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Ein Leben … zwei Welten: Biographische Notizen in Zeiten des Wandels
Ein Leben … zwei Welten: Biographische Notizen in Zeiten des Wandels
Ein Leben … zwei Welten: Biographische Notizen in Zeiten des Wandels
eBook345 Seiten4 Stunden

Ein Leben … zwei Welten: Biographische Notizen in Zeiten des Wandels

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Über dieses E-Book

Geschichten, auch ein paar ziemlich verrückte, aus einem langen bewegten Leben. Vor sich selbst hergetrieben, aber hin und wieder auch - späte Einsicht -geführt von unsichtbarer Hand.
Die Geschichten aus der frühen, nicht so lange zurückliegenden und doch schon fast vergessenen Zeit zeigen wie sehr sich unsere Welt in sehr kurzer Zeit verändert hat. Nach diesen harten, aber auch bukolischen Jahren immer neue Schauplätze und Kontinente, nicht sorgfältig geplant, eher mitschwimmend im Strom der Zeit und doch - auch das eine späte Einsicht - zeichnete sich nach und nach eine Richtung und ein Weg ab.
Schließlich der Versuch einer Einordnung in unsere sehr besondere Zeit, geprägt von dem großen, epochalen Umbruch, dessen frühe Anzeichen Jean Gebser schon Mitte des 20 Jahrhunderts aufgezeigt hat. Herauf kommend aus dem Urgrund belässt er keinem Stein auf dem anderen, erfasst uns alle, ob wir es merken oder nicht, und stellt unsere kleinen persönlichen Geschichten, auch die, von der hier die Rede ist, in einem übergeordneten Kontext, macht sie begreiflicher und relativiert sie somit auch.
Das "Ein Leben…" und die "…zwei Welten" sind die, in die ich geboren wurde und aufgewachsen bin, in die ich gegangen und lange geblieben bin, und sie sind auch und vor allem die Welt, die in dieser Lebenszeit vor unseren Augen zerbricht, um einen anderen Platz zu machen, von der wir nicht wissen, wie sie sein wird.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Aug. 2017
ISBN9783743932999
Ein Leben … zwei Welten: Biographische Notizen in Zeiten des Wandels
Autor

Kiu Eckstein

Kiu (früher auch K.M. und Klaus Eckstein) geb. 1927, war im Zweiten Weltkrieg Luftwaffenhelfer und Soldat, studierte und promovierte in der Universität München (LMU), arbeitete als Spielfilm-Cutter, u.a für Wolfgang Staudte und Julien Duvidier, als Regisseur halbstündiger Dokumentarfilme in Peter von Zahns Documentary Programs, Washington, D.C. Es folgten drei Jahre im Studio Washington des neu gegründeten ZDF. 1966 ging Eckstein, um sich auch seiner alten Liebe, den Spielfilm zu widmen, als freier Mitarbeiter ins ZDF Studio Rio de Janeiro, war Produzent des preisgekrönten Films Macunaima und Co-Produzent mehrerer Filme des Cinema Novo. Ende 1969, kurz vor den dramatischen Jahren Allende, Pinochet in Chile, dem blutigen Putsch in Argentinien, übernahm er das Auslandsstudio Rio. Auch in diesen Jahren entstanden mehrere lange Dokumentarfilme, Danach kümmerte er sich eine Hälfte des Jahres um eine kleine Kakaoplantage in Brasilien in der anderen machte er weiterhin Dokumentarfilme für das ZDF, darunter Mit Kräutern und Nadeln in Vietnam. aus Brasilien Kirche der Armen und Ärzte aus dem Jenseits, der einiges Aufsehen erregt hat, in den USA über erweiterte Bewusstseinszustände, die Aids-Epidemie in San Francisco und Wahn oder Heilung über Psychosen. die zu einer inneren Weiter- und Höherentwicklung führen können. Bei der Arbeit an diesem Bericht, in dem es auch um Kundalini ging, stieg dieses spirituelle Agens in ihm selbst auf. Nach Irr- und Umwegen fand er schließlich einem Meister und schrieb dann das Buch Kundalini Erfahrungen, Eine Meister Schüler Begegnung, das ins englische und portugiesische übersetzt wurde. 2017 folgte Ein Leben … zwei Welten. Biographische Notizen in Zeiten des Wandels über ein ungewöhnliches, getriebenes Leben. Und immer wieder geht es um den uns nun gnadenlos vor sich hertreibenden epochalen Umbruch, der vieles, was nur ein paar Jahre zurückliegt wie kuriose Geschichten aus einer anderen Welt erscheinen lässt. Schließlich 2020 folgte Kundalini und die Lehren eines Meisters, eine Zusammenfassung dessen, was er über viele Jahre bei Swami Chandrasekharanand Saraswati über Kundalini, die verschiedenen feinstofflichen Kanäle, in denen sie aufsteigt, über Blockierungen, ihre Gründe und eine den Prozessen angemessene Lebensweise gelernt hatte. Mehr über das Buch aus einer siebenseitigen Besprechung in AUFGANG 17, Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst, Augsburg 2020 weiter unten - im Presseberichte

