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Die gläserne Echse: Roman
Die gläserne Echse: Roman
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eBook485 Seiten6 Stunden

Die gläserne Echse: Roman

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Über dieses E-Book

"Manchmal überkommt mich das Gefühl, als wäre ich in jener Zeit jemand anderes gewesen…"
Drei Erzählstränge, die hinterfragen, wie absolut eine Wahrheit sein kann, die über das Leben philosophieren, nach einer Definition der Treue suchen und zu einem gemeinsamen Ende zusammenwachsen.

Bei einem Spaziergang findet Lars ein verwittertes Tagebuch. Notizzettel in einer anderen Schrift liegen zwischen den gebundenen Seiten. Die Blätter sind größtenteils verklebt und schlecht leserlich. Er nimmt das Buch nach Hause, restauriert es und beginnt es gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Celia zu lesen. Während ihrer Lektüre kommen Zweifel auf, ob es sich tatsächlich um ein Tagebuch handelt, denn die Aufzeichnungen sind mit rätselhaften Ungereimtheiten gespickt. Die Notizen auf den losen Blättern scheinen zwar einen Bezug zu den Tagebucheinträgen aufzuweisen, liefern aber keine Antworten. Die Verwirrung des Paars befeuert ihre Neugier. Die Suche nach plausiblen Erklärungen führt die Beiden in eine Odyssee, die viele Fragen beantwortet, aber auch einige Antworten schuldig bleibt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum18. Dez. 2017
ISBN9783743983403
Die gläserne Echse: Roman

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    Buchvorschau

    Die gläserne Echse - Ivan Montibeller

    Freitagnachmittag

    Wäre ich an jenem schwülen Freitagnachmittag einfach zum Bahnhof gegangen und hätte den sechzehn Uhr siebenunddreißig Zug genommen, wie ich es sonst immer tat, dann wäre mein Leben um einige Erfahrungen ärmer geblieben. Es hätte sich anders entwickelt und niemand kann sagen, ob ich heute so glücklich wäre, wie ich es bin. Am späten Vormittag hatte sich bereits etwas ereignet, was mich veranlasste, von meiner Routine abzuweichen.

    Celia, meine Freundin, mit der ich seit gut drei Jahren zusammenlebte, rief mich gegen elf Uhr an und verkündete, sie habe sich unsere Diskussion vom Vorabend nochmals durch den Kopf gehen lassen. Sie fühle sich von mir verarscht. Jawohl, genau so hat sie es formuliert. Dabei existiert das Wort verarscht in ihrem Vokabular überhaupt nicht. Das Telefonat fiel kurz, trocken und einschneidend aus. Es war dieses klare und ungehobelte Wort aus ihrem Mund, das mir eine Wunde in den Magen schnitt. Mein Herz schwoll auf ein Maß, dass ich meinte, es würde platzen. Meine Kehle wurde so eng, dass ich zu ersticken fürchtete. Dieser Zustand hielt den ganzen restlichen Tag über an. Am liebsten hätte ich mich aus meiner Haut geschält. Ich wollte als Neugeborener ein ganz neues Leben antreten, nochmals ganz von vorne angefangen. Es fühlte sich an, als hätte ich während meines ganzen Lebens nichts als Fehler gemacht. An Mittagessen war an jenem Freitag nicht zu denken. Meine Speiseröhre war zu. Obwohl ich bis zum Feierabend fast zwei Liter Wasser trank, änderte das nichts an meiner völlig ausgetrockneten Mundhöhle.

    Meine Arbeitsleistung jenes denkwürdigen Freitagnachmittags schwebte knapp über dem Nullpunkt. Kopf und Herz waren ganz woanders und mit ihnen meine ganze Konzentration. Meine für gewöhnlich hohe Motivation einen guten Job zu machen, war restlos verflogen.

    Celia hegte den Verdacht, dass ich sie mit Ruth, einer ihrer Freundinnen, betrogen hätte. Ich weiß nicht, wie sie zu dieser Annahme gekommen war. Jedenfalls hatten wir am Vortag den ganzen Abend über dieses Thema gestritten. Ich dachte, ich hätte sie schließlich beruhigen und davon überzeugen können, dass an ihrer Vermutung nichts dran war. Ich liebe sie und das weiß sie. Nie würde ich sie betrügen und das hatte ich ihr auch beteuert. Ich hatte sie nicht angelogen. Nicht wirklich. Aber ich muss zugeben, dass ein Krümelchen Wahrheit an ihrer Vermutung hing. Um ganz ehrlich zu sein, es war ein kleines bisschen mehr als ein Krümelchen. Ich hätte die Existenz intelligenten Lebens auf der Erde geleugnet, um Celia nicht zu verlieren und so spielte ich den Vorfall mit Ruth ein wenig herunter. Ich hatte einige Wochen zuvor ihre Freundin geküsst und auch ein wenig gefummelt, aber mehr nicht. Ich gebe zu, dass ich nicht völlig unschuldig bin, beharre aber auf meiner Version, dass Ruth die Hauptschuld an unserem Techtelmechtel trifft. Sie hat mit Küssen und Fummeln begonnen, ich habe es beendet. Vielleicht trägt zu meiner Entlastung bei, dass ich an jenem Abend nicht ganz nüchtern war. Jedenfalls war ich es, der dem Treiben ein Ende setzte, bevor es eskalierte und das gegen den entschlossenen Widerstand Ruths. Mit meinem Rückzug zog ich mir ihren unverblümten Unmut zu. Dass Frauen ungern abgewiesen werden, versteht sich, aber wenn sie sich so unverschämt aufdrängen, müssen sie eine entsprechende Reaktion in Kauf nehmen. Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie mir diese Falle gestellt hat.

