Seewölfe - Piraten der Weltmeere 476: Auf der Großen Bank
Von Burt Frederick
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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 476 - Burt Frederick
9
1.
Es war ein Paradies.
Die Menschen in der Alten Welt konnten davon bestenfalls träumen. Aber nicht einmal die blühendste Phantasie reichte aus, um sich diese überwältigende Pracht vorstellen zu können. Dies mußte man mit eigenen Augen gesehen haben. Ohne die Erinnerung daran, davon waren Jean Ribault und Roger Lutz überzeugt, konnte man vor seinem geistigen Auge auch kein Abbild dieser üppigen landschaftlichen Schönheit entstehen lassen.
Als die Morgensonne an diesem 8. Mai 1595 ihr goldenes Licht über die Höhenzüge in das Tal schickte, war es wie das Erblühen einer kostbaren Blume, die ihren Betrachter mit einem von Sekunde zu Sekunde wechselnden Farbenspiel verwöhnt.
Für die beiden Männer, die aus ihrem Versteck in das idyllische Flußtal hinunterblickten, war es ein überwältigendes Schauspiel. In ihrer Schönheit war die Szenerie geradezu unwirklich.
„Wie eine Frau, die sich dir Stück für Stück offenbart, sagte Roger Lutz hingerissen und mit verklärtem Blick. „Da kannst du mit dem Auge Entdeckungsreisen unternehmen, und du wirst jedesmal etwas finden, was dich von neuem begeistert.
Jean Ribault bedachte seinen Gefährten mit einem spöttischen Seitenblick.
„Jetzt mal eine ehrliche Antwort, Roger. Gibt es auf dieser Welt irgend etwas, das dich nicht an eine Frau erinnert?"
Der schwarzhaarige Charmeur grinste. Jedes Mitglied der Ribault-Crew kannte alle Einzelheiten seiner vielen Abenteuer. Denn er pflegte keine Gelegenheit auszulassen, den Kameraden brühwarm über seine Erfolge beim schwachen Geschlecht zu berichten.
Lediglich den einen Bericht pflegte Roger zu unterschlagen – nämlich jene Schilderung der Ereignisse, die sich in Zusammenhang mit der Galeone der Komödianten vor der Westküste Neuspaniens zugetragen hatten. Diese Geschichte brauchte Roger ohnehin niemandem zu erzählen, denn sie erinnerten sich alle nur zu gut daran. Schließlich hatten sie ihn sich gehörig vorgeknöpft, nachdem er sie alle ausgetrickst und trotz der ausdrücklichen Anweisung des Seewolfs den Schürzenzipfeln in der munteren Schauspielertruppe nachgestellt hatte. Von Erfolg war keine Rede gewesen, und so hatte Roger diese traurige Episode seither nie wieder erwähnt.
„Willst du behaupten, daß ich irgendwann geflunkert habe?" entgegnete er mit zwinkernden Augen.
„Was deine Amouren betrifft, trägst du manchmal ein bißchen dick auf. Das kannst du nicht abstreiten."
„Alles Tatsachen, erklärte Roger. „Ich lasse nichts weg, und ich beschönige nichts.
„Schon gut, schon gut. Jean seufzte in gespielter Enttäuschung. „Ich sehe, du weichst aus.
„Überhaupt nicht, entgegnete Roger protestierend. „Wenn du dir das Wörtchen ‚ehrlich‘ geschenkt hättest, wäre ich gleich zur Sache gekommen.
„Und die wäre?"
Der Schwarzhaarige, der im übrigen einer der besten Degenkämpfer in der Ribault-Crew war, grinste noch breiter.
„Die Welt ist weiblich, Jean. Da gibt es wirklich nichts, was einen nicht an eine Frau erinnert."
Jean Ribault schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem geradezu berauschenden Anblick des Tales zu. Wenn es um das bewußte eine Thema ging, konnte man mit Roger Lutz meist kein vernünftiges Wort reden. Er hätte es sich denken müssen.
Dieses Flußtal an der Südküste von Kuba lud indessen wahrhaftig zu einer Entdeckungsreise mit dem Auge ein.
Und doch war es kein Paradies ohne Makel.
Ein Mord war geschehen.