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    Buchvorschau

    Ein Leben … zwei Welten - Kiu Eckstein

    Vorbemerkung

    Sicher heißt es zu Recht, dass wir Kinder unserer Zeit sind, und das gilt wohl ganz besonders für so außergewöhnliche Zeiten wie die unsere, die uns, wie mir scheint, vor weit größere Herausforderungen stellt als alle vorangegangenen. Dass sich im Untergrund etwas zusammenbraute, war schon seit geraumer Zeit spürbar. Doch dann beschleunigte sich dieser Prozess, die Anzeichen häuften sich und es wurde offensichtlich, dass wir durch einen wahrhaft gigantischen Umwälzungsprozess gehen.

    Als ich nach weit über 40 Jahren im Ausland in die Gegend zurückkam, in der ich aufgewachsen bin, begann ich mich an die frühen Jahre zu erinnern. Sie waren mir so fern, als ob sie einer ganz anderen Welt angehörten, und auch ich hatte mich, und das nicht nur, weil ich ein langes Leben in sehr anderen Welten hinter mir hatte, weit von dem entfernt, für den ich mich über viele Jahre gehalten hatte. Ich begann über diese beiden so unterschiedlichen Welten in einem Leben nachzudenken, über die um mich herum und meine innere.

    Das hat mich dazu gebracht, diese biografischen Notizen anzugehen, obwohl ich in diesem Leben nichts so Bedeutendes geschaffen habe, das sie rechtfertigen würde. Ich wollte begreifen, was mich angetrieben und verändert hat, inwieweit in diesen außergewöhnlichen Zeiten unsere eigenen kleinen Prozesse mit den großen übergeordneten Vorgängen, denen wir alle unterworfen sind, ob wir wollen oder nicht, verbunden sind – und somit letztlich, inwieweit vieles in diesem Leben eher mit uns als durch uns geschieht. Den Antworten auf diese alten Fragen bin ich beim Schreiben dieser Notizen, zumindest was mich betrifft, etwas nähergekommen.

    Die frühen Jahre

    Einöde vor den Toren Münchens

    Als ich ein Jahr alt war, 1928, zogen meine Eltern nach Lochham, das viele Jahre später ein respektabler Vorort von München werden sollte. Meine Mutter hatte eine Stelle als Lehrerin an der Grot-Schule, einem privaten Lyzeum für Mädchen in Pasing bekommen, das mit dem Vorortzug – S-Bahnen gab es damals noch nicht – nur eine Station entfernt war.

    Lochham war damals nur ein winziges Dorf mit ein paar Bauernhöfen an einem kleinen Fluss, der Würm, und wenn ich mich recht erinnere, waren die nicht landwirtschaftlich genutzten Flächen als Einöde eingestuft. Zwischen Dorf und Bahnhof standen anfangs nur drei oder vier Häuser, der Rest Felder, Wald, ungenutzte Wiesen und ein paar schon umzäunte, noch nicht bebaute Grundstücke.

    Gleich neben dem Bahnhof war eine große Wirtschaft, der Lackl, mit einem riesigen Biergarten unter schönen großen Kastanienbäumen. Im Sommer kamen an den Wochenenden viele Leute mit dem Vorortszug aus München, natürlich ganz zünftig in bayerischer Tracht. Viel Bier wurde getrunken und oft wehte laute Blasmusik, vor allem bei Westwind, bis zu dem Haus herüber, in dem meine Eltern eine Wohnung gemietet hatten.

