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Ein Mann zwei Leben: Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen
Ein Mann zwei Leben: Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen
Ein Mann zwei Leben: Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen
eBook211 Seiten3 Stunden

Ein Mann zwei Leben: Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen

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Über dieses E-Book

Auf der Grenze zwischen Leben und Tod erlebt ein Mann seine Geburt in ein Leben, das mehr als 150 Jahre zurückliegt. Von da an gibt es immer wieder Augenblicke, in denen er in sein früheres Leben zurückversetzt wird. Langsam ergibt sich ein abgerundetes Bild jener etwas zwielichtigen Existenz. Er beginnt zu erkennen, weshalb sein bisheriges Leben so und nicht anders verlaufen ist und wo manche seiner Gefühle und Empfindungen ihre Wurzeln haben. Auch seine Beziehungen zu einigen Menschen erhalten ein neues Gesicht. Darüber hinaus ist dieser Roman eine schöne Liebesgeschichte
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Juli 2016
ISBN9783738078053
Ein Mann zwei Leben: Das seltsame Leben des Manfred Keilhofer in St. Gallen

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    Buchvorschau

    Ein Mann zwei Leben - Martin Renold

    Der Unfall

    Martin Renold

    Ein Mann

    zwei Leben

    Das seltsame Leben

    des Manfred Keilhofer

    in St. Gallen

    Seit dem fürchterlichen Unfall im Frühsommer hat sich mein Leben radikal verändert. Nicht nur weil ich Karin verloren habe. Unsere Ehe fand damals ein abruptes Ende. Nach dreiundzwanzig nicht nur himmelblauen Jahren. Oft waren sie von dräuenden Wolken verhangen, oft hatten sich dunkle Gewitter entladen, grelle Blitze und krachende Donner hatten uns erschreckt. Ab und zu verwüsteten Hagelkörner die zarten Blüten unseres Gärtchens, das wir uns bepflanzt hatten, ohne es genügend sorgfältig zu hegen. Wir seien gar nicht richtig verheiratet, warf mir Karin manchmal während eines solchen Unwetters vor.

    Was heißt: richtig verheiratet? Wer kann das schon von sich und seiner Ehe behaupten, vom Tag der Trauung an „bis dass der Tod euch scheidet"? Ununterbrochen, Tag für Tag. Es gibt doch in jeder Ehe Zeiten, in denen man sich fremd vorkommt, einander nicht mehr zu verstehen glaubt, wo man sich fragt, ob man sich überhaupt noch liebt, ob die Ehe, die man führt, tatsächlich das ist, was man sich von ihr und seinem Partner einmal versprochen hat.

    Zugegeben, solche Zeiten des Zweifels und des klimatischen Tiefs kamen in unserer Ehe vielleicht häufiger vor oder dauerten länger als in manch anderer Ehe.

    „Warum lassen wir uns denn nicht scheiden?", schrie ich Karin vier Wochen vor dem Unfall an, als sie mir im Streit schwere Vorwürfe an den Kopf schleuderte und wieder einmal den Wert unserer Ehe bezweifelte.

    „Ja, warum eigentlich nicht? entgegnete sie. „Du brauchst es mir nur zu sagen, wenn es dir ernst ist.

    Es war mir ernster, als ich zugeben wollte. Aber ich hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken und mit ihr noch länger zu streiten. Ich stieß den Frühstücksteller unwirsch von mir weg. Den Stuhl hätten meine im Aufschießen zurückschnellenden Kniekehlen umgeworfen, wäre er nicht an die Wand geprallt. Ich schlüpfte in meine Jacke und verließ das Haus.

    Hedwig folgte mir hastig. Wir gingen eine Weile nebeneinander her. Ich, immer noch erregt und unzufrieden mit mir selbst und meiner Umgebung, beachtete sie kaum.

    „Ihr solltet euch wirklich scheiden lassen, machte sie sich endlich bemerkbar. „Auf uns Kinder braucht ihr ja keine Rücksicht mehr zu nehmen. Wir sind alt genug.

    Ich weiß nicht, ob sie tatsächlich meinte, was sie sagte, oder ob sie mich damit nur zum Nachdenken zwingen wollte. In jenem Augenblick nahm ich es für bare Münze.

