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Der tröstende Duft von Rosinenschnecken
Der tröstende Duft von Rosinenschnecken
Der tröstende Duft von Rosinenschnecken
eBook390 Seiten5 Stunden

Der tröstende Duft von Rosinenschnecken

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Über dieses E-Book

Anne Hartmann ist sechsunddreißig Jahre alt und Single, als sie dem dreizehn Jahre älteren Architekten Dirk Jakobsen begegnet und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Schon nach wenigen Monaten ihrer Beziehung beschließen die beiden zusammenzuleben. Anne fühlt sich am Ziel ihrer Träume angekommen. Nach kurzer Zeit ungetrübter Zweisamkeit aber überschlagen sich die Ereignisse. Dirks demenzkranke Mutter zieht bei ihnen ein, genauso wie seine kratzbürstige, schwangere Tochter Miriam und sein introvertierter Sohn Florian. Damit findet sich Anne in einem Familiengefüge wieder, das ihr Leben und die Beziehung zu Dirk auf eine harte Probe stellt. Als Anne trotz aller Widrigkeiten den Heiratsantrag von Dirk annimmt, ahnt sie nicht, dass ihr die größte Katastrophe noch bevorsteht. An dieser Stelle beginnt die eigentliche Geschichte Annes. Sie lässt uns teilhaben an Trauer und Verzweiflung. Sie nimmt uns mit auf eine Reise, die vom Leben und Überleben erzählt, von Liebe und Freundschaft, von Müttern und Töchtern und von enttäuschtem Vertrauen und zweiten Chancen.

Und am Ende werden wir uns einer Familie nahe fühlen, die eigentlich keine sein wollte.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. März 2020
ISBN9783347036444
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    Buchvorschau

    Der tröstende Duft von Rosinenschnecken - Regine Wroblewski

    Kapitel 1

    März 2018

    Die Geräusche um mich herum verschwanden im Nichts. Ich bekam keine Luft. Als ich versuchte, mir an den Hals zu greifen, um auf irgendeine Art und Weise die Enge in meinem Hals loszuwerden, schienen meine Arme gefesselt. Es war, als drückte mich eine riesige Betonplatte zu Boden.

    „Frau Hartmann? Oh Gott, Frau Hartmann, hören sie mich? Geht es Ihnen nicht gut?"

    Eine aufgeregte, piepsige Stimme drang durch den Beton, und ich fühlte mich an den Schultern gepackt und vorsichtig geschüttelt. Dies ermöglichte mir einen ersten Atemzug, dann noch einen und noch einen. Ich japste nach Luft wie eine Ertrinkende, die aus schwerer Seenot gerettet wird. Als ich meine Augen öffnete, lag ich jedoch weder am Ufer eines tosenden Gewässers noch unter einer Steinlawine. Ich befand mich im Empfangsraum unseres örtlichen Bestattungsinstituts, um die Beerdigung zu regeln.

    Seine Beerdigung

    Mit der Unterstützung des froschäugigen Inhabers dieses Instituts, Herrn Gerber, schaffte ich es aufzustehen und mich auf den Besucherstuhl zu setzen.

    „Frau Schildknecht, bringen Sie unserer lieben Frau Hartmann bitte ein Glas Wasser. Schnell."

    Für einen Mann sprach Herr Gerber etwa zwei Oktaven zu hoch. In Kombination mit seinen hektischen, ungelenken Bewegungen und seinen schweißnassen Händen machte ihn das in meinen Augen nicht gerade zu einem Menschen, in dessen Nähe man sich geborgen und getröstet fühlte. Auf der anderen Seite war er uns als der Bestattungsunternehmer wärmstens empfohlen worden. Ich sollte deshalb nicht vorschnell urteilen.

    Frau Schildknecht war inzwischen mit einem Glas Wasser zurückgekehrt, von welchem ich nur in kleinen Schlückchen trinken konnte. Was gäbe ich jetzt für eine dieser kleinen Wunderpillen, die mir mein Arzt noch am Tag von Dirks Tod verschrieben hatte und die meine Seelenqual bei Bedarf seit drei Tagen in ein schützendes Kleid aus Watte hüllten. Nach einem Moment der Konzentration auf mein Atemzentrum war ich schließlich in der Lage, der Aufforderung von Herrn Gerber nachzukommen und mir die Särge im großen Ausstellungsraum anzusehen.

