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Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?: Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949
Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?: Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949
Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?: Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949
eBook388 Seiten5 Stunden

Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?: Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949

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Über dieses E-Book

Helmut Clahsen ist 14 Jahre, jüdischer Abstammung, ohne Schulbildung und kehrt im Juni 1945 aus Belgien, wo er die letzten Jahre der NS-Zeit mit seinem jüngeren Bruder überlebt hat, nach Aachen zurück. Seine jüdischen Verwandten sind tot, deportiert, verschollen. Der katholische Vater, dessen Schwestern und die noch jüngere Schwester der beiden Brüder haben überlebt. Willkommen sind die Brüder keineswegs. Die Schwestern des -Vaters sehen im Überleben der beiden eine Bedrohung und -fürchten, für ihr Verhalten gegen die jüdischen Familienange-hörigen in der NS - Zeit zur Verantwortung gezogen zu werden. Sie wollen die beiden so schnell als möglich endgültig los werden. Der gegenseitige Hass wird trotz Hunger und allgemeiner Nachkriegsnot aufrecht erhalten. Ohnmächtige Wut erfüllt den minderjährigen Helmut, der -nirgendwo Gehör und Beistand zu finden scheint. Seine Art sich verständlich zu machen, erschwert diese Situation besonders. Eine Wende zum Besseren tritt für ihn erst ein, als Tante Mary aus der Evakuierung nach Aachen zurück kehrt und sich, wie schon während der NS-Zeit, für ihn einsetzt.
SpracheDeutsch
HerausgeberHelios Verlag
Erscheinungsdatum10. Jan. 2017
ISBN9783869331737
Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt?: Überleben im zerstörten Aachen 1945-1949

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    Buchvorschau

    Und danach, David? Ist Goliath wirklich besiegt? - Helmut Clahsen

    Nachwort

    Und danach, David?

    Ist Goliath wirklich besiegt?

    Wie schon so oft, war ich auch heute zu meinem Kummerplatz gekommen. Einem starken Ast einer leicht zu besteigenden kanadischen Kiefer. Sie stand mitten auf einer ansteigenden Wiese des Stadtgartens, vor den Terrassen und Treppen, die zu jenem runden Platz hinauf führten, auf dem ich 1939 meine Weihnachtswünsche verbrannt hatte. Damals war es äußerst ungewiss, ob es mir gelingen würde, das ‚Tausendjährige Dritte Reich‘ zu überleben. Um bei der Wahrheit zu bleiben, zu der Zeit reichte mein Verstand nicht einmal aus, solch einen Gedanken zu produzieren.

    Heute, 1945, ist das anders. Ich war gerade vierzehn Jahre geworden. Der Krieg war seit Mai vorbei und seit Juni lebte ich mit meinem Bruder, meiner Schwester, dem Vater, der Hexe und dem Onkel Vielfraß in einem Haus, in einer Wohnung.

    Die Tageszeit, von der ich hier berichte, war ein warmer, sonniger Spätnachmittag im August 1945. Der ganz leichte lauwarme Wind, der gerade noch ausreichte, die Zweige ‚meines Baumes‘ leise flüstern zu lassen sowie die menschenleere, friedliche Umgebung der Parkanlage sollten mir helfen, meine aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Bäume spielten in meinem bisherigen von Angst, Leid und ohnmächtiger Wut bestimmten Leben immer schon eine ungeheuer wichtige Rolle. In ihren Ästen, an und in ihren Stämmen suchte ich so manches Mal Schutz, konnte ich mir meinen Kummer, meinen Schmerz von der Seele weinen und mitunter ein wenig Ordnung in meine Gedanken und Gefühle bringen.

