Abenteuer Via Francigena: Zu Fuß von Canterbury nach Rom
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Abenteuer Via Francigena - Hermine Stampa-Rabe
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Hermine Stampa-Rabe
Abenteuer Via Francigena
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Hermine Stampa-Rabe
Abenteuer Via Francigena
Zu Fuss von Canterbury nach Rom
Shaker Media
Bibliografiche Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografiche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Herstellung und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Lektorat: Lektorat: Dagmar Rehberg, Borgstedt
Fotos: Hermine Stampa-Rabe
Georg-Pfingsten-Str. 19, 24143 Kiel
Tel.: 0049 431 735565
Email: hermine.stampa-rabe@web.de
Copyright Shaker Media 2009
Alle Rechte, auch das des auszugsweisen Nachdruckes, der auszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung, vorbehalten.
ISBN 978-3-8442-8279-5
Für Klaus, Olaf, Ines, Achim, Alexandra,
Annika, Steffen, Gudrun, Carlos und Anna-Lena
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre
E N G L A N D
Der Weg von Canterbury nach Calais
Verlaufen
F R A N K R E I C H
Am Ärmelkanal nach Wissant
Der Weg von Calais nach Reims
Gen Südwesten durch Frankreich
Die ungastliche Stadt
Als Chaussee-Hase weiter
Arras, eine Traumstadt
Das schreckliche Essen
Vorbei an Soldaten-Friedhöfen
Am Somme-Kanal
Du bist verrückt!
Ein paradiesisches Fleckchen Erde
Alle Zimmer ausgebucht!
Meine beiden Engel
Der Weg von Reims nach Besancon
Das Pilgerpärchen
Auf dem Bauernhof
Die Einladung
Herzlicher Empfang
Meine geheimnisvolle Wirtin
Francois
Zu Gast im Schloss
Wassertreten in meinen Wanderschuhen
Durch das Französische Jura-Gebirge
Eine Spinne gefällig?
Weiter auf dem idyllischen Chemin
S C H W E I Z
Der Weg von Lausanne über die Alpen nach Aosta
Durch die Reben
Es geht wieder mit Rucksack weiter
Über die Alpen
Letzter schwieriger Aufstieg
Im Hospiz auf dem Col du Grand-Saint-Bernard
I T A L I E N
Als Bergziege durch das Aosta-Tal
Bei Padre Louis
Eine verrückte Wanderung im Regen
Der Weg von Aosta nach Lucca
Ein Hund versperrt mir den Weg
Das Orchester der Düfte
Bis fast zum Gipfel? Nein!
Wasserkaskaden wie ein silbernes Feuerwerk
Die Sperrfestung Bard
Endlich habe ich die Alpen hinter mir
Unter Fröschen, Schlangen und Mücken
Flucht aus dem Kloster
Durch die Toskana
Sono a pezzi!
Über den Cisa-Pass
Wie soll es weitergehen?
Die Le Cinque Terre Bootsfahrt
Notlösung per Bahn von Avenza nach Viterbo
Die letzten 100 km wieder zu Fuss nach Rom
Teil II der Via Francigena: Mein Leidensweg
Der Weg von Lucca nach Rom
Meine armen Füsse
In Flip-Flops geht es weiter
Notlösung, um weiter zu kommen
Muss ich meine Pilgerwanderung abbrechen?
Ich kann wieder wandern!