    Eine ungeteerte Straße voller Schlaglöcher führte vom Bahnhof an unserem Haus vorbei ins Dorf. Hin und wieder fuhr ein scheppernder Lastwagen vorbei und wirbelte, wenn es trocken war, große Staubwolken auf. Im Sommer waren die noch kleinen Fichtenbäumchen am Gartenzaun und der Wald auf der anderen Straßenseite mit einer dicken graubraunen Staubschicht bedeckt. PKWs tauchten so gut wie nie in dieser gottverlassenen Gegend auf.

    Auf dieser Straße ging ich, bald nachdem ich laufen gelernt hatte, mit unserem Dienstmädchen, sie hieß Betti, jeden Morgen und so ziemlich bei jedem Wetter zum Milchholen in das fast einen Kilometer entfernte Dorf. Im Winter, wenn der Wind pfiff, war es eiskalt.

    Im Bauernhof der Familie Schneider war ich so gut wie zuhause, durfte in die Ställe, in die Scheune und tun und lassen, was ich wollte. Ich kannte die Namen aller Kühe und Pferde, schaute beim Melken zu und half oder störte wohl mehr als übereifriger Knirps beim Füttern oder Ausmisten. Manchmal brachte der Bauer für ein paar Mark eine Fuhre Kuhmist für die Gemüsebeete, und ich sammelte in einem kleinen Eimer die Pferdeäpfel auf der staubigen Straße und düngte die Johannisbeersträucher. Jetzt gibt es von all dem nichts mehr. Nur ein nachgebautes Wasserrad an der Würm und ein kleines Schild erinnern an diesen großen Bauernhof.

    Wir gingen immer mit einer kleinen zerbeulten Milchkanne zum Bauern. Man hatte nicht viel und kaufte nicht viel. Wenn ein Kochtopf durchgebrannt, ein Teller runtergefallen war oder eine Schürze Löcher hatte, warfen wir sie, genauso wie die paar Nachbarn, in eine große Kiesgrube unmittelbar neben unserem Haus, die vom Straßenbau übriggeblieben war. Als ich ein bisschen größer war, kokelte ich gerne in der großen Grube.

    Zwischen unserem Haus und dem Dorf gab es nur Wiesen und ein paar Felder mit einer kleinen Baumgruppe und einem Schießstand. Abends kamen die Rehe aus dem Wald und grasten in aller Ruhe in der jungen Saat. Hin und wieder zog ein Schäfer mit einer großen Herde und seinen beiden Hunden vorbei, und manchmal stand nach einem heftigen Gewitter ein großer Regenbogen über den Feldern – eine schöne, einsame und sehr stille Welt.

    Einmal wurde ein Reh, das über die Straße lief, von einem Lastwagen erfasst. Die tüchtige Betti brachte das schon fast tote Tier in die Waschküche und nahm es dann mit Hilfe eines ihrer Verehrer aus. Natürlich war auch ich dabei und als sie den Brustkorb aufschnitten, sah ich das Herz, das noch pulsierte. Ich war tief bewegt und am Abend konnte ich sehr lange nicht einschlafen, obwohl meine Mutter, die am späten Nachmittag aus der Schule gekommen war, versucht hatte, mich zu beruhigen.

    Für Abwechslungen in unserer Einöde sorgte der Briefträger, der täglich vorbeikam und sich auch meldete, wenn er keine Post brachte. Er hatte ein Auge auf die junge, hübsche Betti geworfen und mir erzählte er gerne Geschichten über einen Holzfuchs, den er, wie er beteuerte, im Wald gesehen habe, und machte dazu ein sehr ernstes Gesicht.

    Ich weiß nicht mehr von wem, von Betti, vom Briefträger oder von wem sonst ich in diesen frühen Jahren die vielen Sprichwörter gehört habe, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Eines hieß: „Der Vogel, der am Morgen singt, den frisst die Katz am Abend." Als ich diesen Spruch in den Jahren, in denen ich in Rio de Janeiro Workshops in Holotropem Atmen gab, zitierte, um auf die sehr andere, gar nicht so lange zurückliegende Welt aufmerksam zu machen, in der ich aufgewachsen bin, sagte eine junge hübsche Brasilianerin: „Ah, da werd´ ich jetzt jeden Morgen singen, dann frisst er mich am Abend." Gemeint war ihr Liebhaber. Auf gut brasilianisch schläft man nicht mit Frauen, man frisst sie gemäß alter anthropophagischer Sitte. Das Gelächter war groß und ich hatte etwas dazu gelernt.