    Ich entschied mich für eines der einfachen Modelle. Dirk sollte verbrannt werden, daher erschien es mir völlig unsinnig, ihn in einem hochwertigen, handgearbeiteten Eichensarg mit wertvollen Intarsien und aufwendig geschmiedeten Beschlägen dem Feuer eines Krematoriums preiszugeben. Sollte es mich beunruhigen, dass ich in meiner Verfassung überhaupt zu solch pragmatischen Gedanken fähig war? Dass ich in der Lage war, eine simple Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen?

    „Dann hätten wir soweit alle Formalitäten besprochen, liebe Frau Hartmann. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden. Der Herr Albrecht, unser Trauerredner, wird sich dann gleich morgen mit Ihnen in Verbindung setzen! Auf Wiedersehen, Frau Hartmann. Alles Gute für Sie und passen Sie auf sich auf! Es ist nie leicht für die Hinterbliebenen, und wenn der Verstorbene noch so jung, also, so wie bei ihnen, und so unerwartet, naja, scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe anzunehmen! Das ist keine Schande, Frau Hartmann. Lassen Sie sich in dieser schweren Zeit helfen!"

    Endlich wieder an der frischen Luft, wischte ich mir den schweißfeuchten Händedruck von Herrn Gerber an meinem Rock ab und unterdrückte einen Würgereiz. Ich steuerte die nächste freie Bank an unserem Stadtteich an und ließ zu, dass die hellen Sonnenstrahlen unverschämt freundlich und warm in mein Gesicht fielen.

    Dirk und ich hatten es geliebt, in den warmen Monaten früh mit einem Becher Kaffee in der Morgensonne vor dem Haus zu sitzen, die Augen zu schließen und zuzuhören, wie der Tag um uns herum langsam lauter wurde. Das war unsere Zeit. In den kalten Monaten vollzogen wir das gleiche Ritual auf der alten, durchgesessenen gepolsterten Küchenbank, die uns die Vorbesitzerin dagelassen hatte und an der seitdem (warum auch immer) unser Herz hing.

    Ganz unabsichtlich den alten Rollenmustern verhaftet, heizte Dirk in aller Früh den Ofen an, und ich brühte den Kaffee auf. Ein Ritual. Eine Tradition. Kann man nach solch kurzer Zeit schon von Tradition sprechen? Ich weiß es nicht.

    Dirk

    Der Schmerz nahm genau in dem Augenblick wieder von mir Besitz, als sich eine Wolke vor die Sonne schob und so den wärmenden Strahlen den Weg abschnitt. Ich schloss meine Augen, reiste in meinen Gedanken vier Jahre zurück und versuchte, die Erinnerung wie ein heilendes Pflaster auf die frische Wunde zu legen.

    April 2014

    Dirk und ich lernten uns ganz unspektakulär beim Einkaufen kennen. Ich war gerade erst nach Neustadt an die Ostsee gezogen, hatte eine alte Liebe, enttäuschte Hoffnungen und einen unbefriedigenden Job hinter mir gelassen und wollte mich nun, mit nicht mehr ganz knackfrischen sechsunddreißig Jahren, neu sortieren, neu anfangen.

    Bis auf meine ganz persönlichen Dinge wie Kleidung, Schmuck, Bücher, ein paar wenige Erinnerungsstücke und einige Bilder, hatte ich nichts aus meinem alten Leben mitnehmen wollen. Die kleine Ferienwohnung, die ich mir nahe der Innenstadt angemietet hatte, war möbliert und nicht als langfristige Lösung gedacht. Sie ermöglichte mir lediglich ein stressfreies Ankommen und ließ noch Luft nach oben, falls ich mich tatsächlich entschließen sollte, in Neustadt zu bleiben.

    Nachdem ich meine Habseligkeiten in der Wohnung verteilt und das leicht angestaubte Ambiente mit deren Hilfe etwas aufgefrischt hatte, machte ich mich bestens gelaunt auf den Weg zum nächsten Supermarkt. Eine gute Flasche Rotwein und eine extra große Pizza Salami standen ganz oben auf meiner Einkaufliste. Offensichtlich war ich an diesem Abend aber nicht die einzige, die vorhatte, sich mit einer wunderbaren Kombination aus reichlich Alkohol und fettem Essen die Seele zu streicheln.

    An der Tiefkühltruhe stieß ich beim Zugriff auf die letzte Pizza Salami mit einem Mann zusammen. Er besaß nicht nur die auffallendsten blauen Augen, die ich jemals gesehen hatte, sondern beanspruchte auch mit kräftigen Händen und auffallendem Bizeps vehement den Pizzakarton für sich. Nun, wenn ich so zurückdenke, war diese Begegnung natürlich alles andere als unspektakulär. Gerade, als ich kurz davor war, dem unverschämten Kerl einen Vortrag über Etikette und Anstand zu halten, bemerkte ich das Blitzen in seinen Augen und die tiefer werdenden Lachfältchen in deren Winkeln. Wir hielten beide in unserem Kampf um das Abendessen inne und fingen lauthals an zu lachen. Mein Kontrahent ließ vom Objekt der Begierde ab und deutete eine leichte Verbeugung an.