Heidi will so rasch wie möglich nach Hause
Durch ein Landschaftsschutzgebiet der Toskana
Zur Raubritter-Burg
Ein langer Marsch
Vom Journalisten fotografiert
Montefiascone - für mich ein Fiasko
Ankunft in Rom
Erneutes Treffen mit meiner wunderbaren Cousine
Zurück nach Kiel
Via Francigena
Die Etappen
Datum Von – bis
03. Mai 2008 Canterbury – Dover
04. Mai 2008 Dover - Calais, Frankreich
05. Mai 2008 Calais – Wissant
06. Mai 2008 Wissant – Guines
07. Mai 2008 Guines – Liques
08. Mai 2008 Liques – Therouanne
09. Mai 2008 Therouanne - Calonne Ricouart
10. Mai 2008 Calonne Ricouar – Arras
11. Mai 2008 Erster Ruhetag in Arras
12. Mai 2008 Zweiter Ruhetag in Arras
13. Mai 2008 Arras – Bapaume
14. Mai 2008 Bapaume – Peronne
15. Mai 2008 Peronne – Ham
16. Mai 2008 Ham – Laon
17. Mai 2008 Laon – Reims
18. Mai 2008 Ruhetag in Reims
19. Mai 2008 Reims - Chalons-en-Champagne
20. Mai 2008 Chalons-en-Champagne – Coole
21. Mai 2008 Coole - Meix-Thiercelin
22. Mai 2008 Meix-Thiercelin - Brienne-le-Château
23. Mai 2008 Brienne-le-Chateau - Bar-sur-Aube
24. Mai 2008 Bar-sur-Aube - Autre Aube
25. Mai 2008 Ruhetag in Autre-Aube
27. Mai 2008 Ruhetag in Langres
28. Mai 2008 Langres - Les Archots
29. Mai 2008 Les Archots – Champlitte
30. Mai 2008 Champlitte - Mercey-sur-Saone
31. Mai 2008 Mercey-sur-Saone – Besancon
01. Juni 2008 Ruhetag in Besancon
02. Juni 2008 Besancon - Ornans
03. Juni 2008 Ornans - Mouthier-.Haute- Pierre
04. Juni 2008 Moutier-Haute-Pierre - Vallorbe, Schweiz
05. Juni 2008 Vallorbe – Lausanne
06. Juni 2008 Erster Ruhetag in Lausanne
07. Juni 2008 Lausanne – Montreux
08. Juni 2008 Montreux - St.-Maurice
09. Juni 2008 Zweiter Ruhetag in Lausanne
10. Juni 2008 St. Maurice – Martigny
11. Juni 2008 Martigny – Orsieres
12. Juni 2008 Orsieres - Bourg-Saint-Pierre
13. Juni 2008 Bourg-Saint-Pierre - Col du Grand-Saint-Bernard
14. Juni 2008 Ruhetag auf dem Col du Grand-Saint-Bernard
15. Juni 2008 Col du Grand-Saint-Bernard - Saint Oyen
16. Juni 2008 Saint Oyen – Aosta
17. Juni 2008 Aosta – Nus
18. Juni 2008 Nus - Saint Vincent
19. Juni 2008 Saint Vincent – Verres
20. Juni 2008 Verres - Pont-Saint-Martin
21. Juni 2008 Pont-Saint-Martin – Ivrea
22. Juni 2008 Ivrea - San Germano Vercellese
23. Juni 2008 San Germano Vercellese – Vercelli
24. Juni 2008 Vercelli – Robbio
25. Juni 2008 Robbio – Mortasa
26. Juni 2008 Mortara - Gropello Caiaroli
27. Juni 2008 Gropello Caiaroli – Pavia
28. Juni 2008 Pavia -S. Christina
29. Juni 2008 S. Christina – Piacenza
30. Juni 2008 Piacenza - Fiorenzuola d'Arda
01. Juli 2008 Fiorenzuola d'Arda – Fidenza
02. Juli 2008 Fidenza – Medesano
03. Juli 2008 Medesano – Sivizzano
04. Juli 2008 Sivizzano -Berceto
05. Juli 2008 Berceto -Cisa-Pass
06. Juli 2008 Cisa-Pass – Aulla
07. Juli 2008 Aulla – Sarzana
08. Juli 2008 Sarzana - Marina-Massa-Carrara
09. Juli 2009 Erster Ruhetag in Marina-Massa-Carrara
10. Juli 2008 Zweiter Ruhetag in Marina-Massa-Carrara
11. Juli 2008 Marina-Massa-Carrara – Viterbo
12. Juli 2008 Viterbo – Vetralla
13. Juli 2008 Vetralla – Sutri
14. Juli 2008 Sutri - Campagnano Romano
15. Juli 2008 Campagnano Romano - La Storta
16. Juli 2008 La Storta - R O M !!!!!!
17. Juli 2008 Rom – Kiel
Im nächsten Jahr:
30. April 2009 Marina di Massa – Camaiore
30. April 2009 Camaiore – Lucca
01. Mai 2009 Lucca – Altopascio
02. Mai 2009 Altopascio – San Miniato
03. Mai 2009 San Miniato – Gambassi Terme
04. Mai 2009 Gambassi Terme – Le Grazie
05. Mai 2009 Le Grazie – Monteriggioni
06. Mai 2009 Monteriggioni – Siena
07. Mai 2009 Siena – Monteroni d’Arbia
08. Mai 2009 Ponte d’Arbia – San Quirico d’Orcia
09. Mai 2009 San Quirico d’Orcia – Radicofani
10. Mai 2009 Radicofani – Aquapendente
11. Mai 2009 Aquapendente – Bolsena
12. Mai 2009 Bolsena – Viterbo
13. Mai 2009 Viterbo - R O M !!!
14. Mai 2009 Ruhetag in R O M
15. Mai 2009 Abflug aus Rom nach Kiel
Kochrezepte
Pilgersuppe Canterbury
Kalbsfuss á la mode d'Arras
Brennnesselsuppe Laonnaise
Soupe verte Chálonnaise
Oefs á l'oseille facon ardennaise
La Souppo Barbetto - Soup Vaudoise
Polenta concia
Froschsuppe Vercelli
Mactabe
Mesciua
Zuppa di saragi
Faglioli di Sutri in greppa
Trippa di manzo alla romana
Minestra di ceci allo zafferano
Ginestrata alla senese
Carciofi alla guidea
Coda alla vaccinara
Einleitung
Was ist die Via Francigena und wo verläuft sie?
Die Via Francigena ist die legendäre Frankenstrasse, die im Mittelalter von zahllosen Rompilgern beschritten wurde und heute den Ehrentitel des Europarats „Kulturstrasse" trägt. Sie ist die ehemalige Strasse, auf der sich die Könige zum Papst nach Rom begaben, um für ihre Königswürde gesalbt und gekrönt zu werden.
Die Via Francigena beginnt bei der Kathedrale in Canterbury in England und überquert den Ärmelkanal von Dover nach Calais. Von hier durchquert sie Frankreich über Reims bis nach Lausanne in der Schweiz. Sie zieht sich nördlich um den Genfer See bis hoch zum Grossen Sankt Bernhard (zweitausendvierhundertneunundsechzig Meter - das Hospiz liegt auf einer Höhe von zweitausendeinhundertzehn Metern) über die Alpen. Kurz danach entert sie Italien und windet sich hinab ins Aosta Tal, dieses weiter gen Osten entlang und in der Po-Niederung bis Piacenza. Von dort ändert sie wieder ihre Richtung gen Süden und führt über den Apennin bis Rom. Alles in allem ist sie eintausendachthundertundsechzig Kilometer lang.
Als ich 2007 mit dem Fahrrad nach Santiago de Compostela radelte und fast ohne Gepäck an den mit schwerem Rucksack zu Fuss wandernden und mit Pflastern und Verbänden versehenen Pilgern vorbei fuhr, schämte ich mich so sehr, dass ich mir schwor, im nächsten Jahr auch zu Fuss mit dem Rucksack hier entlang zu pilgern. Aber dann hörte ich von dem Pilgerweg Via Francigena
, der von Canterbury in England durch Frankreich, die Schweiz bis zum Petersdom in Rom in Italien führt und entschied mich dafür. In Santiago de Compostela war ich ja schon gewesen. Warum zweimal dasselbe Ziel ansteuern? Schliesslich bin ich siebzig Jahre jung und weiss nicht, wie lange mein Körper noch solche Strapazen durchstehen wird.
Nach dem Studium zweier Fachbücher, eines Pilgerberichtes und einer DVD mit dort wandernden Pilgern und auch einem fachlichen Rat von Ärzten wusste ich mehr von dieser noch recht unbekannten Pilgerstrasse. Daraufhin begann ich hier in Kiel Anfang November 2007 mein Wandertraining. Die flache Strecke von zwanzig Kilometern führte von unserer Wohnung in Kiel bis zur Holtenauer Schleuse am Nord-Ostsee-Kanal und wieder zurück. Für mein Bergtraining suchte ich mir in unserem Rathaus die Treppe mit den hundert Stufen aus, auf der ich jeden Montag die Stufen mit einem sechs Kilogramm schweren Rucksack ohne Pausen hoch und wieder hinunter stieg. Dann kaufte ich mir im neuen Jahr nach den Angaben der Pilger vom Jakobsweg die entsprechenden Teile wie Rucksack usw., wog alles genauestens ab und stellte fest, dass dieses Gewicht meinem nur fünfundfünfzig Kilogramm leichten Körper nicht zuzumuten ist. Da es sich aber um die allernötigsten Teile für diese Wanderung durch nasses, kaltes (Alpenüberquerung) und heisses Gelände handelte, mussten sie mit. Die Schlafunterlage und den extra für diese Wanderung angeschafften, leichten Daunen-Schlafsack musste ich auch zu Hause lassen. Aber auf das Thermometer, das ich vorn an den Rucksackträger hängte, meinen Fotoapparat, das Diktiergerät, mein Handy, um meine Quartiere buchen zu können und das Pfefferspray gegen Gefahren wie zum Beispiel mich angreifende Hunde, konnte ich nicht verzichten. Diese Teile steckte ich in meine Bauchtasche.
Am 2. Mai verliess ich meinen Mann in Kiel und fuhr mit der Eisenbahn nach Canterbury in England. Abenteuer, ich komme!
