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In deutschen Zeiten: Roman
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eBook380 Seiten5 Stunden

In deutschen Zeiten: Roman

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Über dieses E-Book

"In der schlechten Luft des Krankenhauses, unter Schmerzen, vollgepumpt mit Medikamenten wurde mir plötzlich klar, dass ich Schriftsteller werden würde. Der größte aller Zeiten."
Irgendwann in den späten 70er-Jahren irgendwo in der DDR beschließt Frank Grunwald zu schreiben. Über die Plattenbauten und die Lehrlingsbrigade in der Provinz, über den Hafen und das Arbeiterwohnheim in Rostock. Über den Braunkohletagebau und Leipzig, die verfallende Stadt. Über die Revolution von 1989 und die mühsamen Versuche eines Neuanfangs.
Uwe Heits Roman ist ein Parforceritt durch den Untergang eines Staats und eine ebenso tragische wie absurd-komische Geschichte vom Scheitern eines Menschen an der Geschichte und an sich selbst.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Nov. 2016
ISBN9783738092554
In deutschen Zeiten: Roman

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    Buchvorschau

    In deutschen Zeiten - Uwe Heit

    Ein großartiger Augenblick

    Ein Lkw überfuhr mich. Die gläsernen Milchflaschen in meinem Einkaufsbeutel zerbrachen knirschend, meine Beine zerbrachen knackend unter den Reifen. Ich war zehn. Der Lkw fuhr weiter.

    Ich lag auf Kopfsteinpflaster, das später verkauft werden würde, weil mein Land, die DDR, Westgeld benötigte. Es würde verkauft werden an die BRD, deren Kleinstädte so aussehen sollten wie in der guten alten Zeit. Der notdürftige, schnell zerfahrene Ersatzbelag würde erst im vereinigten Deutschland ersetzt werden, mit dem Geld der BRD.

    Es dauerte, bis ich verstand, dass ich es war, der auf der Straße ohrenbetäubend schrie. Menschen sammelten sich um mich. Eine Frau drückte meine Hand: Ich solle mir keine Sorgen wegen der Milchflaschen machen; ich würde meiner Mutter erklären können, warum es heute keine frische Milch gäbe. Ein Krankenwagen hielt neben mir. Zwei Sanitäter legten mich auf eine Trage und fuhren mit mir weg. Auf dem Weg zum Krankenhaus wurde mir klar, dass ich an diesem Tag möglicherweise nicht in die Schule musste. Das stimmte mich etwas optimistischer.

    Weil in der Kinderabteilung kein Bett frei war, wurde ich in einem Zimmer der Männerstation untergebracht. Sieben Männer lagen darin in brütender Hitze bei geschlossenen Fenstern. Ich starrte von meinem Bett aus nach draußen, wo am Himmel sich schnell auflösende Wolken entlangzogen. Als es dunkel geworden war, brüllte ein Mann, der kleine Scheißer solle endlich die Schnauze halten, sonst würde er ihm den Schnabel zudrehen. Zustimmendes Gebrabbel war aus den anderen Betten zu hören. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass das Winseln, das ich seit Stunden ununterbrochen gehört hatte, aus meinem Hals kam.

    In den nächsten Tagen bekam ich viele Spritzen. Anfangs hatte ich Angst davor, aber nach einer Woche rief ich: »Hier!«, wenn die Schwester mit Spritzen in das Zimmer kam und uns fragte: »Wer will noch mal? Wer hat noch nicht?«

    Mein Klassenlehrer und zwei Mitschüler besuchten mich im Krankenhaus. Ich hatte das nicht erwartet, denn ich war unbeliebt in der Schule. Herr März als mein Klassenlehrer musste mich sicher im Krankenhaus besuchen, aber meine Mitschüler? Später erfuhr ich, dass die Klasse Sieglinde und Bernd als Besucher bestimmt hatte. Sieglinde war ein unscheinbares Mädchen, mit dem ich noch keine fünf Sätze geredet hatte. Sie stand neben meinem Bett und starrte mich an. Auch Bernd sagte nichts. Sein Vater war Schauspieler. Unsere Klasse musste jedes Jahr eine Aufführung des Märchens »Das tapfere Schneiderlein« im Theater besuchen, in der Bernds Vater betrunken als das tapfere Schneiderlein über die Bühne torkelte. Ich wusste nichts von der Verzweiflung eines Schauspielers an einem Theater in einer Kleinstadt der DDR. Schauspieler waren für mich Menschen, die in einem Fleischfachgeschäft das R rollten bei der Frage, ob es etwas anderes als Leberwurst gebe diese Woche. Bernd würde als Achtzehnjähriger in einem Schlauchboot nach Dänemark fliehen wollen, aber noch am Ostseestrand von Grenzsoldaten verhaftet werden. Vielleicht hatte er Angst gehabt vor einem Ende wie das seines Vaters, des tapferen Schneiderleins. Noch im Gefängnis würde er von der BRD freigekauft werden. Ich hatte damals keine Ahnung, dass die DDR neben Pflastersteinen auch Bürger für gutes Geld verkaufte.