    Warum mir dieser unsinnige Spruch – denn Vögel singen nun mal vor allem morgens – über all die Jahre im Gedächtnis geblieben ist, weiß ich nicht. Mein Elternhaus war nicht repressiv, aber wahrscheinlich passte dieser Spruch zu den harten Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg und der Großen Depression, die gut zwei Jahre nach meiner Geburt begonnen hatte und, obwohl ich noch so klein war, untilgbare Spuren in mir hinterlassen hat.

    Bettelarm, aber stolz

    Betti war die Tochter eines Schleusenwärters aus Icking an der Isar. Sie war 15 oder 16, als sie zu uns kam, hübsch und völlig ungebildet, aber hatte, wie man sagt, das Herz auf dem rechten Fleck. Damals war ein Dienstmädchen kein Luxus. Und es wäre auch gar nicht anders gegangen. Meine Mutter war den größten Teil des Tages in der Schule und oft musste sie bis spät abends Aufsätze korrigieren, sich für den Unterricht vorbereiten oder Strümpfe stopfen.

    Bis ich in die Schule kam, war ich vor allem mit Betti zusammen. Ich liebte sie abgöttisch, viel mehr als meine Mutter und redete genauso bayerisch daher wie sie. Beim Essen mit meinen Eltern durfte ich das nicht. Ich musste hochdeutsch sprechen und fand das schrecklich. Wenn ich trotzdem dickköpfig in Dialekt verfiel, musste ich in der Küche mit Betti essen, was ich nicht als große Strafe empfand. Erst viele Jahre später wurde mir klar, wie dankbar ich meinen Eltern dafür sein muss. Berichte aus anderen Regionen der Welt hörten sich auf Hochdeutsch wohl besser an.

    Viel Ahnung von Haushalt und Kochen hatte Betti nicht. Eine kleine Geschichte, die später oft erzählt wurde, vom Besuch des seinerzeit sehr angesehenen Kunsthistorikers Karl Scheffler und seiner Frau ist mir in Erinnerung geblieben. Scheffler war Herausgeber der Zeitschrift „Kunst und Künstler", in der mein Vater manchmal einen Artikel unterbrachte.

    Dieser Besuch war eine große Ehre für meinen sehr viel jüngeren Vater. Er hatte die letzten Groschen zusammengekratzt und zum Abendessen für den hohen Gast Pumpernickel und Gorgonzola in München bei Dallmayr besorgt. Betti aber hatte, bevor sie diese Delikatesse servierte, alles, was sie für Schimmel hielt, feinsäuberlich entfernt. Damit war klar, dass dieser sorgfältig gesäuberte italienische Käse ein einmaliger Luxus in unserem armen Haus war – ein großer, unbeabsichtigter Erfolg.

    Unsere Armut hat sich tief in mir eingegraben. Mein Vater verdiente fast nichts, und das Gehalt meiner Mutter reichte gerade mal für das Allernötigste, für Miete, Lebensmittel, die Monatskarte nach Pasing, Bettis Lohn – 20 Reichsmark im Monat, wenn ich mich recht erinnere – und das eine oder andere Kleidungsstück. Ich bekam manchmal abgelegte Bleyle Anzüge, die ich hasste, von den Kindern gutsituierter Bekannter. Und die „Berliner Illustrierte für ein paar Groschen, die meine Mutter gerne las und in der ich mich auf E. O. Plauens wöchentliche Bildergeschichte „Vater und Sohn stürzte, war großer Luxus.

    Von dieser Armut, die in den Briefen meiner Mutter aus dieser Zeit immer wieder auftaucht und deren Ausmaß man sich in unserer feudalen Konsumwelt nur schwer vorstellen kann, habe ich damals nicht viel gespürt, aber sie hat sich, wie eine kleine, später oft erzählte Geschichte deutlich macht, tief in mir festgesetzt. Als ich mit drei, vier Jahren mit einem Arm voll trockener Äste aus dem Wald auf der anderen Straßenseite kam und ein Besucher fragte, warum ich diese Äste nachhause bringe, habe ich gesagt: „Wir sind arm."