Aus den niederträchtigsten Beweggründen, die man sich nur denken konnte, hatte ein Raffgieriger seinen lästigen Mitwisser aus dem Weg geräumt. Miguel Cajega, der Fuhrunternehmer aus Havanna, war gewiß kein Engel gewesen. Denn immerhin hatte er mit Don Antonio de Quintanilla zusammengearbeitet. Der Fettsack, der unterwegs war, um sich beim Allerkatholischsten in Madrid den Titel eines Vizekönigs abzuholen, gehörte ohne jeden Zweifel zu den menschlichen Zerrbildern, die nichts als Abscheu erregen konnten.
Und Alonzo de Escobedo, Nachfolger des Gouverneurs in Havanna, stand seinem Amtsvorgänger an Niedertracht und Verschlagenheit keineswegs nach. Es gab nichts, womit sich de Escobedo für den heimtückischen Mord rechtfertigen konnte, den er an diesem paradiesischen Ort begangen hatte.
Das Flußtal befand sich etwa drei Meilen westwärts von Batabanó an der kubanischen Südküste. In ihrem Versteck, einer kleinen Höhle am nördlichen Hang des Tales, hatten die beiden Franzosen während der Nachtstunden abwechselnd gewacht. Jetzt, da sie das Tal im gleißenden Licht der Morgensonne vor sich sahen, stellten sie fest, daß sich offenbar nichts geändert hatte.
De Escobedo war nicht zu sehen.
Das Flußtal, soviel wußten die Freunde, schlängelte sich an der Küste entlang etwa eine Meile ostwärts, bog dann nördlich von Batabanó nach Süden ab und mündete ins Meer – in den Golf von Batabanó.
Ein stetes Rauschen war von jener Stelle zu hören, die nur einen Steinwurf weit vom Versteck der beiden Männer entfernt war. Die Geräuschkulisse, die bisweilen einen dumpfen, grollenden Unterton zu haben schien, wurde von einem mächtigen Wasserfall hervorgerufen. Vor einer felsigen Steilwand, die zugleich das westwärtige Ende des Flußtales bildete, stürzten die Fluten in die Tiefe – im Licht der Morgensonne wie ein schillernder Vorhang aus Millionen silbriger Fäden.
Was sich hinter diesem Wasserfall verbarg, konnte niemand auch nur im entferntesten vermuten. Nirgendwo gab es auch nur den winzigsten Hinweis auf das Geheimnis der Felswand. Und wären Jean Ribault und Roger Lutz nicht Zeugen gewesen, wie de Escobedo von seinem späteren Opfer Cajega hinter den Wasserfall geführt worden war, dann wären sie wahrscheinlich ahnungslos an den verborgenen Schätzen de Quintanillas vorbeimarschiert.
Das zusammengeraffte Vermögen des bisherigen Gouverneurs von Kuba befand sich hier, in diesem paradiesischen Flußtal. Doch war er natürlich nicht in der Lage gewesen, seine Schätze allein und unbemerkt hierher zu schaffen. Er hatte Helfer für den Transport gebraucht. Der Mann, der das alles für Don Antonio in die Wege geleitet hatte, war Miguel Cajega gewesen, Fuhrunternehmer in Havanna. Sein Wissen um das Schatzversteck hatte er mit dem Leben bezahlen müssen.
Alonzo de Escobedo, der sich jetzt Gouverneur von Kuba nennen durfte, hatte seinen Informanten an Ort und Stelle ermordet.
Dabei war Cajega zweifellos voller Hoffnung gewesen. Eine trügerische Hoffnung, wie sich gezeigt hatte. Ihm war es nicht anders ergangen als so vielen Menschen, die man unter der Folter zerbrochen hatte. Wie in Havanna und an anderen Orten der Welt glaubten die Geschundenen und Gedemütigten, mit ihrer Aussage alle Qualen abschütteln und neu beginnen zu können. Es war der Trugschluß, dem sie durch ihre gemarterten Sinne erlagen. Denn sie glaubten, in ihren kaltlächelnden Bezwingern einen Hauch von Menschlichkeit zu sehen, den es nicht gab.
De Escobedo mußte ein Musterbeispiel für solche Kaltschnäuzigkeit sein.
Die Männer vom Bund der Korsaren hatten miterlebt, wie der sehr ehrenwerte neue Gouverneur von seinen Schergen die auf Reede liegenden Handelsschiffe überfallen, in eine abgelegene Bucht verholen und ausplündern ließ. Und Jean Ribault und Roger Lutz hatten es immerhin geschafft, die verbrecherischen Machenschaften de Escobedos von einem Tag auf den anderen zu beenden. Gerade noch rechtzeitig