    Ich langweilte mich sehr in meinem Bett, sodass mir die Krankenschwestern Bücher aus der Bibliothek des Krankenhauses brachten. Die Kinderbücher hatte ich bald gelesen. Anderes wollten mir die Schwestern zunächst nicht geben, aber die Männer im Zimmer überredeten sie dazu. Wenn ich las, schwieg ich. Ich konnte sehr schnell lesen. Als ich alle Bücher der Krankenhausbibliothek gelesen hatte, brachte mir meine Mutter welche mit.

    In der schlechten Luft des Krankenhauses, unter Schmerzen, vollgepumpt mit Medikamenten, umgeben von Menschen mit abstoßenden Wunden wurde mir plötzlich klar, dass ich, Frank Grunwald, Schriftsteller werden würde. Der größte aller Zeiten.

    Hühner

    Die Straße, in der unser Haus stand, endete am Geflügelschlachthof der Stadt. Sie war weniger eine Straße als ein ausgefahrener, unebener Sandweg voller Kuhlen. Unter den Reifen der Lkw und Traktoren, die das Geflügel Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften zum Schlachthof transportierten, wurde der Bauschutt, mit dem die Straße gelegentlich geflickt wurde, zu rötlich-weißem Staub zermahlen. Wegen der Straßen und der Transportbehälter fielen viele Tiere auf dem Weg zum Schlachthof von den Fahrzeugen: Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Fahrer bekamen ihr Gehalt so oder so am Monatsende, ihnen war es also egal; mir und meinen Freunden aber nicht. Wir kannten jede Kuhle der Straße und wussten genau, an welchen Stellen die Tiere aus den Käfigen fielen. Dann gehörten sie uns. Hühner, Enten, Gänse, Kaninchen. Die Leute schimpften ständig, es gäbe trotz der wirtschaftlichen Erfolgsmeldungen in den Zeitungen nichts zu kaufen. Wir jedoch hatten die Straße. Was auf einer Straße gefunden werde, sei öffentliches Eigentum, erklärte mein Vater. Also gab es bei uns zu Hause: Huhn gebraten, Huhn gekocht, Huhn sauer eingelegt. Hühnersuppe mit Nudeln. Hühnersuppe ohne Nudeln. Huhn mit Mohrrüben. Oder mit Porree. Huhn gebacken. Huhn mit Zwiebeln. Hühnerfleisch mit Käse. Hühnerfrikassee. Huhn in Weißwein (wegen des Weinangebots nur selten). Huhn mit Senf und Reis. Huhn mit Reis – ohne Senf. Huhn mit Gemüse und Reis. Ausschließlich im Herbst Huhn mit Pilzen, denn Pilze konnten wir nicht kaufen, nur sammeln. Geschmortes Huhn. Gefülltes Huhn. Huhn in Buttermilch. Eintopf mit Hühnerfleisch. Russisches Huhn. Huhn auf Ukrainisch. Rumänisches Huhn – sehr schmackhaft! Ente in allen Varianten. Gänsebraten gab es nur in der Vorweihnachtszeit, weil nur dann Gänse zum Schlachthof gefahren wurden. Kaninchen aßen wir seltener, denn die konnte ich nicht gut fangen. Enten dagegen konnte ich sehr gut fangen, sogar mehrere mit vier, fünf Griffen, in Sekundenschnelle.