    Das Haus in der Ahornstraße 2, in dem wir wohnten, gehörte netten, sehr einfachen Leuten, die in München in der Hirtenstraße, ganz nah beim Starnberger Bahnhof, ein kleines Lebensmittelgeschäft hatten. Sie hießen Trost und hatten während der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg in Lochham für einen Apfel und ein Ei zwei oder drei große Grundstücke gekauft, die Jahrzehnte später ein Vermögen kosten sollten. Auf einem dieser Grundstücke hatten sie das Haus gebaut, in dem wir wohnten.

    Die Hyperinflation vom Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingefressen. Auch in mir, obwohl ich nach diesem Desaster geboren wurde, rumorte dieses kollektive Trauma noch über sehr viele Jahre. Um das Ausmaß dieser Inflation aufzuzeigen, habe ich ein paar Zahlen nachgeschlagen.

    1918, gegen Ende des Ersten Weltkriegs, hatte die Mark schon die Hälfte ihres Wertes verloren. Bald danach begann die große Inflation, die 1923 ihrem Höhepunkt zustrebte. Am 1. Januar 1923 betrug das Porto für einen simplen Brief schon ganze 50 Mark, am 22. Oktober waren es dann 10.000.000, und gegen Ende der Hyperinflation kostete ein US-Dollar die unvorstellbare Summe von 4,2 Billionen Mark. Diese in wahnsinnigem Tempo galoppierende Inflation war für Menschen, die von Lohn oder Gehalt lebten, eine existenzielle Bedrohung. Wer jedoch Waren hatte oder über Produktionsmittel verfügte und clever war, konnte sehr schnell sehr reich werden.

    Die Trosts gehörten zu den kleinen Gewinnern dieser schrecklichen Zeit, die so viele Menschen bettelarm gemacht hat. An den Sommerwochenenden kamen sie fast immer nach Lochham. Sie hatten ein Zimmer, Küche und Bad im Parterre des Hauses für sich behalten, viele Erdbeerbeete in dem großen, ansonsten noch ganz leeren Grundstück angelegt und verkauften, was sie ernteten, in ihrem Geschäft. Uns stundeten sie, wenn das Geld nicht reichte, oft die Miete. Auch später, nachdem wir ausgezogen waren, besuchten wir sie manchmal in der Hirtenstraße, und im Zweiten Weltkrieg steckten sie uns hin und wieder ein paar der rationierten Lebensmittel in die Tasche.

    Meine Eltern kamen aus, wie man sagte, guten Verhältnissen. Der Vater meiner Mutter war Ingenieur und hatte bis zum Ersten Weltkrieg eine Fabrik in Riga. Ich erinnere mich noch gut, dass meine Mutter manchmal von den unendlich langen, wunderschönen Sommerabenden auf der Datsche der Familie in der Nähe von Riga erzählt hat. Sie und ihre drei Geschwister wuchsen in gediegenen, gut bürgerlichen Verhältnissen auf.

    Bei meinem Vater ging es nicht ganz so üppig zu. Er war der Sohn eines evangelischen Pfarrers, der früh gestorben ist und seiner Frau nur eine bescheidene Pension hinterlassen hat. Mit den paar Rücklagen, die sie sich vom Munde abgespart hatte, zeichnete sie zu Beginn des Ersten Weltkrieges in großem vaterländischem, aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbarem Enthusiasmus Kriegsanleihen und verlor alles. Die Armut, von der hier immer wieder die Rede ist, war die große, allgemeine Armut nach einem verlorenen Krieg, von Inflation und Weltwirtschaftskrise – aber auch die von Intellektuellen, die sich mit ihren Hervorbringungen nur schwer über Wasser halten konnten.

    Doch meine Eltern trugen ihre Armut mit einem gewissen Stolz. Sie war der Preis, den man zahlen musste, wenn man seinen geistigen Interessen nachging, eine Art Opfer, das man für höhere Bildung und die Distanz zu allem, was man für kitschig und spießbürgerlich hielt, darbringen musste. Als eine Art Symbol für diese hohen Ansprüche ist mir der schöne Hut mit breiter Krempe, der ‚Geisthut‘, wie er bei uns genannt wurde, den mein Vater trotz Armut immer trug, in Erinnerung geblieben.

