförmige Quelle und das feine Geflecht aus Jadefäden erkennen, die seine Brust bis hinunter zu seinem Rückgrat und hinauf zu seinem Schädel durchzogen. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.

    Miko schaltete sich prompt ein und teilte mir mit, dass diese spezielle Energieart Hyrkha genannt wurde und in der Tat äußerst selten war. Die Inkas, die eine derartige Gabe besaßen, waren in der Lage, mit jeglicher lebendigen Natur, darunter allen Tieren und Pflanzen, auf Tausende verschiedener Arten zu kommunizieren.

    Witzigerweise war meine »Anführer des Rudels«-Genomod eine Art minderwertiges Gegenstück. Möglicherweise hatte der Rattenkönig einst eine ähnliche Energieart besessen.

    Nachdem er sich meine Geschichte über das Ei des Rock angehört hatte, erzählte er mir im Gegenzug einige höchst interessante Details.

    Das Zähmen eines Rock wurde als wahre Heldentat angesehen, selbst wenn es einem Inkarnator gelang, was vor allem daran lag, dass ein solcher Freiwilliger zufällig genau im Moment des Schlüpfens auf ein derartiges Ei stoßen musste. Der Versuch, einen erwachsenen Rock zu zähmen, hatte sich als unmöglich herausgestellt, während ein neugeborenes Küken die erste Kreatur, die es sah, als seine symbolische »Mutter« ansah. Ein mentaler Kontakt zu ihm schuf eine Prägung, eine Verbindung, die das Küken für immer mit dem Verzauberer verband, der es erweckt hatte.

    So einfach sich das auch anhörte, so war es in der Praxis eine sehr schwere Aufgabe. Die Geburt des Kükens bewirkte einen tödlichen Anstieg der A-Energie. Darüber hinaus bauten die Rocks ihre Nester hoch oben auf unerklimmbaren Gipfeln und beschützten sie mit ihrem Leben. Ein Nest zu entdecken und sich ihm unbemerkt zu nähern, das dann auch noch zu überleben — das stellte selbst für einen Inkarnator eine reife Leistung dar.

    Damals war es Kai und mir gelungen, das Ei zu stehlen — und ich hatte das Küken im Laufe meines Kampfes gegen Gnarl eher unabsichtlich erweckt. Seine Eltern, die aufgrund seines Rufs eintrafen, hatten mir ebenso unabsichtlich zum Sieg verholfen. Zwar nahmen sie ihren Nachwuchs mit sich, doch ich hatte die mentale Prägung bereits durchgeführt und somit eine besondere Verbindung zwischen uns beiden hergestellt.

    Der Vogelmeister berichtete mir sodann, dass Rocks außergewöhnlich schnell erwachsen wurden. Im Alter von zwei Monaten wuchsen ihnen bereits Federn. Zu diesem Zeitpunkt schubst ein Elternteil das Küken aus dem Nest, das sich hoch oben auf einer Klippe befindet, um es dann mitten im Sturz aufzufangen. Diese grausame Praxis wird mehrere Dutzend Male wiederholt, bis der junge Rock gelernt hat, die passenden Luftströmungen zu finden, und bis er seine Flügel ausbreitet. So lehrten sie ihren Nachwuchs das Fliegen — und wenn ich dem Vogelmeister Glauben schenken konnte, war noch kein einziges Küken in den Tod gestürzt.

    Sobald das geschafft war, nahmen die Eltern ihr Kind mit und brachten ihm das Jagen bei. Konnte der Jungvogel fliegen und für sich selbst sorgen, scheuchte man ihn gnadenlos aus dem Nest, denn die Jagdgebiete der Vögel waren hart umkämpft. Demzufolge flog der junge Rock davon und suchte sich ein eigenes Territorium, im Allgemeinen direkt neben einer A-Zone, doch manchmal auch in der Nähe menschlicher Siedlungen, und im letzteren Fall sah sich das Stellar-System gezwungen, eine neue Mission zu erteilen...

    Jeder der von den Menschen gezähmten Kampf-Rocks hatte eine eigene Geschichte. Üblicherweise wurden diese Eier aus dem verlassenen Nest bereits toter Eltern geborgen. Dennoch gab es auch andere Geschichten, die rasch zu Legenden wurden.

    In jedem Fall war das, was ich getan hatte, eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen durfte. Inzwischen waren mehrere Monate vergangen. Das Küken musste längst Federn haben und konnte vielleicht sogar schon fliegen. Der Vogelmeister riet mir, dorthin zurückzukehren und es von seinen Eltern zurückzufordern.

    Circe machte diese Information sehr unruhig.

    »Das ist eine einmalige Gelegenheit, Grey!«, beharrte sie. »Ein Rock ist ein Morph der Gold-Klasse und ein unvergleichlicher Raubvogel. Es ist nahezu unmöglich, ihn umzubringen. Er fliegt schneller als jedes Heliflugzeug und kann es im Kampf problemlos mit einer Inka-Gruppe aufnehmen. Was Haustiere angeht, ist er zudem ausgesprochen nützlich. Jammerschade, dass du dich an nichts erinnern kannst! Ich kann es durchaus.« Sie verdrehte verträumt die Augen, als würde sie die Vergangenheit noch einmal durchleben. »Siegfried hatte früher ebenfalls einen Rock. Und Falke flog einen goldenen Rock namens Sleipnir. Diese Vögel sind legendär, Grey. Überleg dir nur, welche Auswirkungen ein Rock auf die Moral der Clans haben würde, wenn du auf ihm in die Schlacht fliegst!«

    »Mir macht es nichts aus, dorthin zurückzukehren, aber wir haben im Augenblick keine Zeit dafür«, erwiderte ich ruhig, aber entschlossen. »Unsere oberste Priorität ist es, so schnell wie möglich die Stadt zu retten. Ach, was ist übrigens mit den Katzen? Ist es dir gelungen, ein Treffen zu arrangieren?«

    »Sie warten schon auf dich.«

    Die Katzen waren ein Händler-Clan, der alle menschlichen Siedlungen auf dem Planeten miteinander verband. Sie hatten ihre Augen und Ohren überall: in Form unzähliger Spione, ebenso bekannter wie unbekannter. Es war unmöglich, etwas größeren Ausmaßes zu tun, ohne die Aufmerksamkeit ihrer Informanten zu erregen. Ich hatte meine Lektion gelernt und wusste, dass man ihren Einfluss nicht unterschätzen durfte.

    Außerdem war ich mir fast sicher, dass die Katzen die

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