    Besonders unsere kinderlosen Nachbarn waren neidisch auf unsere fleischhaltigen Mahlzeiten. Acht Enten hatten sich einmal in den Garten unserer Nachbarn geflüchtet. Die Cytowics, Bednareks und Jewaroweskys, Kriegsflüchtlinge aus dem Osten, die ein seltsames Deutsch sprachen, lebten beengt in einer Villa, die nach der Enteignung der Besitzer umgebaut worden war. Den großen Garten der Villa hatten die Schlesier und Ostpreußen in viele kleine eigene Gärten aufgeteilt und ihre Kleingärten mit kniehohen Zäunen voneinander abgegrenzt. Sie stritten sich ständig und gönnten einander nichts. Nun aber zerstörten acht Enten, sichtlich verwirrt durch das erste Grün nach einem Leben im Stall, ihre kniehohen Gartenzäune, zertraten die liebevoll gehegten Beete, aber die Flüchtlinge schien das nicht zu stören. Sie standen an den Fenstern ihrer engen, kleinen Wohnungen und beobachteten die Entenschar. Sicher warteten sie auf die Dunkelheit, um die Enten ohne Zeugen fangen zu können. Ich dagegen hoffte, dass die Enten durch das Loch im Zaun in unseren Garten kommen würden. Wir alle wurden enttäuscht, denn Frau Müller, eine alte kleine Frau, erschien mit zwei Arbeitern des Geflügelschlachthofs im Garten, um die Tiere wieder einzufangen. Die Müllers waren die enteigneten Besitzer der Villa, des Gartens und des Geflügelschlachthofs und wohnten im Keller des Hauses. Anders als andere enteignete Kapitalisten der DDR waren die beiden nicht in den Westen geflüchtet. Ich war ihnen dafür dankbar, denn von grausamen, blutgierigen, kapitalistischen Ausbeutern in der Schule zu hören, war das eine – sie als Nachbarn zu haben, etwas anderes. Herrn Müller sah ich nie ganz; er verließ den Keller nicht. Ich hatte den Verdacht, dass er so gegen die Volkswirtschaft protestierte, aber meine Mutter meinte, er sei gehbehindert. Der Alte in der Kellerwohnung war sicher ein blutgieriger Kapitalist gewesen, aber auch im volkseigenen Schlachthof fanden die Tiere ein bedauernswertes Ende. Käfige voller Hühnern standen tagelang bei jedem Wetter auf dem Hof. Entlaufene Enten zogen gruppenweise laut schnatternd über den Hof, als protestierten sie gegen die Zustände. Der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs liebte es, entlaufenen Hühnern auf dem Hof mit dem Luftgewehr eine Bleikugel in den Kopf zu schießen. War das Tier getroffen, führte es einen wilden Tanz auf, bevor es am Boden zuckend starb. Überall lagen zwischen anderen Abfällen Kadaver auf dem Hof. An warmen Sommertagen und bei ungünstigem Wind war der Aufenthalt in unserem Garten wegen des Geruchs nach verfaulendem Fleisch fast unerträglich.

    Es war mir unverständlich, wie meine Großeltern, die in unserem Gartenhäuschen wohnten, das ertragen konnten. Untereinander benutzten sie einen seltsamen deutschen Dialekt und betrachteten die Flüchtlinge in der ehemaligen Villa mit Argwohn. Es war meinen Großeltern als deutschen Protestanten schlecht ergangen im katholischen Polen, der »kalten Heimat«. Ihre Vorfahren hatten ein paar Hundert Jahre lang versucht, den Sand fruchtbar zu machen, den ein polnischer Graf den Deutschen zur Urbarmachung überlassen hatte. Jeden Sonntagmorgen beteten Großmutter und ich gemeinsam am Wohnzimmertisch. Wir hörten eine Predigt im Radio, sangen Kirchenlieder und Großmutter las aus einer alten, zerfallenden Familienbibel. Zu ihrem Verdruss waren wir bei der sonntäglichen Kirchenandacht am Radio immer nur zu zweit. Meine Eltern hatten als Genossen der SED die Kirche verlassen und mein Großvater besuchte in der Zeit, in der wir vorm Radio saßen, seine Freundin, wie ich viel später erfahren würde. So war ich der Einzige, der sich neben meiner Großmutter in der Familie noch zum Protestantismus bekannte. Nach der Morgenandacht gingen wir in die Kirche: Ein stolzes Kind in Opposition zu seinen Eltern und dem dickfelligen Großvater begleitete seine an Krücken humpelnde Großmutter. In der Kirche trafen wir Bekannte, alte Frauen, die wenigsten in Begleitung eines Enkels. Während der Unterhaltung der Alten über Krankheiten und den baldigen Tod wartete ich geduldig auf meinen Moment. Irgendwann betrachteten trübe, schwache Augen mich wohlgefällig und Großmutter wurde laut um ihren artigen, gottgläubigen Enkel beneidet. Anschließend lobte meine Großmutter mich, danach lobten alle gemeinsam. Ich versuchte, währenddessen immer sehr bescheiden auszusehen, um noch mehr Gutes über mich zu hören. In der Schulklasse war ich der Einzige, der die Christenlehre besuchte. Wenn ich zu Mitschülern sagte: »Ich muss heute nach der Schule zur Christenlehre!«, sahen sie mich an, als hätten sie eine gefährliche Seite an mir entdeckt. Mein Mitschüler in der Christenlehre, Gottlieb, verheimlichte seine Besuche dort in der Schule, weil seine Eltern fürchteten, er könnte deswegen von Lehrern benachteiligt werden.