    Wahrscheinlich hatte Ruth gegenüber Celia aus dem Nähkästchen geplaudert. Diese Femme fatale konnte ihr Maul noch nie halten. Mir war egal, was passiert war und wen mehr und wen weniger Schuld traf. Jetzt ging es nur darum, Ruhe in meine Beziehung mit Celia zu bringen. Klar, würde das nicht einfach werden. Ist bei ihr erst einmal die Flamme der Eifersucht entbrannt, wird es schwierig, sie zu beruhigen. Da geht jeweils ihr spanisches Temperament mit ihr durch.

    Deshalb wollte ich an jenem Freitag nicht direkt nach der Arbeit nach Hause gehen. Ich brauchte Ruhe und frische Luft, um mir eine Strategie zurechtzulegen. Die Sache war verzwickt, denn ich war mir nicht sicher, ob Ruth geplaudert hatte. Sollte sie mit Celia gesprochen haben, so wusste ich nicht, was sie erzählt hatte. Unterschiedliche Strategien wären zu bevorzugen, je nachdem, ob und was Celia erfahren hatte.

    Vielleicht stützten sich Celias erneute Vorwürfe lediglich auf ihre weibliche Intuition. Kurz gesagt, ich wollte auf jede Eventualität optimal vorbereitet sein. Das erklärte Ziel war, unsere Beziehung zu retten, koste es, was es wolle.

    Ich verließ mein Büro zur gewohnten Zeit und spazierte unter den Geleisen hindurch. Dann entfernte ich mich vom besiedelten Gebiet, gelangte zum Waldrand und folgte dem Spazierweg. Je weiter ich mich von den Menschen und ihrer nervösen Feierabendhektik entfernte, umso klarer wurden meine Gedanken. Die Einsicht, dass ich Celia gegenüber aufrichtig sein musste, dass nur Ehrlichkeit unsere Beziehung nachhaltig sichern konnte, erschien mir immer offensichtlicher, je weiter ich dem Waldrand folgte. Was auch immer das Klatschmaul Ruth erzählt haben mochte, oder eben nicht, ich würde meiner Lebensgefährtin die Wahrheit erzählen und meiner Reue Ausdruck verleihen. Ich würde Ruth mächtig bei Celia anschwärzen, für das, was sie mir eingebrockt hatte. Ich begann dieses Weibsbild zu hassen, diese Eva mit dem verbotenen Apfel. Dabei konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals jemanden gehasst zu haben.

    Sobald dieser Entschluss feststand, fiel ein Teil der Last, die mich gepeinigt hatte von mir ab, wie Sandsäcke von einem steigenden Heliumballon. Mein Kopf fühlte sich wieder freier. Ich konnte wieder ungehindert atmen und sagte zu mir selbst, „es mag hart sein, aber da musst du durch". Ich war überzeugt, dass sich ein Leidensweg nicht umgehen ließ, dass aber nur die Wahrheit zum Ziel führen konnte und ich war zuversichtlich, dass am Ende alles gut würde.

    Als mir klar war, was ich tun musste, drehte ich um und marschierte Richtung Bahnhof. Ich wollte mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. Nach wenigen Metern fiel mein Blick auf ein schwarzes Etwas, das unter einem Busch hervor lugte. Ich bückte mich und fand ein in schwarzes Leder gebundenes Buch. Ich schlug es auf. Die Seiten waren von der Feuchtigkeit aufgeweicht und ließen sich kaum umlegen. Das Buch enthielt zwischen den gebundenen Seiten eine ganze Anzahl loser Blätter mit Notizen. Die Schrift auf den losen Blättern unterschied sich klar von der auf den gebundenen Seiten. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt wahrlich andere Sorgen, als zu mutmaßen, was es mit dem verwitterten Buch auf sich hatte. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran, meine Beziehung zu retten. Ich hätte Celia sogar die Heirat versprochen, wenn es nötig geworden wäre. Trotzdem brachte mich meine Neugier, oder vielleicht ein momentaner Impuls dazu, das Buch mitzunehmen.

    Die Auseinandersetzung mit Celia verlief besser als erwartet. Natürlich war sie sauer und machte mich zur Schnecke. Klar waren Tränen mit im Spiel und unfreundliche, teils verletzende Worte, logisch sträubte sie sich dagegen, von mir angefasst und getröstet zu werden. Verständlich, dass danach während Tagen Eiszeit zwischen uns herrschte und ich mich zum Schlafen im Wohnzimmer einrichten musste. Die Tatsache, dass meine Erzählung sich mit der von Ruth leidlich deckte – das Waschweib hatte also doch geplaudert – war für den doch versöhnlichen Ausgang maßgebend. In einem wesentlichen Punkt wich meine Schilderung deutlich von Ruths‘ Version ab. Während sie behauptete, ich hätte mit der Annäherung begonnen, bestand ich auf der Wahrheit. Dass meine Lebensgefährtin meiner und nicht Ruths Schilderung des Vorfalls Glauben schenkte, war wenig erstaunlich, denn sie kannte ihre Freundin zur Genüge.