    „Meine verehrte Dame, darf ich Ihnen diese Pizza überlassen? Es wäre mir eine Ehre!"

    Ein verschmitztes Lächeln rundete dieses Angebot ab und boom – das war’s. Schon seine warme, tiefe Stimme hatte meine empfindlichsten Sensoren getroffen, aber sein Lächeln gab mir den Rest. Er hatte mich. War er verheiratet? Keine Ahnung. Hatte er Kinder? Wer weiß. War er schwul? Bitte nicht! Ein treuloses Arschloch, ein arbeitsscheuer Schmarotzer, ein gefährlicher Krimineller? Egal. Ich wusste rein gar nichts von ihm, aber – er hatte mich.

    Liebe auf den ersten Blick? Lächerlich! Unmöglich!

    Ich war so hoffnungslos überfordert von der plötzlichen Überflutung meines Körpers mit Lusthormonen und glücklich machenden Botenstoffen, dass ich ihm eine witzige, schlagfertige oder wenigstens intelligente Antwort schuldig blieb. Ich warf den Karton in den Einkaufswagen, bedankte mich mit einem kurzen Nicken und verschwand eiligst in Richtung Waschpulver und Toilettenartikel. Mein Herz schlug wie verrückt. Aus Angst, unsere Blicke könnten sich abermals treffen, widerstand ich der Versuchung, noch einmal zurück zu schauen. Nach einem Zickzacklauf durch nicht enden woll- ende Regalreihen, hatte ich mich etwas beruhigt. Ich füllte meinen Einkaufswagen mit einigen nützlichen und notwendigen Dingen und schlenderte zu guter Letzt suchend am gut sortierten Weinregal entlang. Plötzlich tauchte eine Flasche Rotwein direkt vor meiner Nase auf.

    „Ein italienischer Cabernet Sauvignon, Jahrgang 2011, harmoniert wunderbar mit Ihrer Pizza Salami", raunte mir eine erst seit kurzem bekannte Stimme ins linke Ohr.

    Meine Knie wurden weich und ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Ein zweites Mal weglaufen kam allerdings nicht in Frage. Also drehte ich mich nach einem tiefen Atemzug, der mir ca. zwei Sekunden Zeit verschaffte, entschlossen um und nahm meiner Tiefkühltruhenbekanntschaft die Flasche aus der Hand.

    „Mein absoluter Lieblingswein! Ich danke Ihnen!" Diese Augen, diese klarblauen Augen.

    „Was halten Sie davon, wenn wir den Wein gemeinsam trinken? Hatte ich das wirklich gesagt? Oh Gott, ich hatte! „N … natürlich nur, wenn Sie zufällig heute Abend … also ich meine, wahrscheinlich haben Sie gar keine … oder es wartet vielleicht jemand … also … äh … es –

    „Sehr gern! Er unterbrach meinen diffusen Redeschwall, der ursprünglich ein zusammenhängender, grammatikalisch korrekter Satz werden sollte. „Zufällig habe ich Zeit. Es wartet niemand auf mich, und ein Abendessen mit Ihnen scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, heute noch an meine Lieblingspizza zu kommen. Wie kann ich da ablehnen?

    Zwinkern. Lächeln. Dieser Kerl machte einfach alles richtig.

    Zwanzig Minuten später standen wir mit einem Glas Cabernet Sauvignon in meiner Küche und prosteten uns zu.

    „Dirk!"

    „Anne!"

    Dann die Musterung. Dirks Haar war bereits mehr grau als dunkelblond und eine ganz leichte Naturkrause ließ es ein wenig wirr aussehen. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Seine Körperlänge konnte man nicht gerade als Gardemaß bezeichnen, aber er war immerhin deutlich größer als ich, wobei man an 1,56 Meter natürlich relativ leicht vorbeizieht. Obwohl nicht gerade gertenschlank und mit sichtbarem Genießer-Bauch, wirkte er durchtrainiert und strahlte eine Lässigkeit aus, die ich äußerst sexy fand.

    Als ich mit meiner Begutachtung fertig war, wurde mir bewusst, dass auch ich mich gerade auf dem Prüfstand befand. Unsicherheit erfasste mich.