    Da in mir Trauer und Hass ständig aufeinanderprallten, Albträume, geboren aus den grausamen angstvollen Erlebnissen meiner Kindheit, mir den Schlaf raubten, woran wohl auch zum Teil der Hunger in den Nachkriegsjahren eine gewisse Schuld hatte, niemand da war, mit dem ich über dieses Gefühlschaos reden konnte, hatte ich mir dazu diesen Baum erkoren. Von Umfang und Höhe war er der mächtigste und von der Ebenmäßigkeit des Wuchses der schönste aller Bäume die um ihn herum standen. Keine Granate, keine Bombe hatte seine majestätische Spitze zerfetzt. Er hatte mich magisch angezogen. Von dem erwählten Platz, auf einem starken Ast nahe der Spitze, konnte ich den Rosengarten sehen. Die Bank, auf der Oma gesessen hatte, damals. Schmerzliche Erinnerungen wurden dabei sofort wieder heraufbeschworen an die Schilder auf den Lehnen der Parkbänke. Jetzt war kein Schild mehr an den Lehnen der drei Bänke, die den Krieg und den Brennmaterialklau überstanden hatten. „Für Juden verboten! Ich war längst dort gewesen und hatte nachgesehen. Die Löcher der Nägel oder Schrauben, mit denen die Schilder damals befestigt worden waren, fand ich noch, die Schilder nicht mehr. Auch am Eingang des Stadtgartens war kein Schild mehr zu finden, auf dem „Für Juden und Hunde verboten gestanden hatte. Ich kam oft hierher. Wir wohnten ja jetzt ganz in der Nähe. Manchmal setzte ich mich auch auf die Bank im Rosengarten, wenn ich Oma nahe sein wollte. Ich glaubte nicht, dass sie noch lebte. Mit Freuden hätte ich wieder mit ihr zusammengelebt. Wäre die Behausung auch noch so winzig und ärmlich gewesen. Das Haus in der Korneliusstraße stand noch und das auf dem Büchel auch. Mir fiel Omas wütendes Geschimpfe über Hitlers Vernichtung des Weltjudentumes ein. Es gab wohl kaum eine Hoffnung auf ein Wiedersehen mit einem meiner jüdischen Verwandten. Mit all den Onkeln, Tanten, Cousinen und Vettern. Von keinem hatte ich ein Lebenszeichen. Ich hatte Vater gefragt. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt, geantwortet hatte er nicht. Auch nicht, als ich ihn nach Tante Mary fragte. Wo sie zuletzt gewohnt hatte, war sie nicht und die Leute, die in ihrer Wohnung lebten, konnten mir angeblich nichts sagen.

    Die furchtbare Verwandtschaft meines Vaters, die katholisch-arische, hatten allesamt überlebt. Ohne körperliche Blessuren überlebt. Ein wenig abgemagert und mehrmals ausgebombt, sogar einmal verschüttet war eine der Schwestern meines Vaters. Was mich aber wirklich erstaunte und in Wut versetzte war, dass sie behaupteten, nie mit den Nazis paktiert zu haben. Weder die, die unserem Vater 1935 zugesetzt hatten, sich von dem ‚Judenweib‘ und seinen ‚Bastarden‘ zu trennen. Auch jene nicht, die am 22.7.1942 meine geliebte Oma an die Nazis verraten hatte. Die den Tod Pohlers auf dem Gewissen hatte, der bei Omas Festnahme von der Gestapo erschossen worden ist. Auch seine dritte Schwester nicht. Die so katholisch war, dass sie zu glauben vorgab, meinen Bruder und mich im Mai 1943 an die Herrenmenschen ausliefern zu müssen, weil nach ihrer Ansicht Hitler ein Werkzeug Gottes war, der den Mord an seinem Sohn rächen wollte. Und auch die vierte Schwester hatte den Krieg gesund überlebt. Die saure Adele hatte die Nazis zwar nie gemocht, uns ‚verdammtes Judenpack‘ aber noch weniger.

    Die älteste Schwester, für mich war sie ‚der Drachen‘ geblieben, der sie immer war, hatte mit Hilfe der Sieger Möbel ehemaliger Nazis requiriert und damit ihrer Nachkriegsbehausung eine Wohnlichkeit verliehen, wie sie sie vorher nie besessen hatte. Dass wir ‚verdammten Saujuden‘ vergangener Jahre überlebt hatten, nahmen diese grausamen Verwandten zum Anlass, den Alliierten vorzugaukeln, sie hätten Juden beschützt und Anteil am Überleben meines Bruders und mir. Grausamer Hohn! Aber ich war zu jung, mich dagegen wehren zu können.

    Schier unerträglich war das Zusammenwohnen mit der Hexe und deren Ehemann. Absolut gegen den Strich ging mir, dass Vater von mir Gehorsam dieser Person gegenüber verlangte und sich den Haushalt von ihr führen ließ. Uns Kindern gegenüber verhielt er sich wie vor Jahren. Die große Ausnahme war unsere Schwester, die all die Jahre völlig von uns isoliert bei der Hexe gelebt hatte und nun plötzlich zwei recht raubeinige Brüder hatte und mit ihnen leben lernen musste. Das war für keinen von uns einfach. Im Dezember würde sie zehn Jahre alt werden. Sie war Vaters Augapfel. Seine Schwester hatte ihm seine Tochter ja auch lange genug vorenthalten. Sie wurde von ihm nur ‚Tittilein‘ gerufen und auch so behandelt wie ein kleines Kind. Ihren Namen Luzia bekam sie nicht zu hören.

    Heini war wie früher das Kerlchen mit dem klugen Köpfchen. Im April war er elf geworden. Ich war immer noch Vaters Blödmann. Der unbelehrbare Schandfleck der Familie. Der Nestbeschmutzer, der die eigene Familie für ihre unmenschlichen Taten zur Verantwortung ziehen wollte, anstatt zu vergessen und froh zu sein, weiter leben zu dürfen. Aber ich wollte und konnte nicht vergessen. Nicht was diese Hyänen meiner Mutter, meiner Oma und uns angetan hatten. Hinzu kamen die Albträume. Die immer größer werdende Wut, meinen Hass nicht ausleben zu können.