    „Ja, ja, aber das ist nicht so einfach, antwortete ich ihr. „Martins Studium kostet noch eine Menge Geld. Eine Scheidung brächte viele Probleme, finanzielle und andere.

    Unsere Wege trennten sich bei der Bushaltestelle.

    Ich hatte Hedwig nachgeschaut, bis ich ihren blonden Haarschopf nicht mehr sehen konnte. Durfte ich es ihr und ihrem Bruder antun? Eigentlich hatte sie ja recht. Sie waren jetzt erwachsen. Hatten Karin und ich doch nur wegen der Kinder an unserer Ehe festgehalten. Inge, unsere ältere Tochter lebte ohnehin nicht mehr bei uns. Sie ist verheiratet. Und Martin und Hedwig sind jetzt auch in einem Alter, in dem sie eine Scheidung ihrer Eltern verstehen könnten und nicht mehr darunter leiden würden.

    So in Gedanken versunken, hätte ich beinahe den Bus verpasst. Im letzten Moment hatte ich gesehen, dass die Menschen, die mit mir auf den Bus gewartet hatten, schon eingestiegen waren. In dem Moment, als ich einstieg, schlossen sich die Türen. Da der Bus bereits voll war, blieb ich in der Nähe der Tür stehen.

    Mein Ärger, der sich unterwegs ein wenige gelegt hatte, stieg wieder an. Warum nur war ich so unbeherrscht gewesen? Das entsprach überhaupt nicht meinem Charakter. Karins Aggressivität trieb mich immer wieder zu solchen Reaktionen. Sie drehte mir oft die Worte im Mund herum, wollte mich nicht verstehen, witterte hinter allem, was ich sagte, irgendwelche undurchschaubaren Absichten. Im Grunde bin ich ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Meine Bekannten glauben, ich stünde in jeder Situation über der Sache. Warum zwang mich Karin immer wieder, anders zu sein, nicht so zu sein, wie ich meiner innersten Natur entsprechend sein möchte? Jede meiner Ungezügeltheiten empfand ich als einen Schritt zurück auf dem Weg meines Lebens, der doch stets weiter vorwärts und höher, zu Abgeklärtheit und innerem Frieden führen sollte.

    Ich schämte mich vor mir selber. Ich machte Karin dafür verantwortlich. War ich ihr deshalb böse und gleichgültig ihr gegenüber, so dass sie es manchmal wirklich fast nicht mehr aushielt mit mir, obwohl sie mich liebte? Ich muss zugeben, dass ihre Liebe grösser und beständiger war als meine.

    Hätte ich gewusst, was vier Wochen später geschah, ich hätte mich wohl beherrscht. Doch nun war es zu spät. Es ging mir wie vielen, die nach dem Tod eines Angehörigen bereuen, etwas Gutes und der Liebe Förderliches versäumt oder etwas getan zu haben, das die Harmonie zerstörte. Doch wer kann schon so leben, dass bei einem plötzlichen Tod nicht etwas zurückbleibt, das man vorher noch gerne aus der Welt geschafft hätte.

    Karins Tod ist mir nahegegangen. Wenn man dreiundzwanzig Jahre miteinander lebt, verbindet einen vieles. Und wenn ich es recht bedenke, kamen wir trotz allem noch ordentlich gut miteinander aus, vor allem die ersten paar Jahre, bis Angelika in mein Leben trat. An Karins monatliche Zornausbrüche, die offenbar mit ihren „Tagen" zusammenhingen, für die sie jedes Mal auch von mir meine volle Aufmerksamkeit forderte, hatte ich mich gewöhnt. Ich will ihr das auch nicht ankreiden. Welcher Mann weiß schon, was für Prozesse in der Biologie einer Frau sich in den Phasen des Mondes abspielen? Später, als sie erfuhr, dass ich Angelika liebte, wurde es schlimmer. Da konnte ich ihre Ausbrüche nicht mehr mit dem Kalender berechnen und vorhersehen. Doch als sie dann innerlich mehr Distanz zu mir genommen hatte und selbst auch außerhalb unserer Ehe Erfüllung ihrer Liebe fand, wurden die Stürme seltener. Die Erschütterungen waren nur noch leichtere Nachbeben.