    Na gut, ich war vielleicht nicht ganz unattraktiv, was ich hauptsächlich meinen vollen, schön geschwungenen Lippen und den großen Augen zuschrieb, aber als Schönheit ging ich bei weitem nicht durch. Außerdem war ich für mein Gewicht definitiv einige Zentimeter zu klein. Die Bezeichnung „schlank" würde nur jemand durchgehen lassen, der wenig vom Schönheitsideal der aktuellen TopmodelGeneration verstand.

    Meine Haare konnte man entweder lieben oder hassen, dazwischen gab es nichts. Ich hasste sie meistens. Straßenköterafro oder nicht zu bändigende Kopfkatastrophe waren Bezeichnungen, die meine Mutter ihnen in meinen Kindertagen gab, womit sie maßgeblich zu meinem Haartrauma beigetragen hatte. Als junges Mädchen hatte ich ständig versucht, das krause Haar zu glätten, aber dann sah ich nicht schöner, sondern einfach nur langweilig aus. Das brachte die aschige Farbe mit sich, die eigentlich keine war und die ich neuerdings mit einem Haselnussbraun mit Goldreflexen auffrischte.

    All das ging mir durch den Kopf, als ich Dirk dabei zusah, wie er mich ansah.

    Der weitere Verlauf des Abends ist schnell erzählt. Wir unterhielten uns nicht stundenlang, um möglichst viel vom Leben das anderen zu erfahren. Wir teilten uns nicht die Salamipizza, aßen, tranken und lachten bis in die frühen Morgenstunden und verabredeten uns dann für den nächsten Tag, um uns noch besser kennen zu lernen.

    Nein. Das alles taten wir nicht.

    Eine halbe Stunde nach unserer ersten Begegnung im Supermarkt fielen wir übereinander her. Wir hatten Sex. Guten Sex. Stundenlang. Die Pizza verbrannte im Ofen und die halbvolle Flasche Wein ging zu Bruch, als wir uns auf dem Küchentisch liebten. Obgleich es befremdlich erscheint, habe ich bewusst das Wort lieben benutzt. Ich hätte sagen können: wir haben gevögelt, oder wir haben es getrieben. Diese Formulierungen würden wohl viel eher zu einer solch kuriosen Situation passen. Aber so habe ich es nicht empfunden, so haben wir beide es nicht empfunden. Wir haben es mit uns geschehen lassen und es fühlte sich richtig an.

    Vertraut.

    Es war, als hätten wir etwas gefunden, von dem wir bis dahin gar nicht wussten, dass wir es gesucht hatten.

    Wir blieben fünf Tage lang in meiner Wohnung, ohne sie ein einziges Mal zu verlassen. Die Lebensmittel, die wir am Tag unserer Begegnung gekauft hatten, reichten aus, um uns am Leben zu halten. Zweimal ließen wir am Abend den Pizzaboten kommen. Frische Luft tankten wir am offenen Fenster, unsere Handys hatten wir abgestellt und unsere Kleidung bestand aus zwei Duschhandtüchern, in die wir uns sporadisch wickelten, wenn es uns notwendig erschien.

    Wir mussten nämlich feststellen, dass unsere Freikörperkultur in der Küche nur sehr bedingt von Vorteil war. Am Küchenfenster gab es weder Rollo noch Gardine oder Ähnliches und direkt gegenüber, in einer Entfernung von ca. 15 Metern, befand sich das Küchenfenster des Nachbarhauses. An diesem wiederum saß von 9.00 Uhr in der Früh bis 20.00 Uhr am Abend – unterbrochen von einer anderthalbstündigen Mittagspause – ein älterer kettenrauchender Herr, dessen Fenster für ihn das Tor zur Welt bedeutete. In diese Welt hatten wir nun Einzug gehalten und begeisterten den alten Mann ganz unabsichtlich mit unserer Freizügigkeit.

    Am Ende des zweiten Tageshatte ich mich splitterfasernackt mit einem Glas Wasser ans Küchenfenster gestellt und hauchte wie in Kindertagen selbstvergessen meinen Atem gegen die Scheibe, um in die beschlagenen Kreise Herzchen mit unseren Anfangsbuchstaben zu malen.

    D + A

    Beim vierten Hauchen traf mein Blick auf besagten älteren Herrn gegenüber. Er starrte mit großen Augen und offenem Mund auf meine Brüste, die ich ihm sozusagen auf dem Silbertablett servierte. Geistesgegenwärtig sah ich nach unten und stellte erleichtert fest, dass ich dank meines Zwergwuchses erst ab Bauchnabelhöhe in der Fensteröffnung zu sehen war. Na und – was soll‘s? Es waren schließlich nur Brüste, einfach nur Brüste!

