Ein Innsbrucker Western: Die Eroberung der Höttinger Au
Von Wilhelm Giuliani
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Über dieses E-Book
Wilhelm Giulianis Großeltern ziehen nach dem Krieg in die Höttinger Au. Außer sumpfigen Wiesen gibt es für die Siedler im Westen fast nichts. Wie konnte hier ein Stadtteil entstehen? Wie lebten die Leute? Der Journalist beginnt nachzufragen. Dabei stößt er auf seine Familiengeschichte, aber auch so manche Überraschung: den großen Flugzeugcrash von 1964, die folgende Krise des Flughafens, ein in Vergessenheit geratenes Lusthaus und spektakuläre Verbrechen, die sich in der Vorstadtidylle zugetragen haben. Er folgt der Spur der berühmten Rolling Stones bis zum Mitterweg und trifft auf den kauzigen Schriftsteller Helmuth Schönauer, der die einst wilde Gegend literarisch verewigt hat.
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Buchvorschau
Ein Innsbrucker Western - Wilhelm Giuliani
I. Westennest
Nirgendwo roch es so nach frischen Äpfeln wie in der Höttinger Au. Im Haus meiner Großeltern duftete es überall danach. Erklären kann ich mir das nur so, dass meine Oma die Äpfel heimlich kistenweise im Haus versteckt hat. Tatsächlich stand in ihrem Garten ein alter Apfelbaum: Darauf wuchsen sogenannte Wirtschaftsäpfel, sauer und nicht jedermanns Geschmack, aber perfekt für einen ordentlichen Apfelstrudel. Gästen, denen die Tür geöffnet wurde, stieg der Duft unweigerlich in die Nase. Die Garderobe, die Wohnküche, alle Zimmer im Haus waren erfüllt davon. Mir kam es immer vor wie Urlaub, wenn wir zu Besuch hierherfuhren. Das Haus, mehr ein Häuschen, erinnerte an einen dieser Bungalows, wie man sie aus dem Urlaub kennt. Das Haus in der sogenannten Heilig-Jahr-Siedlung war flach, es gab kein Stockwerk, auch das Dach war flach. So etwas sah man zu der Zeit in Innsbruck nicht oft: Der Bungalow war nicht freistehend, vielmehr stand er in einer Reihe mit mehreren anderen. Links und rechts waren Häuschen angebaut, es waren mehrere parallel verlaufende Zeilen, die so eine Siedlung ergaben. Dazwischen gab es Wege und, gemessen an der Kleinheit der Häuser, recht große Gärten. Zumindest konnte man als Kind herrlich darin spielen und sich bewegen. Innen fühlte man sich fast wie in einem Wohnwagen, in der offenen Wohnküche befand sich eine rustikale Eckbank samt Wandvertäfelung aus hellem Lärchenholz, fast wie auf einer Almhütte. Die Atmosphäre war beengt, aber heimelig. Die Veranda war lauschig, der Garten gepflegt, von einem mit Natursteinen gepflasterten Weg in zwei Hälften geteilt. Besonders verführerisch kam der Apfelduft im kühlen, weil auch im Winter ungeheizten Wohnzimmer zur Geltung. Dieses Zimmer, das ehemalige Kinderzimmer meiner Mutter, war ein Durchgangszimmer. Von dort gelangte man ins Schlafzimmer der Großeltern, das ich nie betreten habe, und in den Garten. Es glich eher einem Schlauch und wurde daher nur an einem einzigen Tag im Jahr bewohnt: zu Weihnachten.
Hier im Wohnzimmer war der einzige freie Platz für den Christbaum. Nur ab und zu, vor allem wenn es drüben in der Stube zu laut wurde, verzog sich mein Opa hierher, um in Ruhe fernsehen zu können. Wenn die Nachrichten liefen, wollte er von nichts und niemandem gestört werden. Meine Großeltern besaßen nämlich – ein seltener Luxus für diese Zeit – zwei Fernsehapparate. Was mir genauso imponierte, war die Tatsache, dass meine Großeltern Kabelfernsehen hatten. Mein Opa Hans, Jahrgang 1920, war, wie viele Männer seiner Generation, geradezu besessen von Fernsehnachrichten. Irgendwie kein Wunder, schließlich war es sein Beruf, für den richtigen Empfang zu sorgen. Er hatte als Diplom-Ingenieur bei der Post die Sendeanlagen am Patscherkofel, Innsbrucks Hausberg, geplant. Diese Geschichte trug ihm den familiären Stolz ein, was ihm aber eher egal war. Hauptsache, man gönnte ihm seine Ruhe während Zeit im Bild und Tagesschau. Denn so hielt er Kontakt zur Welt, in der Zeit des Kalten Krieges.