    Nach einer guten Woche hatten sich die Wogen weitgehend geglättet. Wir versprachen uns gegenseitig, Ruth künftig zu meiden und ich wurde in ihrem Bett wieder geduldet. Einige Abende später kam mir das Buch in den Sinn, das ich am Waldrand gefunden hatte und immer noch in meiner Mappe aufbewahrte. Ich nahm es hervor und fand meinen Befund vom Waldrand bestätigt. Viele Seiten waren völlig verklebt. Ich überlegte wie ich die Seiten trennen könnte. In meiner Jugend, als Briefmarkensammeln aktuell war, pflegte ich die Wertzeichen mit Dampf von den Umschlägen zu lösen. Nun versuchte ich mit der gleichen Methode die Seiten des Tagebuchs voneinander zu trennen. Ich nahm unseren Wasserkocher in Betrieb, hielt die verklebten Seiten darüber und stellte fest, dass sich die einzelnen Seiten auf diese Weise voneinander lösen ließen. Um zu verhindern, dass die frisch getrennten, vom Dampf benetzten Seiten erneut zusammenklebten, legte ich ein trockenes, dickes Löschblatt dazwischen. Zudem beschränkte ich mich darauf, wenige Seiten am selben Abend zu trennen. Am folgenden Tag waren die gelösten Seiten dann getrocknet und ich konnte die nächsten in Angriff nehmen. Die bereits getrennten und getrockneten Seiten schützte ich jeweils mit einem Plastikbeutel vor dem Dampf. Dabei achtete ich darauf, dass die separaten, nachträglich ins Buch eingefügten Seiten an derselben Stelle blieben, an der sie eingeschoben worden waren. Es dauerte Wochen, bis sich sämtliche Seiten des Buchs umblättern ließen.

    Es war Celia nicht verborgen geblieben, dass ich mich abends oft mit dem schwarz eingefassten Buch beschäftigte. Nach der leidigen Geschichte mit ihrer Ex-Freundin Ruth, war unser Verhältnis daran, sich wieder einigermaßen zu normalisieren. Eine Prise Misstrauen, eine kleine Unsicherheit war übriggeblieben und diese würde sich wohl nicht so schnell vertreiben lassen. Meine Hoffnung beruhte darauf, dass dieser Schatten längerfristig verblassen und am Ende verschwinden würde. Es könnte, nebst ihrer Neugier, dieser Argwohn gewesen sein, der Celia veranlasste, sich für das schwarze Buch zu interessieren. Sie fragte sich vergeblich, warum ich ein am Waldrand gefundenes Buch mit nach Hause genommen hatte und nun viel Zeit, Geduld und Mühe investierte, um es lesbar zu machen. Es machte sie besonders stutzig, da die feinmotorische Herausforderung des geduldigen Bedampfens und vorsichtigen Lösens der einzelnen Seiten für mich besonders schwierig war. Bereits in meiner frühen Jugend galt ich nicht als besonders geduldig und wich oft Tätigkeiten aus, die diese Tugend erforderten. Das hat sich bis heute kaum geändert. Selbst als Briefmarkensammeln groß in Mode war, machte ich diesen Trend nur kurzzeitig und halbherzig mit. Also fragte sie mich, was es mit dem Buch auf sich hatte.

    Ich begründete alles mir meiner Neugier und versprach Celia, das Buch gemeinsam mit ihr zu lesen. Als dann auch die letzte Seite leserlich und trocken war, hatte das Buch auch Celias Neugier entfacht. Wir begannen sie zu stillen, indem wir das Tagebuch gemeinsam zu lesen begannen. Es sollte sich als ein wirksames Mittel erweisen, um unsere Bande zu festigen.

    Aus dem schwarzen Buch

    22. Mai

    Ich frage mich, warum mir Tante Sandra so viel bedeutet. Ich kenne sie seit meiner Geburt. In meinen Kindertagen hing ich meiner Lieblingstante so sehr an, wie meinen Eltern. Sie schien immer zu erraten, wonach mir war. Mit ihr machte ich die tollsten Ausflüge. Wir streiften durch den Zoo oder die freie Natur, als wären wir auf einer Safari. Sie wusste über die Eigenarten von Tieren und Pflanzen stets Spannendes zu erzählen. Oft suchten wir uns im Sommer am Fluss die besten Plätze zum Picknicken aus. Im Winter half sie mir, Iglus zu bauen, um die mich sämtliche Spielkameraden beneideten. Das Christkind hatte nicht halb so viel Ahnung von meinen sehnlichsten Wünschen, wie meine Tante Sandra. Sie verbrachte so viel Zeit mit mir, dass sie mich genauso lieben musste, wie ich sie. Wenn ich mich über etwas freute, spiegelte sich mein Entzücken in ihren Augen, die mich noch heute an Smaragde erinnern.

    Onkel Paul begegnete ich erstmals in Begleitung von Tante Sandra. Bei ihren Besuchen wurde sie öfter von jungen Männern begleitet. Die meisten von ihnen sah ich ein einziges Mal. Als sie uns erstmals in Begleitung von Paul besuchte, mag ich elf oder höchstens zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich kann mich noch heute an ihren Wortlaut erinnern als sie mich Paul vorstellte. Er machte mich mächtig stolz. Sie sagte:

    „Das ist Lukas, mein absoluter Lieblingsneffe, ein toller Junge, wie du feststellen wirst."