    Nach dieser Erkenntnis fand ich den Mut, meinem Nachbarn fröhlich zuzuwinken, und so war er es dann, der die Küche fluchtartig verließ. Im Nachhinein mochte ich mir allerdings gar nicht vorstellen, was dieser Mensch in den zwei Tagen, in denen wir noch nichts von seiner Existenz wussten, alles von uns zu sehen bekommen hatte, einschließlich der, wie ich hoffe, ästhetischen, aber dennoch höchst pornografischen Übung auf dem Küchentisch. Um den bereits erwähnten Pizzaboten nicht auch noch in Verlegenheit zu bringen, kamen von da an die Duschhandtücher ins Spiel. In diese hüllten wir uns, wenn wir das Schlafzimmer verließen, was zugegebenermaßen nicht sehr häufig geschah.

    Das Bett war für uns in diesen Tagen zum zentralen Lebensraum geworden. Eine Insel, auf der wir freiwillig gestrandet waren und die uns die Möglichkeit gab, fernab von allem, auf eine Entdeckungsreise zu gehen, die einzig und allein uns beide zum Ziel hatte. Wenn wir nicht miteinander schliefen, redeten wir, und wenn wir nicht redeten, schliefen wir miteinander. Wenn wir beides nicht taten, schliefen wir oder sahen uns an.

    Alles war ganz einfach.

    Niemand vermisste uns.

    Dirk arbeitete in der Stadt als freischaffender Architekt mit eigenem Büro und zwei festangestellten Mitarbeitern. Gerade hatte er ein größeres Projekt abgeschlossen und sich im Büro für ein paar Tage abgemeldet, um den Kopf wieder frei zu bekommen, wie er sagte. Außerdem war er seit drei Jahren geschieden und lebte seitdem allein. Seine beiden Kinder waren bei der Mutter geblieben und er sah sie damals nur selten, da sie 600 Kilometer von ihm entfernt wohnten. Direkt vor Ort lebte nur seine verwitwete Mutter, die aber zurzeit verreist war. Bei mir lagen die Dinge noch einfacher. Neu in der Stadt, kannte mich hier niemand. Meinen Job in einem großen Verlag, als Übersetzerin für Englisch und Französisch, hatte ich gekündigt. Meinem stalkenden Exfreund Oliver hatte ich meine neue Adresse und Handynummer verweigert und meine beste Freundin Sybille darauf vertröstet, mich demnächst bei ihr zu melden. Die einzige lebende Verwandte – meine Mutter – befand sich mit ihren 60 Jahren gerade auf einer Selbstfindungsreise à la Julia Roberts in dem Film Eat Pray Love. Zwei Tage nach dem Kinobesuch hatte sie ihre Siebensachen gepackt, einen Flug nach Italien gebucht und sich tränenreich von mir verabschiedet. Derlei spontane Lebensumbrüche meiner Mutter, die sie sich leisten konnte, weil ihre verstorbenen Eltern ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatten, waren mir nicht fremd, daher maß ich auch dieser neuerlichen Sinnsuche keine große Bedeutung zu. Ich war nur froh, dass ich mein eigenes Leben lebte, meine eigenen Entscheidungen traf und nicht mehr ihrer haltlosen Willkür ausgeliefert war.

    Ich befreite mich aus der Löffelchen-Stellung und damit aus Dirks Armen, drehte mich zu ihm um und studierte zum x-ten Male seine entspannten Gesichtszüge. Die gerade, kräftige Nase mit den ausgeprägten Nasenflügeln, die tiefe Kerbe zwischen seinen Augenbrauen, die ihn trotz des Schlafes so konzentriert aussehen ließ, seine geschlossenen Augenlider, hinter denen ich dieses sagenhafte klare Blau wusste und sein fester, schöner Mund, der von Natur aus ein klein wenig schief stand und ihm somit einen chronisch spöttischen Gesichtsausdruck verlieh.

    Ihm war ich nun ausgeliefert, ihm ganz allein. Ich zeichnete mit den Fingern die feinen Linien in seinem Gesicht nach. Mit der Schätzung seines Alters auf Mitte vierzig hatte ich nur knapp danebengelegen. Tatsächlich war er bereits neunundvierzig. Ziemlich gutaussehende, witzige, intelligente, charismatische, sinnliche und absolut unwiderstehliche neunundvierzig. Ich legte mein Gesicht in seine Halsbeuge und atmete seinen wunderbar männlichen Duft ein. Meine rechte Hand ging unter der Bettdecke auf Wanderschaft und streichelte jeden Zentimeter seines nackten Körpers, der für mich erreichbar war, ohne meine Position zu verändern. An seinen schneller werdenden Atemzügen konnte ich erkennen, dass meine Berührungen nicht unbemerkt geblieben waren und Dirk sich nur zu gern auf diese Weise von mir aus dem Schlaf holen ließ. Meine Lust raubte mir den Atem und die Sehnsucht nach Vereinigung, nach grenzenloser Nähe, war fast schmerzhaft.