    Als ich nach meinem Unfall endlich wieder gehen konnte, holte ich mir selbst Bücher – zuerst noch aus der Kinderbibliothek. Die Bibliothekarin, eine kleine, dickliche Frau mit ordentlichen Dauerwellen, beobachtete misstrauisch, was in ihren zwei kleinen Räumen geschah. Sie ermahnte mich jedes Mal: »Mach keine Flecken hinein!«, »Iss nicht beim Lesen!«, »Nimm kein Buch mit in die Toilette, schon gar nicht beim großen Geschäft!«, »Reiß keine Seiten heraus!« Am wichtigsten aber war es ihr, dass keine Seite genickt wurde. »Keine Eselsohren!«, sagte sie streng.

    Mit vierzehn durfte ich endlich Bücher in der Erwachsenenbibliothek ausleihen. Ich hatte es schon vorher versucht.

    »Dein Personalausweis!«, hatte die Bibliothekarin gesagt.

    Das hatte ich befürchtet. Ich war dreizehn Jahre alt gewesen und noch ohne Ausweis.

    »Komm mit deinem Personalausweis wieder.«

    »Ich möchte Bücher lesen«, hatte ich sie angefleht.

    »Dein Personalausweis!«

    Beim dritten Versuch hatte ich behauptet, Altpapier zu sammeln, den Erlös würde ich für den Kampf der unterdrückten Massen in Afrika und Lateinamerika gegen den Imperialismus spenden. Aber ich war immer noch dreizehn gewesen. Oft hatte ich sehnsüchtig die Bücher in den Regalen hinter den großen Scheiben der Erwachsenenbibliothek betrachtet.

    Mit vierzehn aber durfte ich die Bücher endlich ausleihen. Sogar vier auf einmal. Manchmal auch fünf. Ich las sogar die Klassiker des Marxismus-Leninismus. Nachdem ich alle Bücher der Bibliothek gelesen hatte, begann ich zu schreiben. Lernte die Angst des Schriftstellers vor dem leeren, weißen Blatt kennen. Fing immer wieder an zu schreiben. Zerknüllte Blätter. Zerbrach Bleistifte. Biss auf Kulis. Schließlich hatte ich das Thema für meine erste Geschichte gefunden: Ein Huhn lebte sehr beengt mit dreitausend anderen in einem nicht gelüfteten Stall einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft für Tierproduktion. Mein Huhn träumte von saftigen grünen Wiesen und fürchtete die brutalen LPG-Bauern. Es war sehr aufgeregt, als es mit den dreitausend Gefährten aus dem Stall getrieben wurde. Dabei wurden ihm nicht die Knochen zerbrochen wie anderen Hühnern. Es erstickte nicht in einem Metallkäfig. Es fiel nicht aus dem Käfig, rutschte auf dem Weg zum Geflügelschlachthof nicht vom Lkw-Anhänger, wurde nicht auf der Straße überfahren und landete nicht in Kinderhänden. Mein Huhn erwartete im Käfig auf dem Hof nicht geduldig den Tod, sondern öffnete die Käfigtür und floh. In meiner Geschichte war der Direktor des volkseigenen Geflügelschlachthofs ein ehemaliger General der Waffen-SS, der mit einer Maschinenpistole auf die flüchtenden Hühner schoss. Eine Kugel traf meinen Helden, als er durch eine Lücke im Zaun in die Freiheit flüchten wollte. Die letzte Empfindung des Huhns – bevor sein Schädel zerplatzte – war der Geruch des saftigen, frischen Grases auf der anderen Seite des Zauns gewesen.

    Ich war sehr stolz auf meine erste Geschichte.