Wenn die Nachrichten liefen, durfte ihn absolut niemand stören, seine Frau, meine Oma, nicht, meine Mutter genauso wenig, und wir, seine Enkelkinder, schon gar nicht. Dann versank er in dieser Mischung aus Politik und Chronik, aus Regierungserklärungen und Parlamentsdebatten. Kreisky, Reagan, Schmidt oder Kohl, das waren die Namen, mit denen ich ständig konfrontiert wurde und mit denen mein Opa um sich warf. Mit denen kannte er sich aus und keine Wortmeldung der wirklich Wichtigen durfte verpasst werden. Dass es sich beinahe ausschließlich um alte weiße Männer in grauen oder braunen Anzügen handelte, wurde von niemandem zu der Zeit auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Vielleicht lag es ja daran, dass neben dem Apfelduft immer auch so eine Schwere und fast schon militärische Strenge im Raum lag. Davon gab es nur eine Ausnahme: das Badezimmer. Dort, im hintersten Raum des Hauses, wo man, was sonst praktisch unmöglich war, die Tür abschließen konnte, sorgte mein Opa Hans für Odeur. Das brachte ein Stück Seife, das in einer weißen, leicht vergilbten Schale aus Email neben dem Waschbecken lag. Die Seife war grün wie eine Tanne, in etwa so wie jene mächtige, die im großelterlichen Garten stand. Und genau so roch dieses Stück Kernseife. Ich mochte ihren frischen, scharfen Geruch, der den Apfelduft konterkarierte und ihm locker Paroli bot. Viel später fand ich heraus, dass die Seife von der Innsbrucker Seifenfabrik Walde stammte. Sie ist immer noch erhältlich, ich kaufe sie heute gelegentlich selbst. Möglicherweise, um die Erinnerung an das verschwundene Haus meiner Großeltern frisch zu halten. Ja, richtig. Das Haus mit der Adresse Fischerhäuslweg 24 existiert heute nicht mehr.
Höchstwahrscheinlich nur Zufall, aber das Auto meines Großvaters war auch tannengrün. Auf diese Beobachtung war ich als Kind ungemein stolz. Unser Auto, das meiner Eltern, ein dreitüriger Fiat 128, war auch grün, olivgrün. Ich weiß noch, wie wenig Platz wir darin hatten, wenn wir von Amras quer durch die Stadt in die Höttinger Au zuckelten, zu dritt oder zu viert auf der Rückbank, eingequetscht wie Sardinen in der Dose, vorne die Eltern. Es herrschte immer ein wildes Gezeter und oft auch handgreifliche Streiterei, was bei drei Brüdern aber nicht weiter verwunderlich ist. Die Leidtragende war meistens meine ältere Schwester, die als Mädchen naturgemäß oft zwischen die Fronten geriet. Wir fuhren immer die gleiche Strecke von Amras über den Südring, Innsbrucks Hauptverkehrsstraße, die damals, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre, noch so gut wie leer war. Worin der Unterschied zwischen dem Osten der Stadt, aus dem wir kamen, und dem Westen, wo wir hinfuhren, lag, konnte ich mir als Kind nicht so richtig erklären, trotzdem fühlte ich ihn und war er spürbar. Bei uns in Amras gab es das Dorf, alte Bauernhäuser, einen unendlich hohen, imposanten Kirchturm, die Nähe zum Schlosspark Ambras und zum Wald. Ich wuchs am Rand des Dorfs in einem städtischen Block, einer im Blocksystem errichteten Sozialbausiedlung auf. Die gewohnte Umgebung bestand aus einem von unzähligen Kindern dieses Blocks bevölkerten Hof, wo wir Kinder, die meiste Zeit uns selbst überlassen, spielen und voneinander lernen konnten, was es heißt, Kind zu sein. Was uns mit der Stadt verband, waren nicht nur die städtischen Wohnbauten, sondern auch die Nähe zur Straßenbahn. Die Linie 3, deren Endhaltestelle gleich um die Ecke lag, brachte einen direkt in die Innenstadt. Wer aus Amras hinauswollte, kam daran nicht vorbei. Für mich war das Vorhandensein der Straßenbahn ein sichtbares Zeichen für die Einheit von Stadt und Leben.