    Besonders deutlich wird diese Armut in den Briefen meiner Eltern aus den 20er Jahren, in denen es immer wieder um Geldnöte geht, um Erbstücke, die ins Pfandhaus gebracht wurden, um die Miete für die Studentenbude zu bezahlen oder darum, dass sie sich nicht besuchen konnten, weil sie die Bahnfahrt von Marburg, wo meine Mutter studierte, nach München, wo mein Vater auf die Uni ging, nicht bezahlen konnten.

    Die Generation meiner Eltern, und zum guten Teil auch die meine noch, hat fast alle Briefe aufbewahrt. Ihr Leben verflüchtigte sich nicht in schnell getippten und bald wieder gelöschten E-Mails. Auf mich sind mehrere Schubladen voller Briefe meiner Mutter an meinen Vater, der seinen an sie und auch die vielen Freunde gekommen. Es ist nicht leicht, sich in die Handschriften dieser Zeit einzulesen. Aber wenn man sich die Zeit nimmt, entsteht ein ziemlich genaues Bild jener Jahre.

    Obwohl wir arm waren, hatten wir ein Telefon – ein großer Luxus, der sich durch den einen oder anderen Auftrag für einen Artikel oder die Kritik einer Kunstausstellung bezahlt machen sollte. Dieses kleine Heiligtum stand im Arbeitszimmer meines Vaters. Für mich war dieses Telefon ganz und gar unzugänglich. Und ich wäre auch gar nicht auf die Idee gekommen, einen der Mitschüler anzurufen. Man verabredete sich nach der Schule oder ging einfach zu ihren weit entfernten Häusern und schaute, ob sie zuhause waren.

    In Lochham gab es nur wenige Telefonleitungen, und wenn bei starkem Sturm ein großer Ast auf die Drähte fiel, konnte es mehrere Tage dauern, bis der Schaden wieder behoben war. Ich schaute natürlich immer zu, wenn die Leitungen repariert wurden und bewunderte die Arbeiter, wenn sie mit großen Steigeisen die Telefonmasten hinaufkletterten. Besonders aufregend war, wenn eine neue Leitung verlegt wurde, die Arbeiter ein tiefes Loch aushoben, den Mast zu dritt mit lauten Kommandorufen Stück für Stück hochhievten und dann die Drähte spannten. Diese harte Arbeit erhöhte meinen ohnehin vorhandenen Respekt vor dem heiligen Telefon im Arbeitszimmer meines Vaters noch.

    Eine sehr andere Welt

    In jenen lang zurückliegenden bukolischen Zeiten war der Vorortszug die wichtigste Verbindung zwischen unserer Einöde und der großen weiten Welt. Schon mit drei Jahren fuhr ich jeden Mittwoch alleine in die Stadt. In Lochham brachte mich Betti zur Bahn und in München wurde ich von meinem Großvater am Starnberger Bahnhof abgeholt.

    Fahrkarten kaufte man bei einer lieben, sehr dicken Frau, die sie knipste und dann die Sperre öffnete, die den Bahnsteig von einem kleinen Warteraum und der Kabine mit aberhundert Fahrkarten trennte. Natürlich kannte die gute Seele des Lochhamer Bahnhofs die Namen der meisten Fahrgäste und für mich kleinen Knirps hatte sie immer ein besonders freundliches Wort.

    Eines Tages kam meine Mutter, die sechsmal in der Woche nach Pasing zur Schule fuhr – von einer fünf Tagewoche träumte damals noch niemand – ganz aufgelöst nachhause. Die liebe dicke Kartenverkäuferin hatte sich vor einen einfahrenden Zug geworfen und diese Verzweiflungstat überlebt, aber beide Beine verloren. Ich habe von dieser Tragödie nur gehört, aber mir immer wieder vorgestellt wie der Zug über sie gefahren ist – ein dunkler Schatten hatte sich über den idyllischen Lochhamer Bahnhof gelegt.

    In diesen frühen Jahren mussten wir zum Einkaufen in den nächsten etwas größeren Ort, nach Gräfelfing gehen. Das war noch ein bisschen weiter als zum Milchholen beim Bauern in Lochham. In der Bahnhofstraße, die viele Jahre später das stolze Aushängeschild Gräfelfings werden sollte, gab es damals, wenn ich mich recht erinnere, nur ein einziges Lebensmittelgeschäft, den Konsum, der trotz seines Namens in unserer Welt des unaufhörlichen Konsums keinen einzigen Tag überleben würde.