    In Plattenbauten

    Nach der Scheidung meiner Eltern zog ich mit meiner Mutter in die Plattenbausiedlung der Stadt. Dort lebten viele ehemalige Bewohner der Altstadt, deren Bürgerhäuser schneller verfielen, als billige Plattenwohnungen gebaut werden konnten. Meine Mutter und ich wohnten in einer Wohnung der Albert-Hase-Straße. SS-Leute hatten am Ende des Zweiten Weltkriegs Albert Hases Vater aufhängen wollen, weil er Kommunist war und weil das Dritte Reich am Ende war. Alberts Vater hatte sich aber nicht aufhängen lassen, schon gar nicht wegen des Endes des Dritten Reichs, und hatte sich versteckt. Also hatte die SS anstatt des Vaters den Sohn erhängt. Wenigstens trug unsere Straße keinen der in Plattenbausiedlungen der DDR üblichen Namen wie Rosa-Luxemburg-Straße, Karl-Marx-Allee oder Juri-Gagarin-Ring. Nachts wankten grölende Betrunkene an unserem Plattenbau vorbei. Sie kamen aus der Altstadt, in der es neben verfallenden Bürgerhäusern Kneipen gab. Die Kneipen waren jeden Abend voll, denn Alkohol war billig in der DDR und Arbeit gesetzliche Pflicht, aus der niemand entlassen wurde. Vielmehr sollten Alkoholiker durch die sozialistischen Kollektive in den volkseigenen Betrieben erzogen werden – eine Aufgabe, an der viele sozialistische Kollektive scheiterten. Es war oft unerträglich warm in den Wohnungen der Plattenbausiedlung, denn deren Zentralheizung heizte unabhängig vom Wetter. Auch im Winter war es manchmal trotz offener Fenster unerträglich warm. Trotzdem mussten die Mieter keine hohen Heizkosten und überhaupt nur wenig Miete zahlen, weshalb Plattenbauwohnungen bei vielen begehrt waren. Die dünnen Wände zwischen den Wohnungen hingegen gehörten zu den Gründen, weshalb sie bei einigen nicht begehrt waren. Über uns wohnten die Sikorskys, eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Herr und Frau Sikorsky begannen meistens gegen siebzehn Uhr zu streiten, wenn er von der Arbeit kam. Am Anfang stand immer die Behauptung, dass er wieder die »Schlampe«, eine Arbeitskollegin, »gevögelt« hätte. Herr Sikorsky kam manchmal nur vier oder fünf Minuten später als sonst nach Hause und seine Erklärungen für die Verspätungen hielt ich für glaubwürdig, aber sein Tonfall ließ mich um die Ehe der Sikorskys fürchten. Das Ehepaar Berndt wohnte unter uns. Frau Berndt erlaubte ihrem Mann das Zigarrenrauchen nur auf der Toilette, von wo der Rauch durch den Lüftungsschacht direkt in unsere Wohnung zog. Herr Berndt war der Hausvertrauensmann für die Mieter unseres Aufgangs. Er führte das Hausbuch, in das er den Namen jedes Fremden schrieb, der bei einem Mieter im Aufgang übernachtete. Er war auch dafür verantwortlich, dass die Mieter den Aufgang reinigten. Dass die Rentner von der Reinigung ausgenommen waren, stellte niemand infrage – bis ein Offizier mit seiner Familie in unseren Aufgang einzog. Der Major sagte, er müsse die Kapitalisten mit der Waffe in der Hand bekämpfen und habe keine Zeit, für die Alten den Besen zu schwingen.

    An unserem Plattenbau entlang zog sich eine stark befahrene Straße, dahinter, keine fünfzig Meter von unserer Wohnung entfernt, lag der Güterbahnhof der Stadt. Bagger schütteten dort Kohle in Waggons, die beim Rangieren mit ohrenbetäubendem Lärm gegeneinander knallten. Kohlestaub wurde durch den Wind in die Wohnungen getragen, schwärzte die Wäsche und legte sich auf die Möbel, besonders dann, wenn die Zentralheizung der Plattenbausiedlung auf Höchststufe heizte: Dann mussten die Mieter alle Fenster ihrer Wohnungen öffnen, um die Hitze ertragen zu können. Viele Plattenbaubewohner waren davon überzeugt, dass der ständige Krach, der Kohlestaub und die Hitze die Ursachen für ihre Schlafstörungen und einige Krankheiten waren, was aber kein Arzt erkennen wollte oder konnte oder durfte. In dieser Umgebung wollte ich Schriftsteller werden. Im Lärm, im Dreck, in der Hitze.

    Mit sechzehn sollte ich mich für eine Berufsausbildung entscheiden. Jeder Jugendliche musste eine Ausbildung machen. Ich aber konnte mich nicht entscheiden, weil Schriftsteller kein Lehrberuf war. Die anderen Schüler verschickten Bewerbungen, ich nicht. Meine Mutter wurde immer ungeduldiger und mein Vater wollte »etwas sehen« für das Geld, das er jeden Monat für mich bezahlte. Schließlich bewarb ich mich für eine Ausbildung als Pferdezüchter. In der Ablehnung wurde ich für meine Ehrlichkeit in der Bewerbung gelobt. Ich hatte erwähnt, dass ich noch nie auf einem Pferd geritten sei. Danach schrieb ich eine Bewerbung für die Ausbildung als Erdölarbeiter. Erdöl gab es im Norden der DDR. Ein wenig Erdöl. Einen Tropfen Erdöl, der sehr wertvoll für die kleine, arme DDR war. Diese Bewerbung lag lange auf meinem Schreibtisch, dann steckte ich sie in eine Schublade. Schließlich vergaß ich sie. Als alle anderen in der Klasse bereits einen Lehrvertrag hatten, behauptete meine Mutter, dass ich bald als arbeitsscheues Element irgendeiner Arbeit zugeführt würde. Schließlich bewarb ich mich für eine Lehrstelle als Baufacharbeiter in der vierzig Kilometer entfernten Bezirksstadt.