    Mit geschwellter Brust streckte ich Paul meine Hand entgegen. Er begrüßte mich herzlich und war mir auf Anhieb sympathisch. Das konnte ich nur von wenigen ihrer früheren Begleiter behaupten. Etwas in mir signalisierte, dass Tante Sandra den richtigen Freund gefunden hatte. Das muss auch sie gespürt haben. Von da an kam sie nie mehr mit anderen Männern zu Besuch. Sie begann ihm mehr Zeit zu widmen als mir. Wenn wir nun zusammenkamen, dann meist zu dritt, Tante Sandra, Paul und ich. Ich fühlte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend und das Bedürfnis, einfach wegzugehen, wenn sich die beiden in meiner Anwesenheit stritten. Mein kindliches Gemüt wurde das Gefühl nicht los, dass sich Tante Sandra und Paul nicht streiten durften. Ich war froh, dass Zwist zwischen ihnen selten aufkam. Ich spürte, dass es „gutmütige" Streitereien waren. Gewöhnlich endeten sie damit, dass Paul meiner Tante nachgab und die beiden Frieden schlossen. Trotzdem hasste ich jede Art von Konflikten, insbesondere die zwischen ihnen beiden.

    Ich litt nicht besonders unter der nachlassenden Aufmerksamkeit Tante Sandras. Ich vermisste sie kaum, auch weil ich zu jener Zeit meine Freizeit lieber selber zu gestalten begann. Mit meinen Freunden trieb ich mich auf dem Fußballplatz herum oder tourte mit dem neuen Fahrrad den endlosen Feldwegen entlang. Gelegentlich fuhren wir über die Wiesen und Felder, was mir einige unerfreuliche Begegnungen mit den Landwirten und ihrem Hornvieh bescherte. Paul und Tante Sandra waren regelmäßige Besucher in unserem Haus und sie unternahmen häufig gemeinsame Ausflüge und Wanderungen mit unserer Familie.

    Ich kann mich an Tante Sandras und Pauls Hochzeit erinnern, als hätte sie gestern stattgefunden. Ich war gerade dreizehn geworden. Tante Sandra sah in ihrem Brautkleid und mit der eigens für den schönsten Tag im Leben kunstvoll gestalteten Frisur himmlisch aus. Sie kam mir vor wie ein Engel. Ich hatte noch nie eine so schöne Frau gesehen. Hätte ich sie nicht als viel zu alt für mich empfunden, so hätte ich mich bestimmt in sie verliebt. Sie stand kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, bereits eine reife Frau aus Sicht eines Jungen, der sich gerade mit der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium beschäftigte. Ohnehin war sie meine Tante und die heiratete man einfach nicht. Deshalb mochte ich es Paul gönnen, dass er meine wunderschöne, blonde Tante Sandra zur Frau bekam. Vielleicht wäre es korrekter zu sagen, dass sie ihn zu ihrem Ehemann nahm. So lieb und einfühlsam sie stets zu mir und sicher auch zu Paul war, sie wusste immer genau, was sie wollte und sie wusste auch, wie sie es bekam. Ich fühle, dass Tante Sandra und Paul noch eine bedeutende Rolle in einer Phase meines Lebens spielen werden.

    Ich weiß nicht warum mir gerade jetzt all diese Gedanken durch den Kopf gehen, aber ich habe heute beschlossen, ein Tagebuch zu führen. Ich werde täglich alles aufschreiben, was ich erlebe und mir erwähnenswert scheint. Morgen, spätestens übermorgen geht‘s los.

    25. Mai

    Wie jeden Morgen betrachte ich die gläserne Echse auf meinem Nachttisch, bevor ich aufstehe. Die Farbe in der sie am frühen Morgen schimmert, erachte ich als eine Prophezeiung zum bevorstehenden Tag. Bisher hat meine gläserne Mitbewohnerin immer Recht behalten. Heute strahlt sie in einem Blau mit grünlichen Reflexen. Ein gutes Omen, wie ich meine.

    Tante Sandra und Paul wollen heute ihren fünfzehnten Hochzeitstag feiern. Vor der dunkelblauen, hölzernen Eingangstür ihres Reihenhauses stehend, bewundere ich ihren kleinen Garten. Er ist so perfekt gepflegt, wie ich es von Tante Sandra nicht anders erwarte. Ihre Rosen stehen in voller Blüte und verströmen einen angenehmen Duft. Es scheint mir als wäre dies Teil des Konzepts, um die Besucher der heutigen Feier in eine fröhliche Stimmung zu versetzen. Die geschnitzte und geschmackvoll verzierte Hausnummer ist ein Beweis für Pauls Kunstfertigkeit. Wie jedes Mal wenn ich hier stehe, zieht sie meinen Blick auf sich.

    Mit einem farbenfrohen Blumenstrauß und einer Flasche Rioja ausgestattet, werfe ich einen letzten Kontrollblick an mir herunter. Es sitzt alles adrett. Die Blumen habe ich mir von der netten Floristin im Laden gegenüber unserer WG zusammenstellen lassen. Den Wein hat mein Mitbewohner Florian ausgesucht. Er behauptet ein Weinkenner zu sein, trinkt aber meines Wissens überhaupt keinen Alkohol.