    Später legte ich dann an den Wochentagen, Sommer und Winter bei jedem Wetter, den langen Weg bis zur Gräfelfinger Volksschule, erst zu Fuß und später, wenn es das Wetter erlaubte, mit dem Rad zurück. Das war ganz selbstverständlich. Schulbusse kamen mir noch lange wie ein großer und unnötiger Luxus vor. Den ersten sah ich 1961, nachdem ich in das gelobte Land, in die USA gekommen war, um dort Dokumentarfilme zu machen.

    Nachdem die zwei oder drei Gräfelfinger Schüler, die in Richtung Lochham wohnten, abgebogen waren, ging ich alleine auf dem letzten langen Stück des Weges weiter. Er führte durch einen mir sehr groß und dunkel erscheinenden Wald zum Bahnhof Lochham. Mitten in diesem Wald bog ich ab auf einen kleinen Pfad, der zu unserem Haus führte. Manchmal hatte ich Angst, besonders nachdem ein Exhibitionist im Wald gesehen worden war, der, so hieß es, seine Geschlechtsteile zeigte, aber niemandem etwas antat. Ich habe ihn nie gesehen, aber oft an ihn gedacht, wenn ich schnell durch das letzte Stück im dunklen Wald nach Hause lief.

    Aber es gab auch einen schönen unvergesslichen Moment in diesem Wald. Als ich ihn wieder einmal durchquerte, hielt ich an auf einer kleinen Lichtung mitten im dunklen Fichtenwald, nicht weit von unserem Haus. Ein überirdisches Licht schien auf mich herabzufallen, und ich war tief ergriffen von etwas, dem ich keinen Namen geben konnte. Meinen Eltern habe ich davon nichts erzählt, da sie das, wie ich meinte, nicht hätten verstehen können. Dieses kostbare Geheimnis habe ich über lange Zeit gehütet und dann vergaß ich es ganz und gar.

    Der Teil des Hauses in der Ahornstraße, den wir bewohnten, hatte drei Zimmer, an die ich mich noch sehr genau erinnere. Im Parterre, in dem Trosts einen Teil für sich behalten hatten, war das Schlafzimmer, im ersten Stock das Wohnzimmer mit einem Balkon, das Arbeitszimmer meines Vaters, die Küche und ein kleines Bad, darüber im Speicher das Dienstmädchenzimmer, in dem auch ich in einem Kinderbett mit Eisengittern schlief. In einem dieser frühen Jahre, als ich noch sehr klein war, schlug bei einem der an heißen Sommerabenden häufigen Gewittern der Blitz ein.

    An den Einschlag selbst kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass man mich schon früh ins Bett gebracht hatte, dass meine Eltern gleich nach dem Einschlag sehr aufgeregt nach oben gerannt waren und dass in der Wand, an der mein Bett stand, ein langer tiefer Riss klaffte. Wenn ich eine der Eisenstangen des Betts umfasst hätte, wie ich das oft tat, hätte das wohl zu einem frühen Ende geführt. Ich sollte, so scheint‘s, noch ein bisschen in dieser Welt bleiben. Bald nach diesem Vorfall ließen Trosts einen Blitzableiter auf das Dach setzen.

    Wie sehr wir damals noch ganz in der uns umgebenden Natur eingebettet waren, zeigt eine kleine Geschichte aus dieser Zeit. In unserem Badezimmer hausten über viele Jahre Schwalben. Wenn sie im Frühling kamen, bauten sie ihr Nest auf dem flachen emaillierten Blechschirm der Lampe, die in der Mitte des Bades von der Decke herabhing. Dort brüteten sie und fütterten dann die kleinen Schwalben, bis sie flügge waren. Das Badezimmerfenster musste natürlich immer offenstehen. Und kaum war der Winter vorbei, öffneten wir es, auch wenn es sehr kühl war, wieder und warteten auf ihre Rückkehr.

    In einem dieser Jahre war es schon sehr früh so kalt geworden, dass die Schwalben nicht mehr über die Alpen in den warmen Süden fliegen konnten. Eine große Aktion wurde ausgerufen, um sie per Flugzeug nach Italien zu bringen. Wir fingen die aufgeregten Schwalben ein und mein Vater und ich brachten sie in einer mit Luftlöchern versehenen Schachtel zum kleinen Münchner Flughafen – und im nächsten Jahr sind sie zu unserer großen Freude wiedergekommen, haben ihr Nest auf dem Lampenschirm gebaut, gebrütet und sind im Herbst in den wärmeren Süden geflogen.