    In den Trennungsschmerz, den ich bei ihrem Tod empfand, mischte sich Mitleid. Sie musste zwar nicht leiden. Sie war sofort tot. Aber sie war nicht vorbereitet. Sie war noch jung, hing noch sehr an ihrem Leben. Sie erwartete noch viel von der Zukunft. Auch ich. Trotzdem glaube ich, hätte ich den Tod leichter annehmen können als sie. Es hätte ja auch mich treffen können. Wir saßen im gleichen Auto. Ich hätte ihr die Freiheit von mir und ein neues Leben gegönnt.

    Ich erinnere mich, dass Karin mir ziemlich am Anfang unserer Ehe einmal sagte, es wäre ihr lieber, ich wäre tot, als dass sie mich an eine andere Frau verlöre. Ich konnte das nicht verstehen. Wie kann man einen Menschen, den man liebt, lieber tot sehen als glücklich mit jemanden, den er liebt? Ich sagte ihr, ich würde sie lieber einem anderen Mann überlassen. Ich sähe sie lieber in den Armen eines andern als tot in einem Sarg. Das nun konnte Karin nicht verstehen. Sie zweifelte an meiner Liebe. Ich dürfe ja nicht nur an mich und meinen Schmerz denken, erwiderte ich. Wahre Liebe wolle doch das Glück des andern.

    Jetzt ist Karin tot. Aber ich habe nicht nur sie verloren. Als ich nach dem Unfall wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich allmählich, dass mir der linke Fuß fehlte und das rechte Bein bis zum Knie. Ich wollte es zuerst nicht glauben, denn ich spürte doch die Bettdecke an den Zehen, und die Füße stießen sich aneinander. Und manchmal schmerzte mich die rechte Wade wie nach einem Muskelkrampf. Aber die dicken Verbände – der Stummel am rechten Bein hing wie ein zu kurzer Dreschflegel an meinem Kniegelenk – ließen keinen Zweifel aufkommen.

    Es ist weniger der Verlust Karins, der mein äußerliches Leben verändert hat, als der Rollstuhl, in dem ich nun den größten Teil meiner Tage verbringe, seit ich aus dem Spital entlassen wurde. Es wäre falsch zu sagen, Angelika hätte Karins Stelle eingenommen. Angelika füllt nicht nur jene Leere aus, die durch Karins Tod in meinem Leben entstanden ist, sondern das Vakuum, das all die Jahre in unserer Ehe bestanden hat. Schon lange vor dem Unfall. Allein mit ihrer großen und doch stillen, nicht besitzergreifenden Liebe. Aber jetzt ist sie nicht nur mit ihrer Liebe, ihren Gedanken bei mir. Am Tag, als ich aus dem Krankenhaus kam, war sie einfach da – und blieb, mit ihrem Kind.

    Die Amputation der Glieder hat mich ans Haus gefesselt. Der Rollstuhl verschafft mir eine beschränkte Bewegungsfreiheit, vom Bett zum Tisch, vom Tisch zum Schreibpult, von da zur Ecke neben dem Sofa, wo ich lese oder mir von Angelika etwas vorlesen lasse.

    Ich habe meine bisherige Stelle aufgeben müssen. Die Invalidenversicherung zahlt mir eine Rente, und von meiner privaten Versicherung erhalte ich ebenfalls etwas. Karin war nicht hoch versichert. Doch alles zusammen reicht, um durchzukommen. Falls Angelika mich trotz meiner Behinderung heiraten will, braucht auch sie sich für ihre Zukunft keine großen Sorgen zu machen. Wir haben ja auch noch unser Haus. Und die graphologischen Gutachten, die ich, seit ich im Rollstuhl sitze, für verschiedene Leute mache, bringen auch etwas ein.

    Doch es sind nicht nur die äußerlichen Veränderungen, die der Unfall mit sich gebracht hat. Für mich zählen die inneren ebenso. Ich habe nun mehr Zeit, über das Leben nachzudenken.