Die Autorin
Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre
von
Johann Christian Fürchtegott Gellert
Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre,
Ihr Schall pflanzt seinen Namen fort.
Ihn rühmt der Erdkreis, ihn preisen die Meere,
Vernimm, o Mensch, ihr göttlich Wort.
Wer trägt der Himmel unzählbare Sterne?
Wer führt die Sonn' aus ihrem Zelt?
Sie kommt und leuchtet und lacht uns von ferne,
|: Und läuft den Weg gleich wie ein Held. :|
Vernimm's und siehe die Wunder der Werke,
Die Gott so herrlich aufgestellt.
Verkündigt Weisheit und Ordnung und Stärke
Dir nicht den Herrn, den Herrn der Welt?
Er ist dein Schöpfer, ist Weisheit und Güte,
Dein Gott der Ordnung und dein Heil;
Er ist's, ihn liebe von ganzem Gemüte
|: Und nimm an seiner Gnade teil. :|
E N G L A N D
Den Pilgerstab in der Hand,
die Sehnsucht im Gepäck,
im Haar den Wind der Begeisterung
und tief im Herzen das ewige Ziel -
Was kann mir schon passieren!
(Verfasser ist mir unbekannt)
Der Weg von Canterbury nach Calais
03. Mai 2008: Canterbury - Dover
Nach englischer Zeit starte ich um 11.23 Uhr bei der Jugendherberge.
Aber nun ganz von vorn: Gestern brachte mich die Eisenbahn von Kiel bis Brüssel. Durch Verspätung musste ich drei Stunden auf den nächsten planmässigen Zug EUROSTAR warten, der mich dann aber unter dem Ärmelkanal hindurch bis London brachte. Dort stieg ich in den nächsten Zug nach Canterbury um, wo ich nach Sonnenuntergang ausstieg. Glücklicherweise spazierten gerade zwei junge Mädchen vor mir her, die ich nach dem richtigen Weg zur Jugendherberge Canterbury fragte. Denn dort war ich vorgebucht. Sie nahmen mich eine kurze Strecke bis zu einer kleinen Brücke mit. Eins der Mädchen fischte aus seiner Tasche einen Stadtplan von Canterbury und zeigte mir, wo ich entlanggehen soll. Sie war mein erster Engel auf meinem Pilgerweg. In einer Stadt mit wenig Strassenlaternen wäre ich ohne Stadtplan aufgeschmissen. Noch zweimal erkundigte ich mich nach der richtigen Strasse und erreichte um 22.30 Uhr mein gebuchtes Schlafquartier.
Verlaufen
Nach einer kurzen Nacht und einem guten Frühstück wandere ich nun zur Kathedrale, fotografiere die Überreste der alten und werde in die neue, grosse verwiesen. Dort erhalte ich den ersehnten Stempel für meinen Pilgerpass. Die Priester sind von meinem Erscheinen als Pilgerin, die nach Rom zu Fuss wandern möchte, ganz begeistert. Einer von ihnen geleitet mich nach draussen, zeigt mir einen Gedenkstein für die Pilger der Via Francigena vor der Tür auf dem Rasen, fotografiert mich damit und erteilt mir seinen Segen. Nun kann mir eigentlich auf meinem Pilgerweg nichts mehr passieren.
Wieder zurück in der Jugendherberge, ziehe ich mir meine warme Fleecejacke aus, quetsche sie noch oben in den sowieso schon zu schweren und vollen Rucksack und hieve ihn mir mit einem gekonnten Schwung über die Schultern und auf den Rücken. An das Gewicht hat sich mein Körper eben zu gewöhnen, basta. Schliesslich will ich nach Rom und anders geht es leider nicht.
Bei fünfundzwanzig Grad Celsius und Sonnenschein wandere ich los. Die Bäume tragen in dieser Region schon grüne Blätter. Die typischen Blumen Englands, die Blew Bells, blühen am Strassenrand, während ich auf der Dover Road Richtung Osten zur Hafenstadt Dover pilgere.
Die ganze Geschichte der berühmten Pilgerfahrt nach Canterbury erschliesst sich im Canterbury Museum, das in einem 1373 erbauten ehemaligen Altersheim für Priester untergebracht ist. Unter der Stadt auf dem Niveau des römischen Canterbury finden wir das Roman Museum.¹1
Es ist 15.24 Uhr. Auf der Hauptstrasse nach Denton rät mir ein Autofahrer zu einer Abkürzung, die ich finde. Es geht quer feldein, ohauahauaha! Bin gerade mit meinem Gepäck auf dem Rücken über ein Hecktor gestiegen. Die Krähen krächzen, Hasen hoppeln. Ein Rebhuhn sonnt sich im Sand, büxt aber bei meinem Anblick sofort aus. Ich weiss gar nicht, warum? Bald muss ich durch wildbewachsenes Gelände. Um 15.42 Uhr verlasse ich den unmöglichen Urwaldweg. Bin begeistert von dieser urigen Wegführung. Vor mir liegt eine Pferdekoppel, die ich überqueren soll. So steige ich in der Hoffnung, dass mich die hier grasenden Pferde in Ruhe lassen, über ein wackeliges und bemoostes Hecktor. Zur Not besitze ich ja zum Verscheuchen der grossen Tiere eine Trillerpfeife. An der Kante der Pferdekoppel kann ich nicht gehen. Dort liegen überall Haufen von Pferdeäpfeln. Scheinbar halten sich diese Tiere nachts hier auf. Hasenködel liegen dazwischen. Ach du meine Güte, die möchte ich auch nicht im Profil meiner Schuhe haben. Also schlage ich lieber einen Bogen darum herum. Durch schönes weiches Gras, durchsetzt mit Gänseblümchen, stapfe ich dahin. Hilfe, die Pferde kommen! Ich nehme die Trillerpfeife in die Hand.
Die Pferde nähern sich und strecken mit neugierigen Augen ihre grossen Köpfe zu mir herunter. Mir wird mulmig. Ich rufe, schimpfe, pfeife. Sie kümmern sich nicht darum und kommen immer dichter an mich heran. Ich weiche rückwärts aus und trete auf diese Weise versehentlich in ihre Pferdeäpfel. Zur Verteidigung gegen die grossen Tiere könnte ich meinen Wanderstock benutzen. Doch der klemmt hinten am Rucksack. Unter reger Anteilnahme der Vierbeiner lasse ich ihn hinuntergleiten. Zack, zack löse ich den Wanderstock, nehme ihn in die Hand und versuche, die Pferde damit zu verscheuchen. Aber vor mir zeigen sie keinen Respekt. Sie sollen verschwinden! Aber wie soll ich es denn noch versuchen? Unter lautem Schimpfen laufe ich auf sie zu und schwinge den Stock durch die Luft. Sie drehen in grossen Sprüngen um, laufen etwas weg und beobachten mich aus der Entfernung.
So schultere ich wieder meinen Rucksack, befestige meine Bauchtasche daran und setze meinen Weg zum gegenüberliegenden Hecktor fort.