    Wenn ich gewusst hätte, dass ich als Baufacharbeiterlehrling in der Bezirksstadt in einem identischen Plattenbau wie zu Hause wohnen würde: Ich hätte die Bewerbung als Erdölarbeiter abgeschickt! Hinter dem Lehrlingswohnheim lag der gleiche Spielplatz mit den gleichen Spielgeräten und Sandkästen wie zu Hause, davor die gleichen, grauen Gehwegplatten, die gleichen Straßenlampen und die gleichen grau-weißen Papierkörbe aus Stein mit schwarzem Plastikeinsatz. Die Eingänge des Wohnheims waren verriegelt bis auf einen, der von den Erziehern überwacht wurde. Ich wohnte mit sieben anderen Jugendlichen in einer Zweizimmerwohnung. Kein Lehrling durfte ohne Erlaubnis den Plattenbau verlassen. Herr Rogge, der Leiter, war ein stämmiger, untersetzter Mann, ein ehemaliger Maurer, der nach einem Arbeitsunfall Erzieher geworden war, sich aber immer noch als Maurer fühlte. Er stand oft am Eingang des Essenraums im Wohnheim und kontrollierte die Essenausgabe an uns Lehrlinge. Jeden Morgen gab es Marmelade, Butter und Brot und jeden Abend Wurst, Butter und Brot. Brot konnte jeder essen, so viel er wollte, aber nur im Essenraum. Niemand durfte auch nur eine Scheibe mitnehmen. »Wegen der Ratten«, sagte Herr Rogge. Morgens gab es dunkles heißes Wasser. Die Küchenfrau nannte es Kaffee. Das grüne heiße Wasser am Abend nannte sie Tee. Es roch muffig im Essenraum, weil die Fenster immer verschlossen und verriegelt waren. »Wegen der Ratten«, sagte die Küchenfrau; früher hatten Lehrlinge das Essen aus Protest aus dem Fenster geworfen. Wir mussten in Gruppen nach genau festgelegten Zeiten essen. Manchmal warteten wir auf der Treppe vor dem Essenraum, weil die Gruppe vor uns noch nicht fertig war. Herr Rogge stürzte uns die Treppe herunter, wenn es ihm zu laut wurde. Er brüllte uns von oben an, breitbeinig, die Hände auf den Oberschenkeln: »Muss ich euch Respekt vor der Küche beibringen?« Dann war er wieder ganz Maurer. Manche Lehrlinge provozierten das sogar. Im Keller des Lehrlingswohnheims, dem Freizeitbereich, war alles zerstört bis auf den blanken Beton und bis auf drei Tischtennisplatten. Die Platten waren verbogen, von Zigarettenbrandflecken übersät und wurden als Sitzplätze benutzt. Lehrlinge mit Zehnklassenabschluss durften immer darauf sitzen. Lehrlinge mit acht Klassen, von denen viele schlecht gestochene Tätowierungen auf Händen und Armen hatten, durften nur dann auf den Platten sitzen, wenn genug Platz für sie war. Teilfacharbeiterlehrlinge mit sechs oder sieben Klassen durften niemals auf den Platten sitzen. Sie standen an den Betonwänden des Kellers, rauchten ununterbrochen und sahen sehnsüchtig zu den sitzenden Lehrlingen hinüber.

    Die meisten Erzieher im Lehrlingswohnheim waren ehemalige Maurer, die aus verschiedenen Gründen umgeschult hatten. Ein mürrischer Alkoholiker weckte uns jeden Morgen, indem er eine Eisenstange gegen die Metallgestänge unserer Betten schlug. In meiner Lehrbrigade waren wir zu neunt: acht Lehrlinge aus der Zweizimmerwohnung im Plattenbau und Kevin, der aus der Bezirksstadt selbst stammte. Am ersten Tag der praktischen Ausbildung warteten wir gemeinsam vor der Materialausgabe, einer kleinen Halle neben unserer Berufsschule, auf unseren Lehrmeister. Gesehen hatten wir ihn noch nie. Es war ein kalter Morgen. Wir warteten und froren und schimpften, denn der Lehrmeister war nicht pünktlich. Eine halbe Stunde nach dem Termin fuhr ein Mann auf einem Motorrad mit Beiwagen in unsere wartende, frierende, schimpfende Gruppe. Erschrocken sprangen wir auseinander. Der Fahrer, ein dicker, junger Mann in einer Tarnjacke der Gesellschaft für Sport und Technik, stieg gemächlich vom Motorrad. Wir hielten vorsichtig Abstand und betrachteten ihn. Er zog seine rutschende Hose hoch und sagte grimmig: »Ich bin Lehrmeister Günter Milch. Ich duze euch. Ihr siezt mich. Ich rede euch mit Vornamen an. Ihr nennt mich Lehrmeister. Klar?!«