In der Höttinger Au gab es nichts, was es in Amras gab. Das war eine ganz andere Gegend. Für uns Kinder war dieses verschlafene Nest mit seinen kleinen Häuschen, den privaten Gärten, zeilenförmig und geradlinig angeordnet, und ein paar in den schmalen Straßen parkenden Autos nicht sehr aufregend. Hier wurde einem quasi nichts geboten. Man sah kaum Menschen, keine spielenden Kinder wie in den städtischen Wohnblocks, hauptsächlich sah man ältere Leute, denen ihr Bedürfnis nach Ruhe und Ordnung regelrecht ins Gesicht geschrieben stand. Statt mögliche Spielkameraden traf ich hier auf notorische Langeweile. Eine neumodische, kühl wirkende Kirche, die für mich als Kind gar nicht nach einer richtigen Kirche aussah, erhärtete diesen Eindruck. Schließlich fehlte es diesem neumodischen Gebäude am Allerwichtigsten: einem anständigen Kirchturm, wie es ihn eben in Amras gab.
Was ich bewunderte und was mein kindliches Interesse weckte, war der Flughafen. Die Mischung aus Technik und Dingen, die man überhaupt nicht begreifen konnte, die sich einem nicht erschlossen, waren das genaue Gegenteil von alltäglich und langweilig. Das Beste war: Das Häuschen meiner Großeltern befand sich am Puls des Geschehens. Es befand sich in direkter Linie zur Einflugschneise, in Verlängerung der Start- und Landebahn. Wenn man sich im Garten meiner Großeltern aufhielt oder auf der Terrasse saß, gab es, speziell am Wochenende, alle paar Minuten einen ohrenbetäubenden Lärm. Dann startete oder landete eine der riesigen Düsenmaschinen und zog nur wenige Meter über unsere Köpfe hinweg. Der Höllenlärm der Maschinen versetzte mich jedes Mal in eine Mischung aus Schrecken und Faszination. Warum man ausgerechnet hier eine Wohnsiedlung gebaut hatte, verstand ich als Kind genauso wenig wie den Umstand, dass keiner der hier lebenden Menschen deshalb einen Funken Angst oder Sorge zeigte. Ich bewunderte das und fragte meinen Großvater, ob er nicht glaube, dass hier einmal eine Maschine auf sein Haus abstürzen und es so zerstören könne. Da lachte er nur und ich habe nie herausgefunden, warum. Für mich blieb das eines der für immer ungelösten Rätsel meiner Kindheit.
Wenn ich gewusst hätte, dass die Höttinger Au ein sehr junger Stadtteil war, wäre sie mir vielleicht weniger seltsam vorgekommen. So spürte ich lediglich, dass alles, was im Dorf Amras heilig war, hier nicht existierte: weder die dörfliche Tradition und der damit verbundene Geist, die von Kindesbeinen an jedem Bewohner eingeimpft wurden, noch die alteingesessenen Familien, von denen zahlreiche Legenden erzählt oder über die gemunkelt oder die Nase gerümpft wurde. Die Höttinger Au präsentierte sich mir als mehr oder weniger große grüne Wiese, als Spazierweg zum nahegelegenen Inn, der ohne Flughafen für uns als Kinder keinerlei Reiz besessen hätte. Viel mehr sah ich davon nicht, viel mehr wusste ich nicht und es wurde überhaupt wenig gesprochen zu der Zeit. Dass diese Sprachlosigkeit eine prägende Erscheinung der Zeit war, war mir genauso wenig klar. Woher auch?
Es war für mich als Kind mit Wurzeln in der Stadt und im Dorf Amras nicht absehbar, wie rasant sich die Höttinger Au entwickeln würde, welche Zukunft ihr bevorstand und wie sehr meine eigene Zukunft damit verknüpft wäre.
Die Kindheit im Haus meiner Großeltern kommt mir heute so vor, als hätte sie sich in einem anderen Leben zugetragen. In einer anderen Zeit. Als hätte jemand diese Erinnerungen in ein Siebziger-Jahre-Farbbad gelegt, wo sie verblassen und sich erst richtig entwickeln würden. Der vermeintliche technische Fortschritt, eigentlich der technische Rückschritt aus heutiger Sicht, der aber als Fortschritt bejubelt und gefeiert wurde, war enorm. Pädagogisch war es eine Art Steinzeit, diese erste Post-Nazi-Ära, in der viele Dinge tabuisiert und weder darüber gesprochen noch ausgelebt wurden. Diese sogenannte gute alte Zeit, in der genauso vieles im Argen lag, aber von einem kollektiven Schweigen und gesellschaftlicher und familiärer Verdrängung überdeckt wurde. Die Errungenschaften der Aufklärung, die hundert oder zweihundert Jahre früher stattgefunden und die menschliche Entwicklung vorangebracht hatten, nun aber durch den alles bis an die Grundfesten zerschlagenden Schatten der nationalsozialistischen Zeit und des Krieges in Vergessenheit gerieten. Die logistische Herausforderung des Wiederaufbaus hatte eine klare Aufgabe gebracht, die klare Regeln und eine straffe Ordnung vielleicht sogar notwendig machte. Die österreichische Konsensgesellschaft, die von den zwei großen politischen Lagern gefestigt und zusammengehalten wurde, besann sich daher auf alte Werte. Das Bewusstsein und das Wissen der eigenen Herkunft besaßen weder unsere Eltern, die Generation der Kriegs- und Nachkriegskinder, noch wir. Womöglich ist das auch eine Erklärung dafür, warum die Höttinger Au so geworden ist, wie sie geworden ist. Dieser Stadtteil, der sich nach dem Krieg erst so richtig aus seiner Nichtexistenz zu erheben begann und anschickte, einer der größten und bewohntesten Innsbrucks zu werden, trägt viel von diesem Geist in sich.
