Die Großen und die Kleinen: Begegnungen mit Menschen
Von Martin Renold
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Über dieses E-Book
Der Autor schöpft aus einer reichen Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Er wird nie langfädig, und die Pointen, die er setzt, sind stets von feinem Humor. Außerst sympathisch ist, dass er die sogenannt Kleinen mit nicht weniger Achtung, Behutsamkeit und Zuneigung porträtiert als die Großen, deren Schwächen er nicht verschweigt. Gerade weil er sie von einer unbekannten, menschlichen Seite zeigt, kann man das Buch durchaus als eine kleine "andere Kulturgeschichte" bezeichnen.
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Buchvorschau
Die Großen und die Kleinen - Martin Renold
Mein Patenonkel
Er war der Größte. Ich war sehr stolz auf ihn; denn damals war ich kaum halb so groß wie er. Wir sagten, er sei zwei Meter groß. Aber ich glaube, das war übertrieben. Später, als ich erwachsen war und selber einen Meter neunzig maß, war er nicht größer als ich. Vielleicht war er ein wenig eingegangen. Aber gleich eine Handbreit?
In Wirklichkeit war sein Sohn, mein Cousin, eine Spur größer als er. Aber für mich war er dennoch der Größte.
Er hatte die Hand eines Riesen. Wenn er mir die Hand zum Gruß reichte, krümmte er seine vier Finger, von denen jeder einzelne stärker war als meine zarte Kinderhand. Ein Glück für mich, dass der Daumen fehlte. Ich glaube, seine Hand hätte meine glatt zerquetschen können.
Es war jedes Mal ein recht seltsames Gefühl, wenn meine schmale Hand in seiner breiten, kräftigen, daumenlosen lag. Den Daumen hatte er an der Maschinensäge verloren. Man muss wissen, dass mein Pate Schreiner war. Wenn meine Mutter, seine Schwester, ihm schrieb, dann setzte sie auf den Umschlag unter seinen Namen die Bezeichnung „Schreiners und den Ort. Das genügte. Das Dorf zählte damals keine dreihundert Einwohner, aber verschiedene Familien mit dem Namen Renold. Ich glaube, wenn an der Werkstatt meines Paten nicht die Anschrift „Bau- und Möbelschreinerei Renold
geprangt hätte, wäre manch einer, der nicht selber auch ein Renold war, in Verlegenheit geraten, wenn man ihn nach dem richtigen Namen des „Schreiner „Walti" gefragt hätte.
Den Daumen habe er fortgeworfen, in einen Sägemehlhaufen, erzählte er später. Er habe nur noch an einem Stück Haut gehangen, wie an einem Faden. Da habe er ihn abgerissen. Die hätten sonst im Spital weiß Gott noch versucht, ihn wieder anzunähen.
Main Pate hat mich schon im zartesten Kindesalter beschenkt. So weit reicht meine Erinnerung gar nicht zurück. Das Schaukelpferd und die hölzerne Eisenbahn gehörten jedenfalls schon immer zu meinen Requisiten auf den alten, vergilbten Fotos, die mein Vater mit seinem damals sicher modernen, aber nichtsdestoweniger umständlich zu handhabenden Fotoapparat geschossen hatte.
Die Eisenbahn bestand aus einer Dampflokomotive mit einem großen und einem kleinen Kamin und hinten offenem Führerstand, einem Kohlenwagen, einem ungedeckten Güterwagen und einem Personenwagen mit drei quadratischen Löchern als Fenster auf jeder Seite und einem schwarzen Deckel als Dach, den man abnehmen konnte. Die Lokomotive und die Wagen waren gelb angemalt. Postautogelb. Der Führerstand und die Wagen waren innen rot. Rot waren auch die Räder. Das Bähnchen war so groß, dass ich mich draufsetzen konnte, entweder auf das Dach des Führerstandes, wenn ich Lokomotivführer war und mit den Beinen schieben und den Zug in Fahrt bringen wollte, oder auf den Personenwagen, wenn ich als Passagier zu meinem Paten oder sonst wohin fuhr.
Meinen Spielkameraden erzählte ich stolz, dass mein Pate, der Schreiner, den Zug selber hergestellt hatte. Auch das Schaukelpferd. Ich ließ nur die allerbesten Freunde an die beiden Spielsachen. Nur ein einziger, verwöhnter Junge aus der Nachbarschaft, mit dem ich selten spielte, besaß etwas Vergleichbares: ein Milchfuhrwerk mit zwei Pferden, einem Milchmann und kleinen Milchkannen aus Blech. Doch sein luxuriöses Spielzeug, um das ihn außer mir alle Kinder beneideten, kam aus dem Warenhaus. Es war nicht selbstgemacht, und er hatte es nicht von einem Paten, sondern nur vom Christkind bekommen.