    Ein paar von uns nickten schüchtern. Unser Lehrmeister ging ohne ein weiteres Wort in die Halle, wir folgten ihm nach kurzem Zögern. Milch unterhielt sich lärmend mit dem Lagerverwalter, als der ihm Arbeitsgeräte und Berufsbekleidung aushändigte. Wir Lehrlinge brachten alles nach draußen und legten es auf einen Haufen. Als wir damit fertig waren, zeigte Milch darauf und sagte: »Worauf wartet ihr? Jeder nimmt sich was und ab zur Baustelle!«

    Wir erklärten ihm, dass wir nicht wussten, wo die Baustelle war. Der Lehrmeister sagte ein paar unverständliche Worte, fuchtelte mit den Armen umher und fuhr mit dem Motorrad weg.

    Ohne Kevin, den Ortskundigen, hätten wir uns auf dem Weg zur Baustelle sicher verlaufen. Schwer beladen fragte ich mich, ob das alles schon Teil der praktischen Ausbildung sein könnte. Auf der Baustelle fanden wir unseren Lehrmeister schließlich in der Kantine an einem Tisch mit Bauarbeitern. Er hatte uns anscheinend noch gar nicht erwartet. Milch führte uns auf der Baustelle in den Aufenthaltsraum der Lehrbrigade, einen Raum mit Tischen aus gepresstem Holz und Blechschränken an den Wänden. Er forderte uns auf, uns einzeln vorzustellen. Während die anderen Lehrlinge einer nach dem anderen redeten, entschied ich, dass ich mein Lebensziel, Schriftsteller zu werden, nicht erwähnen würde.

    Am Ende der Vorstellungsrunde sah uns Lehrmeister Milch der Reihe nach an. »Der eine hat keine andere Lehrstelle gefunden. Der andere war zu faul gewesen, sich rechtzeitig woanders zu bewerben. Die meisten wollen mit Schwarzarbeit die dicke Marie verdienen. Idioten! Der Arsch wird euch noch auf Grundeis gehen.« Dann drohte er: »Wir werden ein Lehrlingskollektiv der sozialistischen Arbeit, denn dafür gibt es Geld. Wer ist dagegen?«

    Grimmig sah er uns an. Keiner wagte, etwas dagegen zu sagen.

    »Wer von euch macht den FDJ-Sekretär?«

    Niemand meldete sich. Einige von uns duckten sich. Als ich den Lehrmeister im Befehlston sagen hörte: »Du bist der FDJ-Sekretär!«, hob ich den Kopf. Ludwig sah sehr unglücklich aus. Es hatte anscheinend ihn getroffen.

    »Ich?«, fragte Ludwig erschrocken.

    »Genau. Du«, schnarrte Milch.

    »Ich bin so was noch nie gewesen.«

    »Dann wird ’s Zeit. Wer von den anderen hat was dagegen?«

    Spätestens jetzt wusste Ludwig, dass er verloren hatte.

    »Einstimmig angenommen«, verkündete der Lehrmeister. »Wer wird sein Stellvertreter?«

    Es war kindisch, aber ich senkte sofort wieder den Kopf in der Hoffnung, dass es mich so nicht treffen würde.

    »Was ist mit dir!«, hörte ich den Lehrmeister.

    Ich starrte auf die zerkratzte Tischplatte. Die Sekunden vergingen. Als ich Ingos Stimme hörte, atmete ich auf.

    »Ich bin doch gar nicht in der FDJ!«, sagte Ingo triumphierend.

    Nun sahen ihn alle an. Ich kannte bis dahin nur einen Jungen, der nicht Mitglied der Freien Deutschen Jugend der DDR war: Reinhold, dessen Eltern den Zeugen Jehovas angehörten. Er hatte nicht an den FDJ-Versammlungen teilnehmen müssen, worum er von allen anderen Schülern beneidet worden war.

    »In meiner Truppe sind immer alle in der FDJ. Du darfst nach der Lehre wieder austreten«, sagte Milch.

