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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs: erlebt von einem jugendlichen Schweizer
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Die Zeit des Zweiten Weltkriegs: erlebt von einem jugendlichen Schweizer
eBook210 Seiten2 Stunden

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs: erlebt von einem jugendlichen Schweizer

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Über dieses E-Book

1989, in einer Zeit politischer Umwälzungen in Europa, stößt der Schweizer M Pfändler auf Tagebücher aus seiner Kindheit und auf politische Schriften, die sein Vater in der Vorkriegszeit gekauft hat. Erinnerungen, wie er den Krieg aus der neutralen Schweiz heraus erlebt hat, stürzen auf ihn ein. Als Zehnjähriger verfolgt er von seinem Heimatort St. Gallen aus die Machtergreifung der NSDAP. Er erlebt die ständige Bedrohung der neutralen Schweiz, erlebt die Schreckensnacht, als Friedrichshafen bombardiert wird. Angst vor einem deutschen Angriff, aber auch der Glaube, dass ein Hitler nicht Sieger bleiben kann, bestimmen seine Kindheit und Jugend. Er hört im Radio von den ersten Konzentrationslagern und liest von der Judenverfolgung. Entsetzen und eine tiefe Abscheu gegen rassistisches Gedankengut ergreifen ihn. Auch wenn der Autor immer wieder in die Jahre nach dem Krieg abzuschweifen scheint, er kehrt immer wieder zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Ein Buch, das den Deutschen von damals, während des Kriegs und danach, einen Spiegel vorhält und in den Schweizern ähnlich erlebte Erinnerungen weckt.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Dez. 2015
ISBN9783738050219
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    Buchvorschau

    Die Zeit des Zweiten Weltkriegs - Martin Renold

    Auf meiner Bettkante sitzend

    Neujahr 1989. Noch nichts vom Mauerfall. Nichts von deutscher Wiedervereinigung. Nichts von „wer hätte das noch vor einem Monat gedacht?"

    Neujahr 1989. Jahresanfang. Anfang? In der Rundschau von Bayern 3 hinter dem Nachrichtensprecher auf der Karte noch immer die gestrichelten Grenzen des Deutschen Reiches von 1937. Ostpreußen. Pommern. Schlesien. Jenseits von Oder und Neiße. Alte Heimat. Die bösen Polen. Tag für Tag. Um 17 Uhr. Um 18 Uhr 45 schon wieder. Um 21, um 23 Uhr und ein letztes Mal nach Mitternacht.

    1989. Helmut Kohl will immer noch nicht. Die Heimatvertriebenen. Als hätte es keinen Krieg gegeben. Keinen Führer. Kein „Heil Hitler! Kein „Sieg Heil! Kein „Führer befiehl, wir folgen dir!. Kein „Wollt ihr den totalen Krieg? Ja, wir wollen den totalen Krieg!

    Ich sitze auf meiner Bettkante. Ich, Martin Pfändler. Damals bekamen wir noch diese einfachen Namen: Paul, Emil, Joseph, sogar Adolf. Die Eltern unserer Generation konnten sich noch einen Adolf leisten. Zwei, drei Jahre später verschwanden sie aus den schweizerischen Taufregistern. Die meisten Adolfe ließen sich Dölf rufen.

    Vor mir auf dem Boden liegt ein Berg von Büchern, Broschüren, Ordnern. Ein wildes Durcheinander. Ich habe die Möbel meines Zimmers umgestellt. Der Bücherschrank war zu schwer. Ich habe ihn an die Wand gegenüber geschoben. Auf den oberen Tablaren stehen die Bücher schon wieder in Reih und Glied. Auf dem Boden liegt noch der Inhalt des unteren, abgeschlossenen Sockelteils.

    Alter Kram. Stiefmütterlich behandeltes Gut. Doch jetzt sollte mal richtig Ordnung geschaffen werden. Unnützes in die Altpapiersammlung. Was der strengen Prüfung standhält, kann weiter gelagert werden.

    Ein Ordner, Korrespondenz, mindestens zwanzig Jahre alt, findet keine Gnade. Weg damit.

    Manuskripte, vor Jahren geschrieben, zwei-, dreimal kopiert, aber nie veröffentlicht, kommen auf das obere Tablar, ganz links außen.