    Aber diese Idylle hatte auch ihre Schattenseiten. Meistens spielte ich allein im Haus oder Garten und war den weitaus größten Teil des Tages nur meinen eigenen Gedanken überlassen. Einen Kindergarten gab es in der näheren Umgebung nicht, und wenn es einen gegeben hätte, wäre er sicher viel zu teuer gewesen. Betti, die sich zwischendurch um mich kümmerte, war urwüchsig und flink, aber eine Quelle der Inspiration war sie nicht. Wenn ich heutzutage immer wieder höre, wie wichtig Kindertagesstätten zur frühen Förderung sind, wird mir klar, welche Auswirkungen die tagelange Eigenbrötlerei meiner frühen Jahre gehabt haben muss.

    Doch zugleich gab es damals noch große Freiräume, in denen wir tun und lassen konnten, was immer wir wollten. Im Herbst, wenn das hohe Gras auf der Gräfelfinger Seite des Waldes trocken war, schnitten wir große Zweige von den Fichten ab und zündeten dann die dürren Wiesen an. Manchmal drehte der Wind, das Feuer breitete sich schnell aus, und wir mussten mit unseren Dachsen wie die Wilden auf die Flammen einschlagen, bevor sie den Wald erreichten. Es war ein gefährliches Spiel, in dem wir uns austoben konnten.

    Als etwas später der Straßenbau begann, spielten wir, obwohl es streng verboten war, mit den Loren, die damals für Erdbewegungen benutzt wurden. Wenn sie an abschüssigen Stellen Tempo aufnahmen, bremsten wir sie mit dicken Knüppeln, die wir gegen die Räder pressten. Aber manchmal gelang es uns nicht sie zum Stehen zu bringen, dann sprangen wir ab, die Lore fuhr weiter, sprang am Ende der Strecke von den Geleisen und wir verzogen uns schnell mit leichtem Schuldgefühl.

    Jetzt fällt mir dazu der Ausspruch eines brasilianischen Pressefotografen ein, den wir in Rio de Janeiro oft beim Filmen aktueller Ereignisse getroffen haben. Er war in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts anlässlich des Staatsbesuches des brasilianischen Präsidenten, General Ernesto Geisel, das erste Mal nach Deutschland gekommen. Als wir ihn wieder trafen, fragten wir ihn, wie es ihm dort gefallen habe. Immer noch überwältigt brachte er nur hervor: „Que país pronto – Was für ein fertiges Land."

    Inzwischen ist das fertige Land noch ein bisschen fertiger geworden. Wenn ich an meine frühen Jahre denke, und sicher auch, weil ich den größten Teil meines Lebens in der Dritten Welt und in Schwellenländern, wie man dann abmildernd sagte, verbracht habe, kann ich verstehen, auch wenn ich es nicht billige, dass hier zu Lande Jugendliche, einige wohl aus gutbürgerlichem Elternhaus, jetzt Wände beschmieren, öffentliche Toiletten oder die Aufzüge der S-Bahn-Stationen demolieren.

    Große Depression, Diktatur und Krieg

    Auf die harten Jahre nach einem verlorenen Krieg und Hyperinflation folgte nach der kurzen Atempause der Goldenen Zwanziger Jahre, die Große Depression. Sie begann am 24. Oktober 1929, dem berüchtigten „schwarzen Freitag", mit dem großen Börsenkrach und dauerte dann vor allem in den USA, dem gelobten Land der unbegrenzten Möglichkeiten, fast bis zum Zweiten Weltkrieg.

    Bereits im Spätherbst 1929 gab es in Deutschland 1.400.000 Arbeitslose, Ende 1930 waren es schon fünf Millionen und im Februar 1932 ganze 6.120.000. Es war eine schwere bedrückende Zeit. Auch ohne sie schon ganz bewusst miterlebt zu haben, muss sie sich tief in mir eingegraben haben. Denn immer, wenn es kleinere wirtschaftliche Krisen gab, meinte ich, nun ist es wieder soweit.

    In einer dieser, aus

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