    Bis heute weigere ich mich zu glauben, dass solche Empfindungen lediglich durch das Zusammenspiel von verschiedensten Hormonen, Botenstoffen und einem sinkenden Serotoninspiegel bedingt waren. Ein simpler chemischer Ablauf in unseren Körpern hatte wenig mit meiner Vorstellung von Liebe und Romantik zu tun.

    Ich war schon verliebt gewesen – ja. Ich hatte Beziehungen gehabt – ja. Ich hatte Sex gehabt – ja. Aber absolut nichts von alldem war vergleichbar mit der Begegnung zwischen Dirk und mir. Meine Gefühle für diesen Mann waren überwältigend. Es mag kitschig klingen, aber so war es nun einmal.

    Wir waren zwei Puzzleteile. Zwei alleinstehende, unvollständige Menschen, die sich – zufällig oder vorherbestimmt – begegnet waren und nun zusammen ein perfektes Bild ergaben. Dass dieses für uns so perfekte Bild eigentlich nur ein Bildausschnitt war und sich seinerseits in ein großes Gesamtkunst- werk einfügen musste, wurde mir in der ganzen Komplexität und mit allen Konsequenzen erst später klar.

    *****

    März 2018

    Meine Bank lag inzwischen im Schatten. Ich fröstelte. Etwas in mir wehrte sich noch dagegen, in das Hier und Jetzt zurückzukehren. Und als ich es doch tat, hinterließ das brutal abgerissene Pflaster eine erneut blutende Wunde. Ich stand auf. Meine Bewegungen waren die einer gebrechlichen alten Frau. Die Trauer kroch wie ein bösartiges Geschwür durch meinen Körper, bewegte sich mal hierhin, mal dorthin, umschloss mit Würgegriff meinen Magen, setzte sich in meinem Herzen fest, wanderte durch meine Gliedmaßen, verengte meinen Hals und nistete sich in meinem Kopf ein. Dort saß es, das Geschwür, und wurde größer, würde weiterwachsen, bis es mich ausfüllen und alles unter seiner Kontrolle haben würde.

    Nein.

    Auf keinen Fall!

    Meine Schritte wurden schneller. Ich überlegte, ob ich noch etwas Kuchen von unserem Lieblingsbäcker mitnehmen sollte, ein paar von den leckeren Rosinenschnecken vielleicht. Es könnte sein, dass Helga sich gerade nicht mehr daran erinnerte, dass ihr Sohn vor drei Tagen gestorben war und dann würde sie mit großem Appetit eine Schnecke verputzen. Und Miriam, sie liebte die süßen Teilchen von Bäcker Schmied und vielleicht, wenn ihre Trauer gerade im Herzen saß, oder im Kopf und nicht im Magen, dann, ja dann …, ich würde auf jeden Fall ein paar mitnehmen.

    Die Bäckerei war gut besucht. Ich stellte mich hinten an und rechnete schon einmal durch, wie viele Schnecken ich wohl bräuchte. Der kleine Moritz würde Appetit haben. Er verstand das alles noch nicht. „Wo Opa? Wo isser Opa?, würde er mich fragen, und ich würde antworten: „Opa ist jetzt im Himmel, kleiner Schatz. Im Himmel ist es wunderschön und es geht ihm gut dort! Er kann jetzt nicht mehr bei uns sein, aber er passt von da oben auf uns auf. Dann würde ich meine Tränen weg blinzeln, seine kleinen dicken Pausbäckchen streicheln und ihm eine Rosinenschnecke in die Hand drücken.

    So, oder so ähnlich hatte ich es bisher in Filmen gesehen.

    Mit Florians Verhaltensmuster kannte ich mich bis jetzt am wenigsten aus. Zwei Varianten hielt ich bei ihm für möglich: Entweder würde er wortlos drei oder vier Rosinenschnecken, ohne Unterbrechung und ohne Blickkontakt, in sich hineinstopfen, anschließend aufspringen und den Raum verlassen, oder er würde, ebenfalls wortlos, seinen Teller sofort wegstoßen, aufspringen, hinauslaufen und die Tür hinter sich zuschlagen.