    Nachdem Karin und ich uns oft aus dem Weg gegangen sind und uns in unseren eigenen Zimmern aufgehalten haben, ist es ein neues, schönes Gefühl, abends nicht mehr allein zu sein. Angelika sitzt neben mir. Jetzt bekomme ich zwar keine Mails mehr von ihr. Da Angelika ihre Mails an meine Adresse im Geschäft richtete, konnte ich sie lesen, ohne dass Karin etwas davon erfuhr.

    Jetzt sitzt Angelika jeden Abend bei mir. Wir reden miteinander, diskutieren. Angelika zwingt mich zum Denken. Manchmal liest sie mir vor, oder wir halten uns die Hände und schweigen. Angelika ist eine Frau, die schweigen und die im Schweigen ihre Empfindungen mitteilen kann.

    Ich fühle mich glücklich, obwohl ich mir früher mein Glück unter anderen Voraussetzungen vorgestellt hatte.

    Ich habe ein neues Leben gewonnen, ein zweites.

    Dies meine ich ganz real. Schon vor dem Unfall hatte ich ab und zu das unbestimmte Gefühl, als hätte ich schon früher einmal gelebt. Da waren manchmal Empfindungen, die wie aus einer Zeit vor meiner Geburt zu kommen schienen. Oder dann gab es Dinge in meinem Leben, die ich mir nur als Folge von Geschehnissen in einem früheren Leben vorstellen konnte.

    Eine erste bewusste Erkenntnis von einem Leben vor diesem Leben hatte ich bei dem Unfall. Seit jener schrecklichen Sekunde habe ich Einblick in mein zweites Leben. Eigentlich müsste ich sagen: das erste. Denn es ist ein früheres Leben. Vielleicht aber gab es ja schon eines davor, oder gar mehrere. Ich weiß es nicht. Nennen wir es also einfach das vorige Leben.

    Inge ist erst dreiundzwanzig, aber sie ist schon bald vier Jahre verheiratet. Sie ist meine ältere Tochter. Ihr Mann ist Angestellter einer Transportfirma in Lugano. Sie ging früh von zu Hause weg und folgte dem Drang der Liebe. Das mag zum Teil daran liegen, dass sie daheim zwischen uns Eltern keine allzu große Wärme spürte. Wir waren ihr und unsern zwei jüngeren Kindern, Martin und Hedwig, gewiss keine vernachlässigende Eltern. Wir haben uns sicher in ihrer Gegenwart kaum mehr gestritten, als andere Eltern in sogenannt intakten Ehen dies auch tun. Aber sie hatten vielleicht doch gespürt, dass unsere Liebe, vor allem meine, im Lauf der Zeit ziemlich erkaltet war.

    Inge war ein ruhiges Kind. Sie weinte nicht viel. Wenn ich sie in die Arme nahm, hörte sie immer sofort zu schreien auf. Auch aus der Flasche trank sie lieber, wenn ich sie ihr reichte. Vielleicht meinte ich das auch nur. Als stolzer Vater bildet man sich gerne so etwas ein. Aber sogar Karin musste anerkennen, dass Inge und später auch Martin und Hedwig, zumindest im Säuglingsalter, zufriedener waren, wenn ich sie in den Armen hielt. Meine Ruhe wirkte wohltuend auf sie und strömte auf sie über, während Karin in allem weniger geduldig war.

    Später hat sich Inge seltener an mich oder Karin geschmiegt. Sie war ein Kind, das Zärtlichkeiten eher auswich. Auch wenn wir glaubten, sie trösten oder aufmuntern zu müssen, schienen ihr körperliche Berührungen peinlich zu sein. Sie fragte auch nicht so viel wie andere Kinder. Sie suchte sich für alles ihre eigenen Erklärungen. Ein schillernder Ölfleck auf der Straße, war für sie nichts „Fragwürdiges. „Das ist ein Regenbogen, der vom Himmel gefallen ist, sagte sie mit der ihr in allen Dingen eigenen Bestimmtheit. Obwohl sie manchmal fast zerbrechlich oder mimosenhaft wirkte, versuchte sie immer, mit allem selbst fertigzuwerden. Vielleicht war auch ihre Scheu vor Zärtlichkeit nur ein Mittel, sich frei zu machen und sich gegenüber der Umwelt zu behaupten.