    Vor mir liegt eine Illustrierte. Ich blättere. Farbige Aufnahmen von den ersten Menschen auf dem Mond. Ein kurzes Zögern. – Doch: Das ist ein Zeitdokument. Vielleicht werden meine Nachkommen einmal danach greifen. Mein Sohn. Nach meinem Tod. Wird darin blättern. Wird es ein Leben lang aufbewahren. Für seinen Sohn. Auch die zwei Nummern von „Sphere und die „Illustrated London News aus der Kriegszeit mit den gemalten Seeschlachten unter schwarzem, blitzezuckendem Himmel und den Luftaufnahmen ausgebombter deutscher Städte, die aussehen wie schwarze Setzkästen, in denen früher die Setzer in den Buchdruckereien die bleiernen Lettern aufbewahrten.

    Und dann sind da einige dünne, vergilbte Broschüren. Ach ja, die habe ich nach dem Tod meiner Mutter beim Räumen ihrer Wohnung an mich genommen. Stockfleckig liegen sie in meiner Hand. Mein Vater, Otto Pfändler, überzeugter Sozialdemokrat, elf Jahre vor meiner Mutter gestorben, hat sie seinerzeit gekauft. Als sie noch nicht stockfleckig waren. Als noch Explosivkraft in ihnen steckte.

    Der modrige Duft des Papiers erinnert mich an die Zeit meiner Jugend in St. Gallen. Die Buchhandlung in der Schmiedgasse, wo ich als kleiner Angestellter im Keller nach alten Ladenhütern geschmökert habe. Immerhin fand ich einige Kostbarkeiten. Eine Dünndruckausgabe von Gustav Freytags „Soll und Haben für RM 2,40. Und Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter, das ich später der Altpapiersammlung mitgab, weil es meiner Frau in die Hände geraten war und ihr Selbstbewusstsein erschüttert hatte. Frauen hätten keine Seele, behauptete er, und die Juden, die er den Frauen gleichsetzte, demzufolge auch nicht. Meine Frau, sie ließ sich später von mir scheiden, war beeindruckt. Vielleicht hatte er recht. Nicht wegen der Juden. Sie war keine Emanze. Sie empörte sich nicht. Im Grunde hatte ich ihr Selbstwertgefühl zerstört. Ich hatte ihr eine andere Frau vorgezogen. In Weininger fand sie die Begründung. Was half es, dass ich ihr einhämmerte, Weininger sei an seiner falschen Theorie selbst zugrunde gegangen, habe mit einundzwanzig Jahren Selbstmord verübt. Das Gegenteil war der Fall. Wer mit zwanzig Jahren oder früher so was schreibe, sei ein Genie. Und wer keine Seele besitze, könne gleich Schluss machen. Ich musste ihr das Buch wegnehmen. Ich nehme an, heute hat sie Weininger vergessen.

    Ich schnuppere gern an alten Sachen. So steigen Erinnerungen auf. Ich schaue auf den Titel: „Wie ist Hitler zur Macht gekommen? Eine Flugschrift, herausgegeben in Zürich, datiert vom Juli 1933. Auf der letzten Seite ein Zwischentitel: „Die große Gefahr: Was wird nun weiter in Deutschland geschehen? Werden dem Volke bald die Augen aufgehen? Dies scheint wenig wahrscheinlich. Die Hitler-Regierung wird… jede Opposition im Keime rücksichtslos unterdrücken und noch lange auf ihrer Seite geborene Untertanen haben, die in Deutschland vorläufig noch sehr zahlreich sind … hat sie durch den Judenboykott viel Porzellan zerschlagen … Was den inneren Frieden betrifft, so kann es sich hier nur um die Ruhe des Friedhofs handeln. Was aber den äußeren Frieden angeht, so wäre es ein Wunder, wenn das Dritte Rich ihn lange genießen könnte."

    Das zweite Heft trägt mit roten Lettern den Titel: „Der Aufstand der österreichischen Arbeiter. Erschienen am 19. Februar 1934 in Prag. Wie ich darin blättere, fällt ein kleiner Zettel heraus. Ein Lieferschein der Fabrik „Rätia A.-G. Chur. „Diplom 1. Klasse – Goldene Medaille" steht in kleinen, geschwungenen Lettern unter dem Firmennamen. Die verblasste Handschrift kann ich nur mit Mühe lesen. 27.2.1934. Darunter die Anschrift meines Vaters. Otto Pfändler, Scheidwegstraße 13. St. Gallen.