    Ohne zu wissen, was mich erwartet, drücke ich auf den Klingelknopf. Paul öffnet mir die Tür. Er trägt Jeans und ein grünes Poloshirt. Erleichtert schließe ich aus seiner Garderobe auf ein Fest in lockerer Atmosphäre. Für eine Party von Krawattenträgern wäre ich nicht angemessen gekleidet. Seine dunklen, von schmalen Brauen akzentuierten Augen, leuchten. Seine offensichtlich gute Laune und das Geplapper und fröhliche Gelächter, das aus dem Wohnzimmer dringt, locken mich ins Haus. Ich übergebe Paul die Flasche, um meine rechte Hand frei zu bekommen. Nun umarme ich ihn einhändig, klopfe ihm sanft auf den Rücken und gratuliere ihm. Um die Ecke ins Wohnzimmer spähend, prüfe ich gespannt, ob ich die Gäste kenne. Nebst meinen Eltern und Tante Sandras Geschwister Verena und Eugen, sitzen da noch Pauls Jugendfreund Richi, sein Bruder Erich und seine Schwester Vicky sowie eine mir unbekannte Frau, etwa im Alter von Tante Sandra.

    Der Terminus „Tante Sandra ist für mich ein unteilbarer Begriff. Bis heute habe ich es nie geschafft, das Wort „Tante wegzulassen. Eigentlich habe ich es nie gewollt. Man könnte fast sagen, dass sie für mich „Tantesandra heißt, in einem Wort, als ein Begriff. Ich begrüße meine Eltern und meine Tanten Vicky und Verena, die ich noch nie mit „Tante angesprochen habe. Dann gebe ich meinen Onkeln Erich und Eugen die Hand und stelle mich der unbekannten Dame vor. Während Tante Sandra noch in der Küche beschäftigt ist, erfahre ich, dass die Unbekannte in ihrer Wohltätigkeitsorganisation arbeitet. Ihre rundliche Silhouette strahlt Gemütlichkeit aus und wirkt irgendwie beruhigend. Auch ihr faltenfreies, von dunklen Locken umrahmtes Gesicht, vermittelt ein behagliches Gefühl. Ihr Dauerlächeln und ihr gelassenes Naturell lassen sie nicht etwa einfältig, sondern sympathisch wirken. Mich dünkt sie passe zu Tante Sandra, die dynamisch, schlank und beinahe so groß ist wie ich. Somit überragt sie ihre Freundin um geschätzte zwanzig Zentimeter. Instinktiv sehe ich die Beiden als Puzzleteile, die sich perfekt ergänzen.

    Nun versuche ich Tante Sandra auf beide Wangen zu küssen. Ich bemühe mich den Kontakt mit ihren Lippen zu vermeiden. Sie weisen heute einen feuerroten Glanz auf und ihre Oberfläche wirkt feucht und bereit, unübersehbare, rote Abdrücke zu hinterlassen. Das ist ungefähr das Letzte, was ich suche. Mein Vorhaben scheitert kläglich, denn Tante Sandra schafft es wie immer, mich zu küssen, anstatt sich von mir küssen zu lassen. Ich wünsche ihr viele glückliche Tage mit Paul und bedanke mich für die Einladung, während ich ihr den Blumenstrauß überreiche.

    Da keine weiteren Gäste erwartet werden, bleibt die Party familiär, fast schon intim. Man hat auf mich gewartet, um den Champagner zu entkorken und auf die Jubilare anzustoßen. Ich koste den edlen Schaumwein, doch eigentlich stehe ich mehr auf einfachere Getränke wie Bier oder Apfelschorle. Aber natürlich gehört zu einem solchen Anlass nichts Geringeres als Champagner.

    Paul verlässt den Raum, um kurz darauf mit einem Geschenk für seine Frau zurückzukehren. Das blaue, irisierende Geschenkpapier wird von einer kunstvoll gebundenen, silberfarbenen Schleife umfasst. Pauls strahlendes Gesicht verrät, wie viel Freude es ihm bereitet, Tante Sandra zu beschenken. Sie hat ihr Geschenk für Paul bereits neben sich auf die Sofalehne gelegt. Als Paul sein Glas wie eine Glocke anschlägt, verstummt die Unterhaltung der Gäste und er wendet sich an seine Ehefrau:

    „Liebe Sandra, während der vergangenen fünfzehn Jahre habe ich es nie bereut, dich geheiratet zu haben, nicht während einer einzigen Sekunde. Du weißt es, aber vielleicht unsere Freunde nicht. Ich liebe dich noch wie am ersten Tag. Das Element…"

    Der frenetische Applaus, die Lacher und die zustimmenden Zwischenrufe unterbrechen Pauls Rede kurz. Sobald er wieder gehört wird, fährt er weiter:

    „Kristall ist das Element, das für den fünfzehnten Hochzeitstag steht. Ich hoffe, das richtige Geschenk ausgesucht zu haben. Es sollte Symbolcharakter, aber auch praktischem Nutzen haben."

    Er überreicht ihr das blaue Päckchen, das sie mit einem Lächeln in ihren leuchtenden Augen entgegennimmt und ihm einen Kuss zuhaucht. Sie flüstert Paul etwas ins Ohr, dass offenbar nur für ihn bestimmt ist und küsst ihn leidenschaftlich auf den Mund, was weiteren Applaus zur Folge hat.

    Das in rotes Seidenpapier gewickelte Geschenk, das Tante Sandra Paul übergibt, lässt wenig Fantasie über dessen Inhalt zu:

    „Ich habe kein Geschenk mit Symbolcharakter, aber ich hoffe, dass es dir trotzdem gefällt."

    Nach diesen Worten wendet sie sich an ihre Gäste:

    „Liebe Freunde und Verwandte, Paul und mir ist es eine besondere Freude, diesen Anlass im engen Rahmen mit Euch, unseren engsten Freunden, zu feiern. Danke, dass ihr gekommen seid und danke für eure Geschenke. Paul und ich hoffen, dass ihr den Abend genießt. Wir tun es jedenfalls."