Aber die Pferde nähern sich mir wieder und drücken mich mit ihren zu mir heruntergebogenen Köpfen noch weiter zurück - und in ihre Pferdeäpfel. Die dicken, grün schillernden Mistfliegen, die darauf sitzen und sich voll fressen, schwirren ab. Der „Duft" hüllt mich ein und beleidigt meine Nase. Pferdefreunden ist er sicher sehr sympathisch. Aber mein Fall ist er nicht. Ich muss weiter und kann mich nicht ewig auf dieser Koppel bedrängen lassen. Die anhänglichen und neugierigen Tiere mit meinem hoch erhobenen Wanderstock scheuchend, erreiche ich endlich die andere Seite der Pferdekoppel. Mit klopfendem Herzen jage ich meine Bewunderer noch einmal davon, steige mit Hast über das hohe Gatter - und bin endlich die Tiere los. Sie stehen dicht nebeneinander und starren mich fragend an. Jetzt ist es 15.55 Uhr
Noch ein abschliessendes Foto von meinen vierbeinigen Begleitern, dann wandere ich frisch, fromm, fröhlich und munter weiter und hoffe, auf der richtigen Spur Richtung Dover unterwegs zu sein. Mein Weg endet auf einer Autostrasse. Nach längerer Zeit frage ich einen Autofahrer, der in seinem parkenden Wagen sitzt, nach dem richtigen Weg. Er guckt mich ganz verblüfft an und gibt mir zu verstehen, dass ich in die falsche Richtung gegangen bin. Hier komme ich nach Volkstone. Wütend über meine eigene Dummheit, dem Rat gefolgt zu sein, der Abkürzung über die Wiese, den Hügel hinauf und durch den Urwald zu gehen, überlege ich hin und her.
Nach genauer Prüfung meiner sehr dürftigen Landkarte sehe ich, dass ich nach einem Kilometer die Autobahn erreiche, die nach Dover führt. Vielleicht gibt es dort eine Bushaltestelle. Die Sonne steht nämlich schon ziemlich tief. Zu Fuss würde ich erst bei Dunkelheit dort ankommen.
Zum Glück kommt von vorn ein Auto und fährt auf ein Grundstück. Ich gehe sofort hin und frage den Autofahrer.
„Gehen sie ein kleines Stück zurück. Dort gibt es für Fussgänger eine Überquerung über die Autobahn. Sie müssen nur aufpassen, dass dann nicht gerade ein Auto kommt. Dort oben auf dem Berg - er zeigt mit dem Arm dorthin - finden sie eine Bushaltestelle und können nach Dover fahren. Auch befindet sich dort ein Hotel, falls sie übernachten möchten, erklärt er mir.
Die Stelle finde ich an der Autobahn und überquere mit einem komischen Gefühl in der Magengegend die erste Doppelspur. Auf dem Mittelstreifen finde ich extra für Fussgänger eine breitere Stelle, auf der ich warte, bis von links die Strasse frei ist. Und - schwups - habe ich zu Fuss die Autobahn überquert. So etwas ist in Deutschland verboten.
Auf dem Seitenstreifen wandere hoch auf den Berg, finde dort aber nur ein verlassenes Hotel vor. Bei einem Motorradgeschäft steht ein kleiner Imbiss. Dort möchte ich nach der Bushaltestelle fragen. Aber der Imbiss hat schon geschlossen. Der Besitzer des Motorrad-Geschäfts erklärt mir, dass es hier keine Bushaltestelle gibt und dass ich auf dem Seitenstreifen der Autobahn nicht wandern darf. Aber wenn ich eine Stunde warten würde, dann gäbe er mir einen Lift. Das heisst: Er nimmt mich in seinem Auto mit nach Dover. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, warte draussen, stille meinen Hunger mit dem Brötchen und meiner Banane, die ich beide von Kiel in meinem Rucksack hatte und spüle mit Wasser nach. Die Schatten werden immer länger. Es wird kühl. Ich darf schon ins Auto steigen. Mein dicker Rucksack findet im Kofferraum gerade noch Platz. Der Mann reicht mir eine Liste mit den hier in der Nähe befindlichen Gasthäusern, aus denen ich mir eins in Dover aussuchen kann. Per Handy buche ich ein Zimmer. Bald darauf steige ich vor dem Gasthof aus dem Auto.
Heute bin ich ungefähr zwanzig Kilometer gewandert und hätte normalerweise in Dover ankommen müssen. Hätte! Das möge in Zukunft besser werden. Von meinem Fenster aus sehe ich unter dem langsam dunkler werdenden Abendhimmel in der Ferne eine Bergwand. Sie erinnert mich an die Schwäbische Alb! Und das an der englischen Küste. Was für ein Glück, dass ich hier nicht mit dem Fahrrad und Packtaschen unterwegs bin. Mit dem Rucksack auf dem Rücken ist es entschieden leichter auf einen Berg zu gelangen.
Fazit: Meine Beine, die Hüften und Füsse tun nicht weh. Es geht mir eigentlich ganz gut.
Die ganze Geschichte der berühmten Pilgerfahrt nach Canterbury erschliesst sich im Canterbury Museum, das in einem 1373 erbauten ehemaligen Altersheim für Priester untergebracht ist. Unter der Stadt auf dem Niveau des römischen Canterbury finden wir das Roman Museum.²
Pilgersuppe Canterbury
60g Butter erhitzen und 150 g Zwiebeln darin anbraten. Nach 3 Min. 3 Esslöffel Mehl zugeben und 7 Min. köcheln lassen. Salzen, pfeffern, 1 l Wasser zugeben und 10 Min. kochen lassen. In einem Suppenteller ein Eigelb mit der Gabel schaumig schlagen. Suppe vom Feuer nehmen und ½ l helles Bier zugeben. Getoastetes Brot in den Suppenteller geben. Suppe darüber giessen und mit reichlich gehackter Pfefferminze garnieren.[3]
04. Mai 2008: Dover - Calais, Frankreich
Es ist 6.15 Uhr. Mein Blick fällt auf den grossen Bergrücken. Der Himmel hängt voller Wolken. Heute geht es mit dem Schiff nach Frankreich.
Kurz nach 9.00 Uhr habe ich ein tolles, englisches Frühstück genossen. Dieses Bed and Breakfast, in dem ich schlief, ist ein ehrwürdiges, altes Haus. Die Stuben sind mit wertvollem Porzellan dekoriert. Überall an den Wänden hängen Fotos der Gastgeber und ihrer Kinder mit Doktorhut auf dem Kopf. In England gibt es nur Mädchen- oder Jungenklassen.
Auf dem Weg zum Hafen möchte ich die grosse Burg von Dover fotografieren. Aber mein Wunsch, sie zu besichtigen, schrumpft auf der Stelle, als ich sie vor mir auf einem Berg erblicke. Selten überholt mich ein Auto. Die Leute schlafen wohl noch, denn heute ist Sonntag.