    »Wer ist dagegen, dass er unser Stellvertretender FDJ-Sekretär wird?«

    Niemand sagte etwas.

    »Wir brauchen einen Kassierer für die Mitgliederbeiträge der FDJ. Wer will es freiwillig machen?«

    Ein Freiwilliger wurde gesucht. Das war neu. Ich wusste nicht, welche Posten er noch verteilen würde, aber der des Kassierers erschien mir erträglich. Dieser Lehrmeister würde dafür sorgen, dass alle den Beitrag bezahlten. Ich hob eine Hand. Milch war überrascht.

    »Ein Freiwilliger. Das gab es ja noch nie. Du bist der Kassierer. Das war alles.«

    Anschließend erklärte er uns die Zukunft: »Die Lehrer in der Berufsschule haben euch sicher gesagt, dass die meisten Maurer einen anderen Beruf erlernen müssen, wenn das Wohnungsbauprogramm im Jahr 1990 abgeschlossen ist. Haben sie das?«

    Wir nickten.

    »Könnt ihr alles vergessen. Es wird nie genug Wohnungen in der DDR geben. Maurer haben immer Arbeit. Mein Kumpel Georg ist zwei Meter groß, hat ein Kreuz wie ein Kleiderschrank und Hände wie Schaufeln. Den ganzen letzten Sommer hat er schwarzgearbeitet und sich von dem Geld einen Trabi aus dritter Hand gekauft!«

    Der Lehrmeister ließ das auf uns wirken, bevor er wie beiläufig erklärte: »In Berlin gibt es für Schwarzarbeit bei Professoren oder Künstlern sogar Westgeld!«

    Jetzt waren wir wirklich beeindruckt.

    »Wir Maurer sind die Größten im Arbeiter- und Bauernstaat!«, stellte unser Lehrmeister fest.

    In den ersten Wochen fegten wir Lehrlinge die Baustelle. Milch war selten bei uns, denn er baute für seine junge Familie ein Eigenheim. Ständig suchte er Rohre, Klebebänder, Dichtungsmasse, Zement, Dachpappe, Verbindungsstücke für Dachrinnen, Zuschlagstoffe und anderes, was man in der DDR nicht kaufen konnte, was aber auf der Baustelle vorhanden war. Die Maurer auf der Baustelle gaben ihm das Material, wofür er ihnen Bier und Schnaps in der Kantine spendierte. Wir Lehrlinge ärgerten uns, dass er als Nichtraucher uns das Rauchen auf der Baustelle verboten hatte. Sechzehnjährigen in der DDR war vieles verboten, aber nicht das Rauchen. »Alle anderen dürfen auf der Baustelle qualmen! Der Milch quält uns! Er unterdrückt uns!«, schimpften wir laut in seiner Abwesenheit. Wir rauchten heimlich, wenn Milch mit seinem Motorrad Material auf seine private Baustelle schaffte. Einer von uns passte auf, dass er uns bei der Rückkehr nicht beim Rauchen überraschte. Es war schwer, ihn zu täuschen: Als Nichtraucher hatte eine feine Nase für den Nikotingeruch. Oft fragte er grimmig: »Wer von euch hat geraucht?« Natürlich beteuerten wir immer, er würde sich irren. Ein Maurer mit Zigarette sei gerade vorbeigegangen, zwei Maurer, eine Brigade! Schließlich verbot er uns den Besitz von Zigaretten auf der Baustelle. Wir versteckten sie vor ihm, er suchte sie. Milch sah unter Eimer und Kübel, stocherte im Kies umher, riss Steinhaufen auseinander, bis er Zigaretten gefunden hatte. Mit seinen wulstigen Händen zog er vorsichtig eine Zigarette aus der Schachtel und betrachtete sie genau. Dann riss er behutsam das dünne weiße Papier auf und bröselte den Tabak auseinander. Hatte er die Zigarette zerstört, holte er die nächste aus der Schachtel. Hatte er ein dickeres Stück Tabak in einer Zigarette gefunden, zeigte er es uns freudestrahlend: »Ein Balken! Ein Balken! Ein Balken!«

    Es war grausam, seine Freude ertragen zu müssen. Seine Trauer, wenn er alle Zigaretten zerstört hatte, ohne einen Balken gefunden zu haben. Bald nahmen wir nur zwei oder drei Zigaretten mit auf die Baustelle, um den Verlust erträglicher zu machen. Einmal stand Milch plötzlich zwischen uns, als wir rauchten. Wir drückten hastig die Zigaretten aus; Milch zerrieb Zigaretten. Plötzlich packte er Johann, einen starken Raucher, an der Jacke und tastete ihn ab. Das war noch nie

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