    Tante Sandra schält eine Schachtel aus dem Geschenkpapier. Sie entnimmt ihr zwei kristallene Champagnergläser und eine Karte mit der knappen Botschaft „Für intime Momente. In Liebe, Paul". Im Augenwinkel Tante Sandras sammelt sich etwas Feuchtigkeit. Sie reflektiert das Licht, als würde sie kleine Sterne emittieren und zeugt davon, wie bewegt Tante Sandra ist. Ihre Vorfreude auf solche intime Augenblicke wird für mich förmlich spürbar.

    Mit wenigen flinken Handgriffen schält Paul aus dem roten Einband ein Buch. Er lächelt beim Lesen des Titels „Wie erreiche ich mehr – Ein Brevier für Karrierebewusste". Was er zeigt ist Maske, es ist nicht sein wahres Lächeln. Aus seinen leeren Augen lese ich, dass er sich etwas Persönlicheres erhofft hat. In der Leere seines Blicks verliere ich mich und rutsche in meine eigene Gedankenwelt ab. Die Melancholie in seinen Augen lässt mich daran denken, dass sich Paul seit Jahren Kinder wünscht. Trotz unserer Vertrautheit weiß ich nicht, wie Tante Sandra zu diesem Thema steht. Jedenfalls haben sie und Paul dafür nicht mehr lange Zeit.

    Erst jetzt schreckt mich das Blitzlicht von Onkel Erichs Kamera aus meinen abgeschweiften Gedanken. Ich entdecke das riesige neue Bild über dem Kamin und staune, dass es mir nicht früher aufgefallen ist. Die angeregte Unterhaltung und mein kurzer Exkurs in meine eigene Gedankenwelt haben mich wohl davon abgelenkt. Trotz der großflächig aufgebrachten kräftigen Farben, wirkt das Gemälde erstaunlich ruhig. Paul verrät mir, dass er das Gemälde erst vor zwei Wochen fertiggestellt hat.

    „Das Beste, das du je gemalt hast. Ich finde es sehr gelungen und es könnte an keinem geeigneteren Platz hängen", lobe ich sein Werk.

    „Deine Tante hat bestimmt, wo es hinkommt. Sie ist die mit dem guten Auge für die Innendekoration."

    Ich beschließe, auch künftig meinen WG-Genossen Florian in Weinangelegenheiten zu konsultieren, da der Tropfen, den ich mitgebracht habe, beim Abendessen von allen gelobt wird.

    Nachdem alle Gäste gegangen sind, will Tante Sandra nicht ins Bett, bevor Esszimmer und Küche restlos aufgeräumt sind. Das ist typisch für meine Tante. Sie erträgt keine Unordnung, leidet richtiggehend darunter. Paul hilft ihr beim Abräumen des Geschirrs, den Rest erledigt Tante Sandra lieber selbst.

    Paul zieht sich währenddessen ins Büro zurück und fährt seinen Laptop hoch. Ein kurzer Blick auf seine E-Mails verrät ihm, dass nichts Wichtiges hereingekommen ist. Einer spontanen Eingebung folgend, öffnet er das Textprogramm und beginnt planlos einige Sätze zu tippen. Die Sätze reihen sich wie von selbst aneinander und es macht ihm zusehends Spaß. Er tippt ohne Unterbruch. Ein Lächeln flammt periodisch auf seinen Lippen auf, wenn ihm eine besonders gelungene Formulierung gelungen ist. Er schreibt so lange weiter, bis er von seiner Frau abgeholt wird und sie ihren Hochzeitstag nach eigener Vorstellung im intimen Rahmen ihres Schlafzimmers feiern dürfen.

    Erstes loses Blatt

    Neuentdeckungen gehören zu unserem Leben. Das sollten sie jedenfalls. Wenn wir etwas Neues entdecken, sei dies bei einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze, selbst bei einem leblosen Objekt, so kann diese Erkenntnis dreierlei in uns bewirken. Entsprechend unserem Naturell entwickeln wir eine Liebe dazu, die neue Entdeckung interessiert uns nicht weiter und wir vergessen sie alsbald, oder wir verspüren eine deutliche Abneigung dagegen, sodass wir sie bewusst meiden oder bekämpfen. Ungeachtet des positiven oder negativen Gefühls, das wir für das Neue entwickeln, sollten wir genug Neugierde aufbringen, um uns auf diese Erfahrung einzulassen. Nur wer neugierig bleibt, lernt tiefere Zusammenhänge zu verstehen und verhindert seinen persönlichen Entwicklungsstillstand und damit seine vorzeitige Alterung, was gleichbedeutend mit seiner vorzeitigen Alterung ist.

    Ich vertrete die Meinung, dass wir dem Unbekannten stets mit einem gesunden Quantum an Skepsis, vor allem aber mit einem kindlichen Maß an Entdeckergeist begegnen sollten. Je mehr wir über ein Phänomen, eine Theorie, eine Sache oder ein Lebewesen erfahren, umso grösser wird unsere Fähigkeit, uns ein eigenes und begründetes, wenn auch subjektives Urteil darüber zu bilden. Mangelt es uns an Wissen über ein Thema, so besteht die Gefahr, dass wir ins Fahrwasser der Massen geraten und uns von ihrer populistischen Meinung tragen lassen, wie ein Schlauchboot von einem Fluss. Wir würden dann Teil des urteilsunfähigen Pöbels, der blind irgendwelchen manipulierenden Meinungsführern und Demagogen folgt.