In der ersten Kirche bitte ich den Pastor um einen Stempel für meinen Pilgerpass. Aber einen Stempel gibt es hier nicht. Er nimmt das neu erschienene Heftchen dieser Jean-Paul-Kathedrale zur Hand und setzt sein Autogramm mit Datum neben das kleine Kirchenfoto. Das darf ich später ausschneiden und in meinen Pass kleben. Auch erteilt er mir seinen Segen für eine sichere und erfolgreiche Pilgerwanderung. Auf meinem Weg zur Fähre komme ich an einer weiteren Kirche vorbei, in die viele Menschen strömen. Diesen schliesse ich mich an. Im Anschluss an den Gottesdienst wird das Abendmahl zelebriert.
Der Hafen ist nicht so leicht zu erreichen. Ein ehemaliger Mariner zeigt mir den Weg. Mit der Schnellfähre fahre ich nicht, weil sie mir viel zu teuer ist. Um 11.50 Uhr werden wir Fahrgäste per Bus zur anderen Fähre gebracht. Nun verlasse ich England und komme nach Frankreich.
Früher konnten nur zwei Fähren von Dover nach Calais fahren. Jetzt fahren täglich acht Fähren. Auf einer davon sitze ich auf dem Oberdeck. Neben mir sitzt ein lustiger, junger Engländer, der mit einer Touristengruppe per Eisenbahn um Europa fahren will, wie er mir stolz erklärt. Da er kaum Geld besitzt, wird er jeden Tag nur von Hamburgern leben müssen, meint er mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck. Vom Schiff aus bewundere ich das beeindruckende und hohe weisse Kliff der englischen Küste. Langsam wird es immer kleiner. Über uns kreisen die hungrigen Möwen. Eine kühle Brise weht mir um die Nasenspitze. Deshalb ziehe ich mir meine Pilgermütze tiefer in die Stirn.
F R A N K R E I C H
Nach dem Verlassen des Schiffes in Calais stelle ich um 14.30 Uhr meine Uhr um eine Stunde weiter. Hier gilt wieder unsere Zeit. Ein Bus fährt uns in das entfernte Stadtzentrum. Die Sonne brennt herab.
Um zur hiesigen Jugendherberge zu gelangen, soll ich an den Strand gehen, mich dort auf dem Deich links halten und erneut fragen. Calais hat einen sehr schönen, breiten, gelben Sandstrand. Unendlich viele Holzkabinen stehen dicht an dicht in einer Reihe darauf. Kinder spielen. Viele Menschen bevölkern den Strand. Linkerhand zieht sich ein breiter Grünstreifen bis zur ersten hohen Häuserzeile. Von Zeit zu Zeit durchschneidet ihn ein Fussweg. Bald finde ich die geräumige Herberge und erhalte den Schlüssel für mein Zimmer. Im Telefonbuch „Gelbe Seiten" suche ich unter Wissant nach einer Pension, meinem nächsten Ziel, finde aber nur zwei Hotels. Die junge Frau an der Rezeption warnt mich vor den hohen Übernachtungskosten. Ich soll dort lieber nicht buchen. Mein Bett steht im ersten Stockwerk und ist schon sauber bezogen. Durch das Fenster gleitet mein Blick zum Strand. Zwei grosse Schiffe schwimmen auf dem Ärmelkanal dahin. Darüber wölbt sich ein blauer Himmel. Um 18.30 Uhr lege ich mich schon schlafen.
Am Ärmelkanal nach Wissant
05. Mai 2008: Calais - Wissant
Die Jugendherberge liegt in der ersten Querstrasse an der Opal-Küste, der Normandie. Um 8.45 Uhr bin ich bei wunderschönem Sonnenschein und bei zwanzig Grad Celsius auf dem flachen Deich nach Wissant unterwegs. Die Via Francigena ist auch hier nicht ausgeschildert. In England gab es nur an der Kathedrale in Canterbury den Marmorstein mit diesem Pilgerzeichen. In dieser Wärme hier brauche ich nur die dünne, langärmelige Bluse und über den Leggins die dünne Kniebundhose. Jetzt habe ich einen Wanderweg gefunden, der mich von den Häusern zu hohen, festen Dünen bringt. Unter mir rollen die Wellen des Ärmelkanals an die Küste. Grosse Fähren und Containerschiffe ziehen am Horizont ihre Bahnen. Von einem Aussichtspunkt in der Nähe eines Forts sehe ich die schrecklichen Überreste des II. Weltkriegs: die von den Deutschen in die Dünen gebauten Betonbunker, in denen unwahrscheinlich viele Deutsche und Alliierte ihr Leben lassen mussten. Traurig.
Zwischen der Dünenkette und den Häusern finde ich einen breiten Wanderweg und wende darauf meine Schritte in Richtung Wissant. Bald schreite ich auf einem Naturpfad weiter. Neben mir steht ein grobmaschiger Drahtzaun. Welch schöner Anblick ist die mit Strandhafer, Dünengras und kleinem Buschwerk bewachsene grosse Dünenkette. Mir ist, als sei ich auf meiner Lieblingsinsel Amrum unterwegs und bin begeistert.⁴ Um mich herum klingen zarte Vogelstimmen.
Der Weg von Calais nach Reims
Ein Marienkäferchen sitzt auf einem weissen Stein, ein Glücksbote. Dann kann mir ja eigentlich nichts passieren. Jogger überholen mich oder kommen mir entgegen. Taubnesseln, Klee und Hahnenfuss blühen um mich herum unter dem Gebüsch. Gänseblümchen recken ihre kleinen, weissen Köpfe mit dem gelben Inneren der Sonne entgegen.
Mein Sandwanderweg endet auf einem Weg aus Betonplatten und wird bald wieder zu einem schmalen Weg mit Schotter zwischen Dünen, der beidseitig von Gebüsch flankiert ist. Es handelt sich um einen ausgeschilderten Wanderweg, der mit einem in die Erde getriebenen Rundholz, das oben einen weissen und darunter einen roten Ring aufweist, markiert ist. Kleine Trittsiegel von Vogelfüsschen sind hier zu sehen. Ach, wie sind sie niedlich. Blauweisse Hornveilchen blühen unter verbranntem Ginster. Diestelfalter gaukeln hin und her. Die erste Wandergruppe, bestehend aus mindestens fünfzig Personen, kommt mir entgegen.
Vor mir erhebt sich über der Dünenkuppe ein sich drehendes Radargerät. Das interessiert mich, und ich gehe hin. Es handelt sich dabei gleichzeitig um ein Quermarkenfeuer. Neben dem Radargerät finde ich einen Durchgang zur Küste. Nun wandere ich in halber Küstenhöhe - einem Fussgänger-Highway - auf einem schmalen Teerweg weiter. Neben mir stehen in einer Reihe Ferienhäuschen im Dünenhafer. Rechts fällt das Gelände steil nach unten ab und besteht zur Küstenbefestigung aus Beton. Daneben breitet sich der weisse Opalstrand aus. Auf dem azurblauen Meer zähle ich gerade bei angenehmer Meeresluft, Sonnenschein und Wärme sechs grosse Fährschiffe und ein kleines Segelboot.