    Und dann die gelieferte Ware: 3 kg Stachelbeer. Nein, Stachelbeeren im Februar? Das kann wohl nicht sein. Ich trete ans Fenster. Jetzt kann ich es entziffern. Ich schließe die Augen und sehe auf einmal einen Kessel vor mir mit einem zähen, schwarzen Inhalt. „Natürlich: Wacholder. „Wacholderlatwerge oder, wie meine Patin sagte, „Räckholderlattwäri. Eingedickter, gezuckerter Wacholdersaft.

    Ich schaue hinaus und weiß nicht, träume ich oder bin ich wach. Mein Blick geht zu den Jurabergen. Sie sind von starkem Raureif bedeckt. Geschneit hat es nicht. Weihnachten war wieder einmal grün. Der Schnee lässt noch auf sich warten.

    Mein Blick geht weiter als bis zur Wasser- und zur Gislifluh. Die Hügel dort hinten sind der Kaien und die Eggersrieter Höhe. Ich stehe im Haus in St. Gallen an der Scheidwegstraße 13. Baujahr 1904. Diese Zahl stand in dem dreieckigen Mauergiebel gerade unter den beiden Stubenfenstern unserer Wohnung im zweiten Stock. Ob der wohl noch dort steht, nachdem der neue Besitzer das Haus renoviert hat? Damals hat die Mutter, keine zwei Monate nach Vaters Tod, die Kündigung bekommen. Am 24. Dezember, am Heiligabend, lag sie in ihrem Briefkasten. Frohe Weihnachten. Es war der Nachbarssohn, den sie schon als Schuljungen gekannt hatte. Jetzt führte er den Betrieb seines Vaters. Seine Mutter hatte uns voller Stolz erzählt, dass ihre Firma das neue Kirchturmdach der katholischen Kirche in St. Georgen errichtet habe.

    Meine Erinnerung geht weiter zurück. Eine Woche nach Lieferung der Wacholderlatwerge wurde ich sieben Jahre alt. Meine Schwester war mehr als neun. Sie behauptete immer, drei Jahre älter als ich zu sein. Sie zählte nur die Jahreszahlen. 1924 und 1927. In Wirklichkeit war sie nur zwei Jahre und vier Monate älter. Ihre Angeberei ärgerte mich.

    Noch jetzt, oder richtiger, jetzt wieder fühle ich die klebrige Masse in meinem Mund. Ein Kessel „Latwäri" steht vor mir auf dem Tisch. Wenn man mit dem Messer hineinstach und es wieder herauszog, rann ein langer schwarzer, immer dünner werdender Faden herab. Mutter verstand es, das Messer so rasch zu drehen, dass der größte Teil auf dem Messer blieb und bald nur noch einige zähe Tropfen in den Kessel zurückfielen. Dann rasch das Butterbrot daruntergeschoben, die glänzende Masse darauf verstrichen. Jetzt sah sie goldbraun aus. Auf den Teller mit der Brotscheibe. Mitten durchgeschnitten. Das Brot mussten wir schön waagrecht halten, sonst lief uns der klebrige Saft wie Lava über die Finger. Dann musste man sie ablecken und gleich danach die Hände unter dem kalten Wasserstrahl über dem Schüttstein waschen.

    Warmes Wasser gab es nicht. Höchstens im Winter aus dem Ofenrohr. Da stand immer eine alte Emailkann voll Wasser. Am Morgen durfte jedes einen Viertel daraus in ein Becken und ein Glas gießen, etwas kaltes Wasser dazu, dann den Waschlappen in das Becken getaucht und danach die Zahnbürste ins Glas Mit dem noch warmen, feuchten Waschlappen drückte ich ein Loch in die Eisblumen am Küchenfenster. Oft klebten die Vorhänge an der Scheibe. Manchmal versuchte ich, mit dem Lappen das Gewebe aus dem Eis zu befreien. Ich musste rasch handeln. Sonst gefror das Wasser sogleich wieder. Das feine Gewebe zerriss oft, wenn ich ungeduldig daran zerrte. Ich erinnre mich nicht, dass Mutter je gescholten hat.

    „Iss dein Brot! Aus fünfundfünfzig Jahren Entfernung dringt Mutters Stimme an mein Ohr. „Die Wacholderlatwäri ist gesund. Oder möchtest du lieber Lebertran? Na, also!