    Da war Hedwig gerade das Gegenteil. Sie ließ sich, noch als sie den Windeln entwachsen war, gerne „vernaschen" und suchte den körperlichen Kontakt, mit Karin vor allem, die das Defizit an Zärtlichkeit von meiner Seite auf diese Weise fast überschwänglich kompensierte. Und als Hedwig größer wurde, war es ihr geradezu ein Bedürfnis, diesen Kontakt im Spiel und im Streit mit Martin zu suchen.

    Als ich nach dem Unfall einmal einen früheren Brief von Inge hervornahm und die Schrift analysierte (seit ich im Rollstuhl sitze, habe ich mich intensiv mit Graphologie befasst), fiel mir eine negative Mutterbindung auf. Dies wunderte mich zuerst, denn Inge hing sehr an ihrer Mutter. Telefonierte häufig mit ihrer Mutter. Für mich blieb höchstens noch ein Gruß. Auch mit Hedwig telefonierte sie oft und lange. Nur Martin und ich mussten mit den Brosamen vorliebnehmen, die jeweils am Ende ihrer Gespräche an uns abfielen.

    Aus Inges Schrift war aber auch eine gewisse Ablehnung des Vaters herauszulesen. Das schien mir naheliegender als die negative Mutterbindung. Denn sie als die Älteste hatte gewiss die Disharmonie zwischen Karin und mir am ehesten bemerkt und, da Karin darunter mehr litt als ich, die Schuld mir zugeschrieben.

    „Weißt du, sagte mir Inge, als ich ihr, etwas unsicher über das Ergebnis meiner Untersuchungen, die Schriftanalyse zeigte, „ich glaube, das stimmt schon. Ich habe mich so stark mit Mutter verbunden gefühlt, vielleicht sogar mit ihr identifiziert, dass ich unbewusst von ihr wegstrebte, von ihr loskommen wollte.

    Diese und ähnliche Bestätigungen von Freunden, deren Schrift ich analysiert hatte, bestärkten mich, meine Kenntnisse und Erfahrungen weiter anzuwenden. Bald beanspruchten auch weitere Bekannte meine Dienste gegen Entgelt und gaben mir damit das Gefühl, trotz meiner Behinderung nicht nutzlos zu sein und mich sogar auf einem neuen Feld betätigen zu können.

    Der Tag unseres Unfalls hatte in fröhlicher Stimmung begonnen. Die Sonne schien früh in mein Zimmer. Weiße Föhnstreifen klebten am Himmel. Solche Tage duften nach Süden, nach Ferne. Man bleibt ein Weilchen länger am geöffneten Fenster stehen, atmet tiefer als sonst. Denkt an Angelika, schickt in Gedanken einen heimlichen Gruß und hat das Gefühl, dass er hinter jenen Hügeln ankommt, aufgenommen wird; und ein jähes Anrühren der Seele zeigt an, dass auch von dort her Gedanken auf dich zuströmen. Du schließt die Augen und weißt, dass das Bild, das für eine Sekunde in dir aufblitzt, eine Erinnerung an einen andern solchen Morgen ist. Bildest dir vielleicht sogar ein, dass diese Erinnerung von einer gleichzeitigen und gleichartigen Empfindung in jenem anderen Menschen in der Ferne ausgelöst wurde.

    An einem solchen Morgen wie dem heutigen waren Angelika und ich miteinander weggefahren in ein paar Tage gemeinsamen Urlaubs. Wir hatten einige romanische und gotische Kirchen in der französischen Schweiz besucht: Donatyre, Fribourg, Hauterive, Payerne, Romainmôtier. Es war ein echtes gemeinsames Interesse, das dann auch die nächtlichen Stunden überstrahlte. Und das Glück, das Empfinden eines von Ewigkeit vorherbestimmten Einsseins, einer schicksalhaften Zusammengehörigkeit ließ ein Gefühl von Schuld oder Sünde gar nicht aufkommen.

    An diesem Tag nun aber fuhren Karin und ich mit Inge. Unsere Tochter hatte uns über die Pfingsttage besucht, ohne ihren Mann, und wollte uns nun noch für ein paar Tage mit nach Lugano nehmen.

    Mein kurzer Gruß aus dem Schlafzimmer in den frischen Morgen hinaus und an die ferne Geliebte hatte meine heitere

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