Leider muss ich von dem schönen Highway Abschied nehmen, steige über die Dünenkette, befinde mich neben einer schmalen Teerstrasse und setze meine Wanderung fort. Neben mir schimmert das Wasser des Ärmelkanals in der Sonne. Bald erscheint vor mir ein Kruzifix an der Strasse. Ein Bus wartet in der Nähe auf seine Gäste. Die Busfahrerin lichtet mich mit meiner Kamera vor dem Kruzifix ab und zeigt mir einen Wanderweg, dem ich folgen soll, um der Autostrasse zu entgehen.
Was für ein Glück, dass ich nicht auf diesem ansteigenden Schotterweg mit dem Fahrrad unterwegs bin. Lieber wandere ich mit dem schweren Rucksack. Von meiner erhöhten Position bietet sich mir ein wunderschöner Anblick des Ärmelkanals mit den vielen, grossen Schiffen, den grünen, saftigen Wiesen, einem gelben Rapsfeld und Dornenbüschen. Ein Genuss!
Lange habe ich den Ärmelkanal wohl nicht mehr in Sichtweite. An der Küste sehe ich eine Erhöhung. Ist das vielleicht ein Kalkfelsen? Auch sehe ich dort ehemalige Bunker und ein hohes Mahnmal. Aber mich führt dieser Weg weiter ins Landesinnere. Kein Pfad ist zur quer verlaufenden Autostrasse und der dahinter befindlichen Küste zu sehen. So wandere ich einfach querfeldein. Neben mir steht schon mindestens fünfzehn Zentimeter hohes Korn und auf der anderen Seite ungefähr drei Zentimeter kleine, frisch gekeimte Karotten in nebeneinander stehenden Reihen. Auf dem Meer leuchtet in der Sonne ein Segelschiff mit seinem strahlend weissen Dreiecksegel. Eine Möwe gleitet über der Küste dahin und verschwindet hinter einem hohen Kliff. Auf meinem Trampelpfad zwischen den beiden Feldern hinunter zur Strasse sehe ich noch weitere Spuren grosser Schuhe. Andere haben sich hier also auch schon verirrt.
An der Küste hebst sich das hohe, weisse Kliff dekorativ vom Blau des Meeres und dem Grün des mit Gras bewachsenen Landes ab. Das imposante Mahnmal auf dem grünen Hügel zieht mich magisch an. Mein schmaler Weg ist ein ausgetretener, weisser Trampelpfad. Weiss, weil das leuchtend grüne Gras den ganzen Kalkhügel bedeckt und nur dort wieder zutage tritt, wo Wege vorhanden sind. Nun kommt mir mein „Bergtraining" auf der hundert Stufentreppe der Kieler Stadtverwaltung zugute. Das Mahnmal ist im Gedenken an den II. Weltkrieg errichtet worden. Sehr gut erhaltene, ehemalige deutsche Betonbunker mit der Öffnung zum Meer sind hier verteilt vorhanden und können besichtigt werden. Wenn ich mir so vorstelle, dass die Gegner der deutschen Soldaten Flammenwerfer in diese Bunker hineingehalten und die Soldaten in kurzer Zeit getötet und geröstet haben, läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Schaurig.
Ich gehe über das weiche Gras bis zur Küste, an der unter mir der Kalkfelsen steil zum Meer abfällt. Dieses Kliff fungiert, genau wie unsere deutsche Nordseeinsel Helgoland, als Vogelfelsen. Möwen brüten in Nestern, die sie auf winzigen Felsvorsprüngen gebaut haben. Hier befinden sich weitere, vollkommen heile Bunker, richtige Schützenstellungen.
Leicht sind die Wanderwege von hier oben auszumachen, denn sie ziehen sich wie weisse Adern den Berg hinab. Dicht an der Küste führt ein Wanderweg weiter nach Wissant, meinem heutigen Etappenziel. Auf der westlichen Seite steige ich den Hügel auf einem der ausgetretenen Wandersteig hinunter. Was für ein Glück, dass ich diese teuren Schuhe mit dem groben Profil trage, sonst wäre ich nicht heil hinuntergekommen.
Ungefähr zweihundert Meter vor mir wandert in einiger Entfernung auf dem Küstenweg eine grosse Wandergruppe.
Während der Kuckuck in der Ferne ruft, steige ich in einer Einkerbung des Kalkfelsens zum Meer hinunter. Herrlich frische Meeresluft streichelt mein Gesicht. Hmm, wie auf Amrum!⁵ Die Wellen rollen leicht an die hohe Kalkfelsküste. Mich erinnert alles an die Kliffs von Moher in Irland, nur sind diese hier viel, viel niedriger. Bald drehe ich um und verfolge den Wanderweg gen Westen weiter. Neben mir geht es an dem ausgefransten Kreidefelsen steil in die Tiefe. In der Ferne vor mir sehe ich die Wandergruppe direkt am Meeressaum. Warum? Bald darauf sehe ich es: Der Wanderweg endet bei einem Bauerngehöft mit grasenden weissen Rindern auf dem Feld. So steige ich auch auf grossen, dicken Steinstufen hinab auf den schmalen und feuchten Sandstrand und wandere an der Küste weiter. Zwei Männer stochern zwischen Steinen herum, heben mal einen auf, begucken ihn und werfen ihn wieder weg. Ob sie nach Opal Ausschau halten? Diese Küste nennt sich ja die Opal-Küste. Auch ich suche nach einem bunten Stein. Gern gehe ich nicht mit meinen guten Wanderschuhen hier in dem feuchten Sand! Ob ich bald wieder hinauf auf den Küstenstreifen komme? Ein mich überholendes Pärchen halte ich an und frage danach. Sie verneinen es.
Kommt die Flut? Und wenn, wie weit wird sie diesen Strandstreifen überfluten? Zur Not muss ich im groben Schotter herumlaufen. Aber vor mir läuft Wasser vom ungefähr drei Meter hohen Oberland herunter und ergiesst sich in eine Rinne quer vor mir ins Meer. Wo komme ich trockenen Fusses darüber? Leider muss ich mit den Schuhen durch knöcheltiefe Wasser stapfen. Und wenn ich später nasse Socken habe, weiss ich, dass meine Schuhe nicht wasserdicht sind. Nun sehe ich, dass es ebbt. Das heisst, dass sich das Wasser zurückzieht. Spannend ist es hier.