    Nein, schlecht war sie nicht, die Wacholderlatwerge. Aber drei Kilogramm? Bis die aufgezehrt waren! Da wurde es Sommer, bis die erste Erdbeerkonfitüre eingekocht war. Da konnte einem der Appetit schon vergehen. Aber jetzt fühle ich, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Auf der Zunge fühle die die Konsistenz wie von flüssigem Honig.

    Ich setze mich wieder auf die Bettkante.

    „Ein Kulturvolk protestiert ist der nächste Titel. „Die öffentliche Meinung Englands über den Hitler-Terror. 34 Seiten. Keine Jahreszahl. Ich beginne zu lesen und stelle fest, dass die Schrift 1933 erschienen sein muss:

    Die antisemitischen Ausschreitungen der letzten paar Wochen sind weit schlimmer, als man sich anfänglich hätte vorstellen können … Diese Exzesse sind … das Ergebnis einer jahrelangen antisemitischen Propaganda der Nazis, einer Mittelstandspartei, die von Bankiers, Industriellen und Geschäftsleuten unterstützt wird. Diese Partei hat ihren Anhängern in Versammlungen, Zeitungen, Büchern und Broschüren den Juden als ekelhaft und böse hingestellt. Die Agitation der Nazis war eine fortwährende Aufreizung zu Pogromen, und der Hauptanstifter ist Adolf Hitler, der deutsche Reichskanzler.

    So zu lesen am 27. März 1933 im „Manchester Guardian", fünfeinhalb Jahre vor der Reichskristallnacht.

    Jüdische Geschäfte wurden geschlossen und geplündert, jüdische Wohnungen durchsucht und demoliert und Hunderte von Juden misshandelt und beraubt.

    Am Abend des 15. März verhafteten Braunhemden drei Juden im Café New York und brachten sie in einem Auto nach dem SA-Lokal in der Wellnertheater-Straße, wo sie um einige hundert Mark beraubt, mit Gummiknüppeln blutig geschlagen und in halb bewusstlosem Zustand auf die Straße geworfen wurden.

    Und am 20. April 1933: Der braune Terror verschärft sich täglich … Alle Gewerkschafter, bürgerlichen Pazifisten, Sozialisten, Kommunisten und Internationalisten, die irgendwo als Organisatoren, Schriftsteller, Redner … eine Rolle gespielt haben, sind fast in ganz Deutschland durch Entlassung, durch Misshandlung oder durch Verhaftung gefährdet … Gegen die Braunhemden gibt es keinen Schutz … Die Opfer sind völlig wehrlos.

    Angehörige der Sozialdemokratischen Partei werden in der Regel durch dreißig Hiebe mit Gummiknüppel auf den entblößten Rücken, Mitglieder der kommunistischen Partei mit vierzig Hieben bestraft … Der Terror ist so entsetzlich und die Zahl der Opfer so gewaltig, dass er weder in Deutschland noch im Ausland geheim gehalten werden kann. Die vielen Tausende mit wunden Rücken, bandgierten Köpfen, zerschundenen Gesichtern, gebrochenen Gliedern oder Zähnen, die mit Stichwunden, Schusswunden … in Spitälern liegen oder durch die Straßen hinken –, sie alle sind Beweis genug.

    Ich lese nicht weiter. Später. Später. Jetzt muss ich aufräumen. Aber meine Gedanken sind ganz in jener Zeit. Mein Erinnerungsvermögen, was die Politik betrifft, reicht allerdings nicht so weit zurück. 1930 – das ist eine meiner frühesten Erinnerungen – sind wir vom Westen der Stadt, von Straubenzell, ins Krontal, im Kreis Ost gezogen. Meine Patin hat mich und meine Schwester Ruth am frühen Morgen abgeholt. Im Tram – so sagt man in der Schweiz zu der Straßenbahn – saß ich links von meiner Patin, Ruth rechts von ihr. Ich sehe es noch genau. Uns gegenüber die lange Bankreihe unter den Fenstern, vor denen die Häuser vorüberziehen. Als wäre es gestern gewesen. Nicht vor bald sechzig Jahren. Vom Nachbarsgarten aus, wo meine Patin wohnte, im Stockwerk über jenem Jungen, der dreißig Jahre später am Heiligabend einen tränenauslösenden Umschlag in Mutters Briefkasten warf, schauten wir zu, wie die Zügelmänner und auch Vater die Möbel ins Haus trugen. Eben kam Vater vorbei mit dem großen gelben Schaukelpferd, das ich von meinem Götti, dem Schreinermeister in Brunegg, geschenkt bekommen hatte.