Ziel meiner Arbeit ist es daher und war es von Anfang an, den Spuren der Vergangenheit in der Höttinger Au zu folgen, Ereignisse und Geschehnisse aufzuzeichnen, die sich in dieser Gegend abgespielt haben und als Erinnerung Eingang in zumindest einen Menschen gefunden haben. Als nunmehriger Bewohner der Höttinger Au ist mir die Brücke in die Vergangenheit ebenso ein Anliegen wie der genaue Blick auf die Gegenwart und zumindest ein Ausblick auf die Zukunft. Das hier herrschende Lebensgefühl ist mir nach über zehn Jahren immer noch rätselhaft. Ich lade Sie ein, ein Stück mitzulesen. Wohin die Reise durch den Stadtteil und die Zeit führen wird, möchte ich der Fantasie überlassen. Auf den Abdruck von Bildern verzichte ich weitgehend. Vielleicht machen Sie ja, inspiriert von diesem Buch, den ein oder anderen Spaziergang durch die Au. Es ist nicht nur eine lebenswerte, sondern auch eine sehenswerte Gegend.
II. Flucht
Die Not nach dem Krieg wich einer Aufbruchstimmung. Nicht sofort nach der Befreiung, die von vielen gar nicht als solche empfunden worden war. Aber je mehr sich die Stadt in Richtung des neuen Jahrzehnts schob, umso eher wurde die Vergangenheit vergessen. Die Bilder verdrängt. In der Hinsicht unterschieden sich die Menschen in Innsbruck nicht von denen in anderen Städten. Aus den Trümmern musste eine Zukunft gebaut werden. Dem völligen Zusammenbruch musste ein wirkungsvolles Mittel entgegengesetzt werden: Disziplin. Jegliches Gefühl für die gemeinsame Verantwortung, für die Zerstörung und das Feuer der Nazijahre, musste unterdrückt werden. Unter den Teppich gekehrt, fast zwangsläufig. So schrecklich uns das heute auch vorkommen will. Der Versuch der Besatzungstruppen, reinen Tisch zu machen, Täter zur Verantwortung zu ziehen, blieb ein Strohfeuer. Nicht viel mehr.
Innsbruck war bis zum 3. Mai 1945 zu einer Ruine geworden. Amerikanische Soldaten in der Stadt. Zweiundzwanzig Mal hatten amerikanische Bomber die Tiroler Gauhauptstadt bombardiert. Der Verkehrsknotenpunkt mit vier einander kreuzenden Eisenbahnlinien war ein strategisch wichtiges Ziel. Hunderte Häuser wurden beschädigt oder zerstört, Innsbrucks Straßen mit Trümmern übersät. Jede zweite Wohnung war unbrauchbar. Schon vor dem Krieg hatte es ein Wohnungsproblem gegeben, nun herrschte bittere Wohnungsnot. Der nach dem Einmarsch eingesetzte Bürgermeister Anton Melzer bat die Bevölkerung um Mithilfe. „Innsbrucker, schaufelt die Straßen frei!" Aus seinem Appell sprach Verzweiflung. Und Mut. Der Mut zu handeln. Ein großer Teil der Bevölkerung, Frauen, Kinder, Alte, die wenigen Männer, die noch da waren, leisteten Folge.
In einer beispiellosen Aktion schaufelten fast 37.000 Menschen einen ganzen Tag die Straßen und Plätze frei. Arbeiteten mit Händen und Füßen, um sich der Überreste ausgebombter Häuser zu entledigen. Dabei wurde mehr weggeräumt als nur Schutt. Die Last der