Auf dem Weg liegt plötzlich ein abgestürzter Bunker vor mir. Weiter komme ich nicht. Dahinter versperrt mir ein quer verlaufender und tieferer Wassergraben den Weg. Mit einem weiten Bogen über den groben Schotter an der Seite und einem weiten Satz über den Graben rette ich mich trotz des Rucksacks hinüber. Trotz aller Unwegsamkeiten begeistert mich die grandiose Landschaft. So wandere ich weiter.
Ich habe eben ein ganz grosses Glück gehabt: Ein Pärchen, das mich überholte und auch nach Wissant unterwegs ist frage ich einfach nach ihrem Schlafquartier. Freundlich erklären sie mir, dass es dort ein Bed and Breakfast gibt und schreiben mir sogar die genaue Adresse auf. Oh, bin ich glücklich! In den Hotels soll es doppelt soviel kosten. Und weiter wandere ich am Strand entlang.
Mittlerweile ist es 14.05 Uhr. Daraus erkenne ich, dass ich trotz des Betrachtens und Fotografierens ganz gut vorwärts gekommen bin. Vor meinen Füssen liegt ein toter, angetriebener Haifisch auf dem Sandstrand. Hinter einer Biegung taucht Wissant auf. Bald bin ich da!
Nach einer halben Stunde stehe ich vor dem mir genannten Bed and Breakfast. Die Eigentümerin spricht neben dem landesüblichen Französisch sogar Englisch und Deutsch. Gegen meinen Hunger soll ich zur Gaststätte am Tennis Court gehen. Sie ist immer geöffnet. Denn im Ort sind nachmittags alle Restaurants geschlossen. Auf meinem Weg dorthin lasse ich mir im Rathaus einen Ortsplan und eine Landkarte für die ganze Umgebung ausdrucken, auf der alle Strassen der Umgebung aufgezeichnet sind. Meine für morgen zu begehende 244 finde ich darauf.
Jetzt sitze ich völlig erschöpft von der heutigen Wanderung im „Tee-Break", einem Restaurant am Tennis Court und habe mir einen grossen Salatteller und eine grosse Spezi bestellt. Danach werde ich sicherlich wieder ein Mensch. Der Wirt besitzt einen PC, an dem ich meine Emails abrufen darf. Aber das funktioniert nicht. Er überlegt hin und her. Dann kommt ihm der erleuchtende Gedanke: Ich muss zuerst google.de eingeben. Unter google.fr kann ich meinen Providers aus Deutschland nicht erhalten. Danach läuft alles wie gehabt. In der Zwischenzeit haben sich viele Briefe in meinem elektrischen Briefkasten angesammelt. Es dauert eine ganze Zeit, ehe ich alle gelesen und beantwortet habe. Aber diese Sache hat einen grossen Haken: Der PC steht auf einem hohen Bord. Ich muss in der gesamten Zeit stehen. Langsam kommt es mir so vor, als wollten sich meine Hüften durch die Haut nach oben bohren. Ich kann einfach nicht mehr.
Wieder zurück in meinem Zimmer, lege ich mich schlafen.
Gen Südwesten durch Frankreich
06. Mai 2008: Wissant - Guines
Habe ganz durchgeschlafen. Meine Wirtin und bringt mir in einer halben Stunde mein Frühstück aufs Zimmer. Draussen scheint die Sonne. Es wird einen schönen Tag geben.
Die Zeit bis zum Frühstück möchte ich mit einem Spaziergang in den Ort ausfüllen. Hinter dem Rathaus, das mitten auf dem grossen Platz steht, sehe ich schon von weitem ein Fischerboot auf einem Trailer. Ein so kurzes, dickes Motorboot habe ich noch nie gesehen. Daneben stehen zwei Fischer, die eifrig dabei sind, ihre Netze aus dem Boot zu ziehen. Viele dicke Taschenkrebse und verschiedene Fische zappeln darin um ihr Leben. Die Fischer einen Trecker, der das Boot auf dem Trailer gegen Abend so weit möglich in das Meer bringt, bis es schwimmen kann. Die Fischer fahren mit ihrem Boot hinaus aufs Meer, werfen dort den Anker und die Netze aus. Am nächsten Morgen holen sie diese mit ihrem Fanggut ein und fahren per Motor bis in Küstennähe. Der Trecker holt das Boot auf dem Trailer wieder an Land und fährt es bis zum Marktplatz von Wissant. Dort werden die noch zappelnden Fische getötet, enthäutet, entgrätet und an die schon wartenden Hausfrauen verkauft.
Wieder zurück bei meinem Bed and Breakfast kann ich die Tür nicht aufschliessen. Zum Glück bringt mir gerade meine Wirtin das Frühstück und nimmt mich mit hinein.
Nun bin ich in meiner Fleecejacke unterwegs und hole mir vorsichtshalber in der Apotheke normales Pflaster, einen Nagelklipp für die Fussnägel und einen Satz einmal Nagelfeilen. Ich hoffe, damit Fussproblemen aus dem Weg gehen zu können. Meine Finger frieren. Und die Einheimischen laufen hier mit kurzärmligem, dünnem T-Shirt und kurzer Hose herum. In der geöffneten Kirche frage ich den Priester, ob ich einen Stempel für meinen Pilgerpass erhalten kann. Aber der Stempel liegt bei ihm in der Wohnung. Die Sonne scheint. Einem Beet mit hellblauen Vergissmeinnicht-Blümchen entströmt wunderbar süsser Duft.
Mit der Strassenkarte in der Hand wandere ich auf der Hauptstrasse Richtung Calais. Das Leitungswasser, das ich mir im Bad in meine Trinkflaschen gefüllt hatte, stinkt nach Chlor. Werde mir neues Wasser kaufen müssen. Nach kurzer Strecke biege ich auf die 244 ab. Ab heute wird es hügelig.
Während meiner Wanderung mache ich mir Gedanken über Vorbestellungen von Übernachtungsmöglichkeiten. Meine bisherigen Erfolge zeigten mir, dass in den gelben Seiten nur die Hotels eingetragen sind, die für diese Reklame bezahlen. Ich ziehe den Schluss, dass es wohl besser ist, sich vor Ort zu erkundigen.
Zwischen kleinen Häusern wandere ich gen Osten der Sonne entgegen. Tulpen, Goldlack, die englischen Blue Bells und die blaue Iris blühen in den Vorgärten. Ja, was am wichtigsten ist: Meine Schultern schmerzen nicht - jedenfalls jetzt noch nicht. Neben meinen grossen Zehen ist der nächststehende schmale etwas länger. Am rechten Fuss habe ich schon eine schmale, längliche Scheuerstelle. Also bin ich schon leicht bescheuert.
Mein heutiges Ziel heisst Guines. An einer Kreuzung weist ein Schild nach zu zwei Caps (Hügeln). Ich hoffe, mein Weg geht nicht hinüber. Werde mir erst mal meine warme Fleecejacke ausziehen. Mir wird sonst zu heiss. Wie sich herausstellt, ist der Weg über die zwei Berge mit den zwei Caps der meinige! Na ja, ich soll ja auch Übung kriegen. „Landluft zieht in meine Nase. Ich sehe den Übeltäter, einen Misthaufen. Nun bin ich schon daran vorbei. Zum Glück kommt der Wind von vorn. Aber der „Duft
bleibt bei. Warum? Vielleicht ist hier alles gejaucht worden. Also Hermine, ordentlich tief einatmen. Du wirst davon braun!