Mindestens einmal im Jahr, im Sommer, meistens aber auch noch im Frühling oder Herbst, fuhren wir nach Brunegg in die Ferien.
In der Schreinerei roch es betörend nach Holz und Leim. Am Boden lag Sägemehl, in einer Ecke ein ganzer Haufen. Dieser erinnerte mich immer an den abgerissenen Daumen. Überall standen halbfertige Möbelstücke herum: Betten, Kästen, Buffets, Vitrinen, Tische, Stühle. Große hölzerne Schraubklammern hielten die aufgeleimten Fourniere auf Bettumrandungen, Tischplatten und Kastentüren fest. Am Boden neben den Hobelbänken standen Leimkübel mit der braunen, zähen Flüssigkeit, die wir Honig aussah, aber einen berauschenden, gefährlichen Duft verströmte. Wir Kinder durften uns nie lange in der Werkstatt aufhalten.
Mein Pate hatte eine weiche, wohlklingende Stimme. Nie habe ich ein böses, lautes Wort von ihm gehört. Er sprach nie viel. Sein Gesicht, seine Augen strahlten Güte aus.
Wenn wir bei der Station auf der anderen Seite des Staatswaldes ausstiegen, der Zug mit der vorgespannten Dampflokomotive wieder abgefahren war und wir die Gleise überquert und die erste kleine Steigung im Wald hinter uns gelassen hatten, stand mein Pate meist in der Biegung am Rande der Straße, wo er auf uns wartete und uns die leichten Taschen abnahm. Die schweren Koffer holte nach Feierabend sein Sohn mit dem Auto am Bahnhof ab.
Ich weiß nicht, weshalb er nur selten die wenigen Schritte bis zum Bahnhof herunterkam, sondern sich hinter den Stämmen beinahe zu verstecken schien. Vielleicht wollte er uns überraschen. So, stellte ich mir vor, hatte er, der große Bruder, früher auf seine kleine Schwester, meine Mutter, gewartet, wenn sie als Mädchen mit dem Leiterwagen Gemüse und Beeren in die Konservenfabrik nach Lenzburg bringen musste. Das war eine bescheidene Nebeneinnahme für die junge Witwe, die in der Schreinerei ihres früh verstorbenen Mannes zum Rechten sehen musste und aus ihrem kleinen Kolonialwarenladen, in dem auch die Dorfbewohner einkauften, nicht nur die sieben Kinder, sondern auch noch eine Handvoll Schneidergesellen verköstigte.
Später hat mein Pate auf einem Stück Land außerhalb des Dorfes einen kleinen Stall gebaut, der gerade Platz für eine Kuh und allenfalls noch ein Kalb bot. Zuerst stand nur die „Brune darin. Manchmal spannte mein Patenonkel die Brune vor einen Heuwagen. Und dann durfte ich aufsitzen und mitfahren, durch das Dorf und auf der anderen Seite hinaus auf das „Feld
, wo er ebenfalls noch ein größeres Stück Wiesland mit Kirsch- und Apfelbäumen besaß. Dann rechten wir das Heu oder Emd zusammen, luden es auf und fuhren zum Stall zurück, wo mein Pate es mit der Heugabel schwungvoll in den kleinen Heuboden über dem Stall hinaufwarf. Besonders stolz waren Arthur, ein Pflegesohn, der für alle wie ein Sohn war, und ich, wenn wir allein mit der Brune und dem Wagen zum Grasen fahren durften.
Im Herbst gingen wir die Äpfel pflücken und auflesen. Einer der Bäume trug leuchtend gelbe Äpfelchen. Gelb wie mein Schaukelpferd und die Eisenbahn. Usteräpfel. Sie waren meine Lieblingssorte, weil sie so süß waren. Kamen wir im Herbst nicht in die Ferien, dann schicke mir der Pate immer eine große Schachtel voll in die Stadt. Auch als gekochte Schnitze oder gedörrt schmeckten sie wundervoll. In meiner Erinnerung gehören diese Apfel und mein Pate untrennbar zusammen.
Hinter der Schreinerei stand eine große Mostpresse. Wir hielten unsere Trinkgläser unter die Abflussröhre und tranken den trübgoldenen Most frisch ab der Trotte. Nur wenn die Bauern des Dorfes kamen, um ihr Mostobst zu pressen, durften wir nicht zugreifen. Aber im Speicher über der Werkstatt standen genug Korbflaschen voll süßen Mostes, und Tante Frieda stellte immer wieder volle Krüge auf den Tisch.