    26. Mai

    Den blauen Farbton von gestern hat meine Echse beibehalten. Violette und rosa Reflexe haben das gestrige Grün abgelöst. Wird der heutige Tag unterschwellige Spannungen und gleichzeitig harmonische Momente bringen?

    Paul lehnt sich in seinem Bürostuhl etwas zurück, gähnt und schaut auf seine Uhr. Die Datumsanzeige ist bereits auf die Sechsundzwanzig gesprungen. Dann liest er nochmals die paar letzten Sätze, die er soeben getippt hat. Die Deckenbeleuchtung ist ausgeschaltet. Das kalte Licht seiner gedimmten Halogentischlampe hat er auf die Decke gerichtet, wo es vom weißen Putz ungleichmäßig im Raum verteilt wird. Paul ist mit seinem Text auf dem Bildschirm unzufrieden. Die Freude, die er während des Tippens empfunden hat, ist verflogen. Wieder und wieder liest er die letzten Zeilen konzentriert durch, auf der Suche nach spannenderen Formulierungen. Seine Zähne vertiefen sich sanft in die Unterlippe, als könnten sie seine Konzentrationsfähigkeit durch ihren Druck erhöhen. Er schüttelt immer wieder den Kopf und fährt sich durch sein dunkelbraunes, volles Haar. Er kann nicht mehr nachvollziehen, was ihn an seinem Satzaufbau noch vor wenigen Minuten so fasziniert und belustigt hat. An seinem Wortgefüge stimmt etwas nicht. Er sucht vergeblich nach Änderungen, um die Geschmeidigkeit der Sätze zu verbessern. Er bemüht sich um witzige und blumige Formulierungen. Noch während er schrieb schien es ihm gelungen zu sein. Aber nun, da er das Geschriebene durchliest... Seine sonst verlässlichen analytischen Fähigkeiten scheinen in diesem Fall zu versagen.

    In ihrer typisch leichtfüßigen, an Indianer in Hollywoodfilmen erinnernden Art, öffnet Tante Sandra lautlos die Tür zu Pauls Büro einen Spaltbreit und lugt hindurch:

    „Was schreibst du da?"

    Paul fährt aus seinen Gedanken hoch:

    „Ich spiele mit Formulierungen. Vielleicht ist es der Anfang eines Romans."

    „Ein Roman? Was soll das denn?"

    „Mich hat plötzlich die Lust gepackt, eine Geschichte zu schreiben. Ich will herausfinden, ob ich das kann."

    „Ach komm jetzt. Legst du dir schon wieder ein neues Hobby zu? Du gehst angeln, fotografierst, malst und versuchst Lieder zu komponieren. Reicht dir das nicht? Mutierst du jetzt auch noch zum Schriftsteller? Wird dir das nicht ein Bisschen viel, mein Universalgenie?"

    „Meine Fotos sind nicht schlecht. Das hast du selbst gesagt. Du hast dich auch über das Lied gefreut, das ich zu deinem letzten Geburtstag geschrieben habe. Ich habe zwar nicht die Stimme von Michael Bublé, aber das Lied hat dir sichtlich Freude gemacht. Mein neues Meisterwerk in Acryl schmückt neuerdings unser Wohnzimmer und meine frischen Saiblinge haben dir letzten Sonntag auch geschmeckt. Irgendwie scheinen meine Hobbies nicht nur mir Freude zu machen. Täusche ich mich etwa? Habe nur ich großen Spaß daran?"

    Ihr Lächeln hinterlässt ein Grübchen auf ihrer linken Wange. In diese kleine Vertiefung hat sich Paul bereits verliebt als sie ihn das erste Mal anlächelte. Sie streicht ihm über sein kurzes, dichtes Haar:

    „Ja, da hast du Recht. Ich möchte nur verhindern, dass es dir zu viel wird neben deiner Arbeit. Du weißt, Stress ist nachweislich ungesund – auch fürs Liebesleben."

    Bei den letzten, gehauchten Worten zieht Paul sie näher zu sich heran und küsst sie sanft auf den Mund und dann auf die Nase:

    „Ich gebe schon auf mich Acht. Ich mute dir doch keinen kranken Partner zu. Du bist und bleibst mein wichtigstes und liebstes Hobby. Fühlst du dich etwa vernachlässigt?"

    „Nein. Es ist nur…"

    „Was Schatz, was stört dich?"

    „Ich mache mir einfach Sorgen, Sorgen dass du dich überforderst."

    „Ach komm, Schatz, meine Freizeitbeschäftigungen sind pure Erholung, das genaue Gegenteil von Stress."

    „Wenn du es so empfindest… Darf ich deine Geschichte lesen?"

    Sie wendet ihren Blick dem Bildschirm zu.

    „Bitte nicht – noch nicht. Es ist furchtbar schlecht. Wenn es überarbeitet ist, gebe ich es dir gerne."

    „Versprochen?"

    „Hoch und heilig."

    „Und deine Arbeit kommt nicht zu kurz?"

    „Bestimmt nicht."

    „Also, dann lasse ich dich weiterschreiben und lese noch ein wenig."

    „Was liest du denn gerade?"

    „Jenseits von Eden – Steinbeck. Bin noch nicht sehr weit gekommen."

    „Tolles Buch. Hoffentlich nimmst du es nicht als Maßstab für mein Geschreibsel."

    „Tue ich nicht. Steinbeck musste schließlich mit Schreiben seine Brötchen verdienen. Also, bis später."