Während ich so meine Lieder singe, fällt mir beim Anblick einer Pappel dieser Spruch ein, den mir meine grossen Brüder Hermann und Dankwart früher in meiner Kindheit beibrachten, als wir von Kalleby bei Flensburg zum Ostsee-Strand gingen:
Klotz, klotz, klotz.
Wie weit ist die Chaussee?
Links `ne Pappel, rechts `ne Pappel,
in der Mitt’ ein Pferdeappel.
Habe bis jetzt noch keinen Pferdeapfel gesehen, aber gestern. Die Bauern sind beidseitig meiner Strasse fleissig dabei, ihre Felder zu jauchen. Daher weht der „Duft". Ein Fasan schreckt⁶ und warnt damit seine brütende Henne vor mir. Der hat wohl auch gedacht: Jemand mit so einer Kopfbedeckung und einem grossen Rucksack muss Gefahr bedeuten. Vor mir erscheinen mehrere Hügel nacheinander. Zwischen grünen Feldern leuchtet ein Rapsfeld wie ein gelbes, breites Band.
Oft liegen Flaschen und Dosen herum. Gibt es hier bei der Rückgabe kein Pfand? Drüben gurrt ein Tauber. Eine Taube antwortet. Hier stehen die Kastanien schon in voller Blüte. Die Vögel singen. Der Goldlack duftet. Die blauen und gelben Schwertlilien wetteifern miteinander um Schönheit.
Ich bin jetzt durch den Ort Hervelinghen gewandert und finde am Ende ein Fahrradhinweis-Zeichen. Es verweist auf einen Fahrradrundweg nach Calais. Ich folge aber weiter der D 244 in anspruchsvoll welliger Landschaft. Vor mir kämpft sich gerade ein junger Mann, in den Pedalen stehend, kraftvoll auf seinem unbepackten, guten Mountainbike hoch. Zwei Fasanenhähne stehen mit hochgerecktem Hals und schrecken bei meinem Anblick. Ein Rennradfahrer kommt mir mit singenden Reifen auf dem Asphalt in hoher Geschwindigkeit entgegen.
Beidseitig der Strasse befindet sich ein niedriger Wall. Warum müssen eigentlich Autos - eins von vorn und eins von hinten kommend - sich genau bei mir treffen? Ich stelle mich flugs mit dem Rucksack zum Wall hin und hoffe, dass mir das Auto auf dieser Seite nicht die Füsse platt fährt. Bis jetzt habe ich noch kein Hinweisschild für meinen Pilgerweg der Via Francigena gefunden. Ob die hinten am Rucksack mit Sicherheitsnadeln befestigten und dort baumelnden Wandersocken trocken werden? Müssten sie eigentlich. So, nun bin ich auf einer Hügelkuppe angelangt. Und wie sieht es vor mir aus? Genauso wie in England: Es geht hinunter und - schwupp - gleich wieder hinauf.
Um 11.05 Uhr habe ich schon die Hälfte meiner heutigen Tagesetappe geschafft und befinde mich in St. Inglevert. An einer Kreuzung steht ein Leiterwagen, gebaut 1942. Er erinnert mich an meinen Grossvater mütterlicherseits. Opa Lu war Schmiedemeister und hätte hieran seine helle Freude gehabt! Wie sauber alles geschmiedet und schön eingefasst ist. Ein Prachtexemplar.
In Frankreich fehlen leider auf den Hinweisschildern die Kilometer-Angaben. Aber ich komme schon irgendwie an. Eben habe ich die A 16 überquert, die nach Calais führt. Ein Plakat macht mich darauf aufmerksam, dass ich auf der „Strasse der Milch wandele. Bis jetzt dachte ich, dass sich die Milchstrasse oben am nächtlichen Himmel befindet. Tauben gurren mir ein Ständchen. Kleine Singvögel zwitschern. Die Sonne strahlt vom azurblauen Himmel. Das Thermometer, das an meinem linken Rucksackträger hängt, zeigt sechsundzwanzig Grad Celsius im Schatten. Gerade fällt mir der etwas unschöne Satz meiner jüngsten Schwester über mich ein: „Du bist doch schon mit deinen siebzig Jahren ein Methusalem. Du kannst doch gar nicht mit einem schweren Rucksack nach Rom wandern. Das ist doch nur etwas für junge Leute.
Wollen doch mal sehen, ob Hermine, der Methusalem, das schafft. Und nicht lange hier aufgehalten. Weiter!
Weshalb zieht mein Rucksack auf den Schultern so sehr nach unten? Er soll ja schön fest um die Hüften geschnallt sein. Und das ist er nicht so richtig. Demzufolge ändere ich das jetzt ab. In der Taille darf er nicht sitzen, aber um die Hüften. Mal sehen, wie lange das hält und sich nicht lockert. Es dringen die schrillen Rufe von Pfauen an mein Ohr. Calais liegt im Dunst am Horizont. Schon eine halbe Stunde früher als gedacht, erreiche ich Guines. Auch heute hat sich meine Kopfbedeckung bewährt und mich vor der brennenden Sonne geschützt.
Um 13.30 Uhr betrete ich den gleich am Ortseingang liegenden Campingplatz. Als ich mich an der Rezeption als Pilgerin der Via Francigena vorstelle, der jungen Frau meine Santiago-de-Compostela Muschel und meinen Pilgerpass zeige und um eine Schlafmöglichkeit bitte, strahlt sie und ruft sofort ihren Chef an. Er lässt mir ausrichten, dass ich um 14.00 Uhr hier an der Rezeption stehen soll. Dann erhalte ich ein Pilgerbett für sieben Euro. Endlich mal ein Herbergspreis. Auf diesem Campingplatz haben sie ein Herz für Pilger.
Nun kommt auf mich das Problem zu, dass ich ja keinen Schlafsack bei mir habe, um mich damit zuzudecken, auch keine Unterlage. Und wenn das Bett keine Wolldecke hat, was soll ich dann machen? Ach, dann ziehe ich meine ganze mitgebrachte Garderobe an und zum Abschluss oben drüber die Regensachen. Und wenn noch ein weiteres Bett im Zimmer steht, dann die Matratze davon noch oben drüber. Für diese sieben Euro mache ich das alles gern. Na, da kommt ja noch etwas heute auf mich zu. Hier in Guines sind wie in Spanien ab mittags alle Gasthäuser geschlossen. Zu Essen gibt es bis zum Abend nichts. Und mich quält ganz bestimmtein Bärenhunger! So langsam habe ich mich darauf eingestellt,