    „Ich möchte reiten – gib mir das Gampiross über den Zaun!"

    „Heute nicht, jetzt wird zuerst einmal alles versorgt." Und schon war er über die fünf Stufen und durch den Eingang verschwunden. Tränen gab’s keine. Aber die Enttäuschung war groß. Nicht wegen des Gampirosses. Nein. Weil Vater so hart sein konnte. So kannte ich ihn gar nicht. Hatte er in seinem Eifer überhaupt richtig zugehört? Spürte er nicht, was mir dieses Schaukelpferd bedeutete? Gerade jetzt, in dieser neuen, unbekannten Umgebung – etwas Vertrautes, etwas, das allein mir gehörte.

    „Weißt du, Vater hat jetzt keine Zeit", erklärte mir die Patin. Ich verstand nicht. Er hätte das Gampiross doch nur über den Zaun heben müssen. Doch drei Schritte vor meiner Nase, die ich durch den Maschenzaun steckte, trug er es vorüber.

    Diese erste Erinnerung an meinen Vater hat meine spätere Beziehung zu ihm nicht geprägt. Eigentlich, so scheint mir, ist dies die einzige negative Erinnerung. Freilich, Vater war wortkarg, manchmal etwas mürrisch – zärtlich? Nein, kaum, aber nie bös, nie, dass man sich vor ihm hätte fürchten müssen. Fröhlich kannte ich ihn eigentlich nur später, wenn er etwa mit seinen Kameraden vom Straßenbahner Männerchor zusammen war, oder in den Ferien, wenn wir ein paar Tage mit andern Mitgliedern vom Touristenverein „Die Naturfreunde" in der Hütte auf der Schwägalp am Fuße des Säntis oder auf der Amdener Höhe verbrachten. Aber die Korrektheit, ja, das war er in Person. Er verachtete Menschen, die sich nicht im Zaum halten konnten, die über die Hutschnur tranken, Öl am Hut hatten, wie die Mutter zu umschreiben pflegte. An heißen Sommertagen auf Ausflügen, wenn wir einkehrten und wir Kinder – Höhepunkte der Familienausflüge – einen Sirup und einen jener klebrigen Nussgipfel bekamen, dann trank er einen Becher Dunkles. Helles Bier war damals allgemein nicht gefragt. Wer ein Helles trank, galt schon beinahe als ein Snob.

    Genau datierbare Erinnerungen an die frühesten Jahre in meinem Leben gibt es nicht. Eine Jahreszahl. 1933. Vater besaß ein Radio, eine schwarze, viereckige Kiste mit zwei großen drehbaren Knöpfen. Selber gebastelt. Wenn er vom Dienst nach Hause kam, stülpte er sich den einen der zwei Kopfhörer über die Ohren. Abends, wenn wir im Bett waren, setzte sich Mutter zu ihm unter den zweiten Kopfhörer. Wenn Vater Spätdienst hatte, las Mutter meist in einem Buch – sie selber besaß nur wenige – oder im Heftli. Zwei hatte man abonniert. Das eine, „Der Aufstieg, der Weltanschauung wegen, das andere „In freien Stunden, wegen der Versicherung.

    Einmal hat Vater einen langen, langen Draht zum Küchenfenster eines Freundes vom Elektrizitätswerk, der schräg gegenüber wohnte, gespannt. Antenne hieß dieses Ding. Unter dem Tischchen, auf dem das Radio stand, befanden sich zwei schwere Holzkistchen, fast so groß wie das Radio selber. Von Zeit zu Zeit musste sie Vater ins Ewe tragen. Das Ewe befand sich nahe bei Tramdepot und bei den Gaskesseln, die seltsamerweise mal hoch, mal niedrig waren. Wenn Vater die beiden Kistchen nach zwei oder drei Tagen zurückbrachte, waren die schwarzen Dinger mit dem komischen Zapfen – Batterien nannte sie Vater – wieder aufgeladen, und die Eltern konnten wieder die Kopfhörer aufsetzen und an den Knöpfen drehen und den Stimmen

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