    Tante Sandra will die Tür schließen, doch Paul unterbricht sie:

    „Schatz, es ist unser Hochzeitstag, und mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügt er hinzu „oder war es bis vor einer guten Stunde und ich hatte eigentlich eine andere Vorstellung davon, wie wir den Tag ausklingen lassen würden.

    Sie hält mitten in ihrer Bewegung inne und ihr schelmisches Lächeln erhellt Pauls Gesicht. Er speichert die neue Datei unter „Roman" ab, und fährt seinen Laptop herunter, während Tante Sandra ihr Buch auf dem Wohnzimmertisch liegen lässt und sich ins Bad zurückzieht.

    Gemeinsame Interessen

    Celia und ich lasen gewisse Passagen aus dem schwarzen Buch mehrmals durch. Sie ließen uns ratlos zurück. Im Gegensatz zu Celia hatte ich noch nie Tagebuch geführt und fragte mich, wie der Verfasser Szenen beschreiben konnte, die er nicht erlebt hatte. Celia war Tagebuchschreiberin, doch auch sie konnte es mir nicht erklären. Selbst ein Voyeur hätte nicht beschreiben können, wie sein Onkel dachte oder fühlte. Wir diskutierten ausgiebig, suchten nach einer plausiblen Erklärung und stritten uns darüber, ob dies ein echtes Tagebuch, oder ein Produkt der Fantasie eines Träumers sei.

    Diese Frage beschäftigte uns einen ganzen Abend und befeuerte unsere kontroverse Diskussion. Wir wollten die Frage klären, bevor wir am folgenden Abend weiter lesen würden. Als wir jedoch schlafen gingen, hatten wir das Rätsel nicht ansatzweise gelöst. Welche Rolle kam der Echse mit ihrem Farbenspiel zu? Bot sie eine Spur zur Auflösung des Rätsels? Schließlich waren wir beide müde und vertagten die Fortsetzung unserer Diskussion auf den folgenden Abend.

    Am nächsten Abend hatten Celia und ich das schwarze Buch wieder hervorgeholt. Noch bevor wir es aufschlagen konnten, klingelte es an unserer Wohnungstür. Celia öffnete und vor ihr stand Ruth in ihrer aufgeräumtesten Stimmung, ein breites Grinsen im Gesicht. Ich war wie vom Blitz erschlagen und vermutete, dass es Celia nicht anders erging. Meine Nerven vibrierten. Was hatte diese Schlange in unserer Wohnung zu suchen? Wollte sie schlafende Hunde wecken, die Krise zwischen Celia und mir wieder beleben? Ich wünschte dieses Weibsbild zum Teufel, kochte innerlich, verhielt mich aber ruhig. Verblüfft sah ich, wie Celia ihre Freundin, oder eher Ex-Freundin eintreten ließ. Verwirrt blieb ich wie festgefroren auf dem Sofa sitzen. Wie eine Marmorstatue saß ich da und sah zu, wie Celia den Gast in unser Wohnzimmer führte und ihr direkt mir gegenüber einen Sessel anbot. Ruth bedachte mich mit einem stummen, kaum wahrnehmbaren Nicken. Ich rührte mich nicht.

    Meine Konsternation darüber, dass Celia Ruth hereingebeten hatte wich erst, als ich Celias Plan zu durchschauen begann. Nachdem sie ihrer früheren Freundin schweigend einen Kaffee serviert und sich ihr gegenüber hingesetzt hatte, deckte Celia die Unwillkommene mit heftigen und derben Beschimpfungen ein. Es fielen Worte, die ich noch nie aus ihrem Munde gehört hatte, Ausdrücke, die ich ihr nie zugetraut hätte. Ich liebe Celia, aber ich bedaure jedes Geschöpf, das ihrem spanischen Urzorn ausgesetzt ist. Obgleich Ruth der einzige Mensch war, der jemals Hass in mir geschürt hatte und Celias Entladung zweifellos verdiente, fühlte ich ein gewisses Mitleid mit ihr. Mit jedem Wort von Celias Kaskade wurde Ruth kleiner, sank regelrecht in sich zusammen. Bestimmt hätte sie am liebsten unsere Wohnung gleich wieder verlassen. Sie wäre aber durch die Wirkung eines Tasers nicht bewegungsunfähiger gewesen, als durch Celias Ausbruch. Celias Worte verloren weder an Härte noch an Offensivpotential, nur ihre Stimme wurde allmählich leiser und ihr Tonfall weniger schneidend.

    Als meine Lebensgefährtin schließlich ihre Tirade unterbrach, glich Ruth einem Häufchen Elend. Sie verharrte in einer Starre, die selbst ihre Tränendrüsen verstopfte. Trotzdem fand sie nach einigen Sekunden ihre Stimme wieder. Doch sie klang nicht nach ihrer Stimme, sondern sehr oberflächlich und volumenlos. In Satzfragmenten versuchte sie mir die Schuld an dem Vorfall zu geben. Sie behauptete, dass ich seit geraumer Zeit fremden Frauen nachstelle und es auch bei ihr versucht hätte. Celia schwieg und ließ Ruth ausreden. Obwohl ich nicht als ausgesprochen geduldig gelte, kennt man mich auch nicht als unkontrolliert, impulsiv oder aufbrausend. Es dürfte sich schwerlich jemand finden, der mich jemals die Fassung verlieren sah. Nun trieben mir diese Verleumdungen aber die Zornesröte ins Gesicht.

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