    In beiden Fällen würde Helga fragen: „Ach, Irmchen, was hat der Junge denn? Und ich würde seufzend antworten: „Ich bin nicht Irmchen, Helga, ich bin Anne!

    Inzwischen hatten die meisten Kunden den Laden verlassen und ich war an der Reihe.

    „Tag, Frau Hartmann. Ich möchte Ihnen noch mein herzliches Beileid aussprechen. Das mit Ihrem (Räuspern), also das mit Herrn Jakobsen tut mir wirklich leid. Er war 'n netter Kerl, so … so einer zum Zupacken, auch, wenn er 'n Studierter war, und ich mein, topfit war er doch auch immer. Kaum zu glauben, dass es ihn erwischt hat!"

    Erwischt? Dass es ihn erwischt hat??

    Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, ruhig und gleichmäßig zu atmen.

    „Vielen Dank Herr Schmied! Ich hätte gern sechs Rosinenschnecken, bitte, und ein kleines Kastenweizen!"

    „Sehr gern!"

    Während er das Gewünschte einpackte, sah er immer wieder verstohlen zu mir herüber. „So gesehen ist das ja nun ein Glück, dass Sie beide nicht verheiratet waren, ich mein, so jung und dann schon Witwe, das wünscht man ja keiner Frau, und das Haus gehört doch Ihnen, oder? Na, dann seien Sie mal froh, ist ja auch immer so 'ne Sache mit der Erberei, ich mein, so ohne Trauschein, aber wenn das Ihr Haus ist, wird’s in der Hinsicht ja schon mal keinen Ärger geben, ich mein, der Junge kann ja genauso gut bei der Mutter wohnen, ist doch so, und die Tochter ist ja alt genug, die kann ja nun auch mal auf eigenen Füßen stehen mit ihrem Lütten, ist doch so, und was passiert denn jetzt mit der alten Frau Jakobsen, ich mein, allein kann die doch nicht mehr, oder? Ich mein …" Was der feinfühlige Herr Schmied noch so alles meinte, blieb mir verborgen, da ich ihn an dieser Stelle unterbrach und ihm so das Leben rettete. Noch ein Wort und ich hätte mich mit dem Brotmesser, dass jemand gedankenlos auf dem Tresen abgelegt hatte, auf ihn gestürzt.

    „Was bekommen Sie?"

    „Zehn Euro und vierzig bitte!"

    Ich knallte das Geld auf den Tisch, griff mir meine beiden Tüten und verließ fluchtartig den Laden.

    „Dann machen Sie‘s man gut, Frau Hartmann!"

    Ich behielt den schnellen Schritt bei und ging in Gedanken schon die Bäckereien durch, in denen ich in Zukunft einkaufen würde. Als ich mein Auto auf dem Parkplatz am Hafen sehen konnte, legte ich einen Endspurt ein. Erschöpft und außer Atem ließ ich mich auf den Fahrersitz fallen.

    Bäcker Schmied kannte uns eigentlich nur als gute Kunden aus seinem Laden, aber seine Mutter wohnte bei uns in der Nachbarschaft und versuchte ständig, ihre Nase in alles zu stecken, was sie nichts anging. Wir nannten sie nur Die Klapperschlange. Wahrscheinlich hatte sie ihrem Sohn gegenüber so einige giftige Bemerkungen über uns fallen lassen.

    Mir fiel auf, dass mich mein Entsetzen und meine Wut über diese spezielle Art der Anteilnahme eine kurze Zeit von der Trauer um Dirk abgelenkt hatten. In dieser Sekunde allerdings holte sie sich die Aufmerksamkeit zurück und bahnte sich mit neuer Kraft den Weg in mein Bewusstsein. Ich stellte das Radio an und lauschte eine Weile den angestrengten Fingerübungen eines übermotivierten Pianisten.

    „Sehr verehrte Damen und Herren, Sie hörten heute in unserer Reihe Modern Classics den vielversprechenden französischen Komponisten und Musiker Jaques Gilbert Mauriac mit seiner Klaviersonate Rivière de la vie."

    Rivière de la vie.

    Mich überkam das Bedürfnis, laut zu lachen, aber ich ließ es nicht zu. Wenn ich es zuließe, würde ich die Kontrolle verlieren.

    Fluss des Lebens.

    Mich hatte er ausgespuckt. Mit einer einzigen großen Welle hatte er mich brutal ans Ufer geschleudert und liegen lassen. Jetzt rauschte er an mir vorbei, dieser großartige Rivière de la vie, und ich wusste nicht, wie ich es schaffen sollte, wieder hineinzuspringen. Mit zu schwimmen. Mich vertrauensvoll treiben zu lassen. So, als könnte mir nichts passieren. So, als würde ich immer noch seine Hand in meiner spüren. So, als wäre er noch da.