Noch später, als die Brune bereits gestorben oder den Weg zum Metzger gegangen war, baute mein Pate einen großen Stall gleich neben dem alten, kleinen, der nun noch viel keiner schien. Es war, als suche er unter dem riesigen Vordach des neuen Stalls Schutz und Halt.
Das Schreinern überließ mein Pate nun ganz seinem Sohn. Neben dem Stall errichtete er einen Futtersilo. Abends, wenn er nach Hause kam und sich mit seinen vom Silofutter säuerlich stinkenden Kleidern an den Tisch setzen wolle, schickte ihn Tante Frieda, die sonst die Liebe in Person war, ins Bad und ließ ihn nicht eher an den Esstisch, als bis er die übelriechenden Kleider ausgezogen hatte und gewaschen wieder herunterkam.
Dies war in all den Jahren jeweils der einzige Augenblick, in dem ich die beiden einen Ton sprechen hörte, der zwar kein Streit war, aber doch eine leise Uneinigkeit ausdrückte. Mein Pate versuchte offenbar immer wieder, sich am Küchentisch häuslich niederzulassen, um ein Glas Most zu trinken, sich ein Stück von dem selbstgebackenen Brot abzuschneiden und zumindest die Titel oder Schlagzeilen im „Echo vom Maiengrün" zu lesen, ehe er sich ins obere Stockwerk ins Bad bequemte.
Ich muss zugeben, dass er einen saumäßigen Gestank verbreitete. Saumäßig ist genau das richtige Wort; denn das Silofutter stank tatsächlich wie jene Schweinemästerei, die etwas außerhalb unserer Stadt lag und an der wir oft auf unseren Spaziergängen mit den Eltern vorüberkamen. Mir tat er leid, wenn er dann etwas mürrisch von der Zeitung und vom Most ließ und folgsam die steile, knarrende Treppe hochstieg.
Mein Onkel hat seine Frau, die Tante Frieda, lange überlebt. Er wurde weit über neunzig Jahre alt. Meine Mutter, selber inzwischen Witfrau geworden, besuchte ihn oft für mehrere Tage oder Wochen, um seine Schwiegertochter zu entlasten, die neben ihrem eigenen Haushalt mit den Kindern und den Arbeitern der Schreinerei nun auch noch meinem Paten beim Ankleiden und Ausziehen helfen musste.
Noch in seinem hohen Alter war er ein großer, stattlicher Mann, ein Charakterkopf mit dichtem, wild wucherndem, schlohweißem Haar.
In der Nacht, als er starb, schlief sein Sohn im Bett neben ihm. Mein Cousin hatte gespürt, dass der mächtige Körper seines Vaters so schwach geworden war, dass er den Morgen kaum mehr erleben würde. Mitten in der Nacht erwachte er, hörte neben sich das gleichmäßige Atmen, das auf einmal aufhörte. Als er die Lampe anzündete, war das Licht eines friedvollen Lebens erloschen. Leise, wie er gelebt hatte, war der Mann, der für mich stets der größte war, aus diesem Leben hinübergegangen in die andere Welt.
Tante Frieda
Sie war die kleinste meiner Tanten. Aber sie hatte eine große Seele und ein großes Herz. Sie war die Frau meines Patenonkels. Neben seiner großen Gestalt wirkte sie noch kleiner, als sie an sich schon war. Sie hatte eine mollige, mütterliche Figur. Es schien fast unglaublich, dass ihrem Leib ein Sohn entsprossen war, der einmal die Größe seines Vaters überbieten würde.
Die Stimme von Tante Frieda war melodiös und süß wie Honig, aber nie süßlich. Sie klang bestimmt und ehrlich. Ich habe Tante Frieda selten ohne Arbeit gesehen. Vielleicht abends, wenn sie auf der Kaust, der Ofenbank, in der Stube saß und im „Echo vom Maiengrün, im „Gelben Heftli
oder im Eulenspiegelkalender las. Arbeit gab es ja genug. Sie hatte für eine große Familie zu sorgen. Nebst Gatte und Sohn war da noch ein Pflegekind, Arthur. Mein Cousin war zwölf Jahre älter als ich. Arthur, den sie als kleinen Jungen angenommen hatten und wie ein eigenes Kind liebten, war gleich alt wie ich. Zum Mittagessen kamen immer auch ein paar Arbeiter aus der Werkstatt herauf. Im Nachbarhaus, das durch die angebaute Werkstatt mit