    „Tocktocktock!!"

    Ein Klopfen gegen mein Autofenster riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt starrte ich den älteren Herrn an, der mich eher missbilligend als besorgt ansah:

    „Sind Sie in Ordnung, junge Frau? Oder kann ich Ihnen helfen!"

    „N … nein, nein, äh, alles in Ordnung, ich wollte nur –"

    „Warten Sie auf jemanden?"

    „Nein, ich –"

    „Na, denn sind Sie vielleicht so nett, und machen den Parkplatz frei! Andere Leute haben auch noch was zu erledigen! Ihr Mittagsstündchen können Sie ja wohl auch zu Hause halten, oder wie seh‘ ich das? Also, denn man los, junge Frau!"

    Er schlug abschließend mit seiner flachen Hand auf mein Autodach und stapfte kopfschüttelnd zu seinem silberfarbenen Daimler, der schon in Erwartung meines freiwerdenden Parkplatzes mit eingeschlagenem Lenkrad in Warteposition stand. Mit zittrigen Fingern startete ich den Motor und streifte beim Ausparken beinahe den Kotflügel eines knallroten Opel Astra, der ebenfalls meine Parklücke ins Visier genommen hatte.

    Als ich am Daimler vorbei in Richtung Ausfahrt fuhr, hörte ich bereits das Hupkonzert und sah im Rückspiegel, wie der ältere Herr erstaunlich flink ein weiteres Mal sein Auto verließ und dem frisch eingeparkten Opel Astra einen kräftigen Tritt gegen den linken Heckflügel verpasste.

    Ich war kurz versucht, anzuhalten, um mich von dem Schauspiel noch eine Weile ablenken zu lassen und um die Rückkehr zur Familie noch eine Weile hinauszuzögern, aber dann drückte ich doch auf das Gaspedal und machte mich auf den Weg.

    Auf den Weg zu einem traurigen, verstörten, zurückgelassenen Rest einer Familie, die nicht meine war.

    *****

    Mai 2014

    Irgendwann mussten Dirk und ich unseren Mikrokosmos wieder verlassen, genauer gesagt, nach sechs Tagen und sieben Nächten. Bei Dirk standen einige Baustellenbesuche auf dem Terminplan und ich hatte schon zwei Wochen zuvor einen ersten Termin mit einer potentiellen Kundin ausgemacht. Nach wie vor bot ich meine Dienste als Übersetzerin an, wollte in Zukunft aber vor allem meine Leidenschaft fürs Zeichnen in den Vordergrund stellen.

    Das Leben hatte uns wieder.

    Unser Abschiedskuss an der Haustür war ebenso vielversprechend wie die Abschiedsworte:

    „Ich seh‘ dich heute Abend?" (meine Frage)

    „Spätestens." (seine Antwort)

    Wie gesagt, alles war ganz einfach. Damals.

    Wochenlang waren wir uns selbst genug und trennten uns nur, wenn es unbedingt sein musste. Da wir beide selbstständig bzw. freiberuflich arbeiteten, hatten wir etwas Spielraum bei unserer Zeiteinteilung und schufen uns, so oft es ging, kleine Lücken im Tagesablauf, in denen wir uns trafen oder zumindest telefonierten. Manchmal reichte die Zeit nur für einen Kuss, für eine Umarmung, manchmal auch für mehr.

    Die Abende und Nächte verbrachten wir hauptsächlich bei mir. Dirk bewohnte seit seiner Scheidung ein winziges Appartement direkt über seinem Architektenbüro. Sein Einfamilienhaus hatte er verkauft, nachdem seine Frau mit den Kindern in ihre alte Heimat zurückgegangen war. Mit dem Erlös konnte er sie ausbezahlen und ersparte sich damit endlose Streitereien vor Gericht. Wenn seine Kinder ihn besuchen kamen, wohnte er mit ihnen für diese Zeit im Haus seiner Mutter. Das funktionierte recht problemlos, zumal es maximal zwei bis drei Mal im Jahr vorkam. Ab und zu flog er zu Miriam und Florian nach Mannheim und verbrachte mit ihnen ein Wochenende im Hotel.

    Als Dirk und ich etwa acht Wochen zusammen waren, bat er mich, ihn nach Mannheim zu begleiten, um seine Kinder kennenzulernen.

    „Ich glaube nicht, dass es eine so gute Idee ist, Dirk! Deine Kinder freuen sich auf dich. Sie haben dich ewig nicht gesehen. Wenn du nun

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