    Und wieder wurden wir Kinder ein Mittel, bestimmte Dinge von den Behörden zu erlangen. Bezugscheine für irgend eine Mangelware zum Beispiel. Bei solchen Gelegenheiten führte Vater mich wie einen Pfingstochsen vor. Nannte mich vor allen Leuten: „Das arme Judenkind, dass ja so gelitten hatte, unter Hitler." Dabei hatte er keine, nicht die geringste Ahnung. Er nannte die Kerle hinter den Schreibtischen meist beim Vornamen. Er kannte sie also. Mir drängte sich der Verdacht auf, dass diese Kerle schon während des Dritten Reiches Beamte waren. Außerdem sahen sie nicht so erbärmlich aus wie die Menschen vor den Amtspulten. Verdammt, warum kuschte er immer noch vor diesen Kerlen? Mir war jedes Mal zum Kotzen, wenn ich mit ihm auf ein Amt musste. Warum nahm er mich immer mit? Warum nicht meinen Bruder oder unsere noch kleinere Schwester?

    Nein! Ich kam mit dieser verlogenen, niederträchtigen, hinterhältigen Mischpoke, dieser widerwärtigen Familie nicht zurecht. Ich konnte sie nicht ertragen.

    Die Not und das Elend in der unmittelbaren Nachkriegszeit waren allgemein. Es mangelte an allem. Nicht einmal die rationierten Dinge des täglichen Lebens, wie Lebensmittel, Kleidung, Heizmaterial, gab es für alle in ausreichender Menge. Am ehesten konnte man sich mit etwas Heizmaterial versorgen, das wir uns aus den Trümmern zerbombter Häuser holten. Die Trümmer ganzer Straßenzüge bargen so manches. Mitunter brachten Heini und ich sogar eingemachte essbare Vorräte mit nach Hause, die wir in Kellern unter Schutt und Steinen bergen konnten. Natürlich hatten wir auch so manchen angekohlten Dachbalken angeschleppt, den Onkel Vielfraß ofengerecht zerlegte. Nicht dass wir gerne in den Trümmern herumgestöbert hätten, oder gar aus Abenteuerlust. Nein, wir wurden geschickt. Die Hexe bestimmte die Norm dessen, was gesammelt werden musste. Und das nicht nur bei Holz. Später im Jahr kamen Buchecker hinzu, die Heini und ich im Wald sammeln mussten. Für eine bestimmte Menge Buchecker gab es an den Verteilstellen in der Stadt eine bestimmte Menge Öl oder Margarine. Nicht das wir alleine im Wald gewesen wären.

    Groß und Klein, Alt und Jung sammelten diese kleinen kostbaren ölhaltigen Waldfrüchte und manch einer trat dabei auf eine im Boden versteckte Miene und verlor seine Glieder oder gar sein Leben. Das konnte der Hexe und dem Vielfraß nicht geschehen. Sie gingen nicht in den Wald, sie schickten uns, Heini und mich.

    Allein die Ausbeute, die wir nach Hause brachten, ob von den Trümmern oder aus dem Wald oder sonst wo her, entschied darüber, ob wir Abendessen erhielten oder ohne und hungrig ins Bett mussten. Mein Eindruck war, die hofften, dass wir eines Tages auf eine Miene treten würden oder in den Trümmern verschüttet werden würden. Der ohnmächtige Hass in mir wurde größer und größer. Da half kein Fluchen und kein Beten. Hinzu kam, dass Vater zu seinen Schwestern stand, dass Kinder den Mund zu halten und zu parieren hatten und uns ständig mit einer Erziehungsanstalt gedroht wurde, aus der wir bis zur Volljährigkeit nicht mehr herauskommen würden. Ich wusste nicht, ob es so etwas wie eine Erziehungsanstalt gab und wer uns da hinein bringen konnte, wenn es sie gab. Heimlich ging ich zum Johannes-Höver-Haus und fragte Bruder Hermann Josef all das, was ich Vater nicht fragen konnte.

    Ja, es gab solche Anstalten. Ich nahm mir vor, meinen Hass zu zügeln bis ich volljährig sein würde.

    Eines Tages, bei einem dieser Versorgungsstreifzüge, fanden Heini und ich in der Monheimsallee einen gut erhaltenen Keller unter Trümmern. Zwei Kellerräume waren vollgestopft mit Konserven, Kisten mit Spirituosen und Unmengen von Zigaretten. Wir fanden nicht den Mut, etwas von diesen ‚Kostbarkeiten‘ mitzunehmen. Wir hatten nicht etwa Angst erwischt zu werden. Nein, wir wollten den Fundort nicht gefährden.

    Es war ja möglich, dass wir beobachtet worden waren. Verließen wir den Ort mit leeren Händen, so dachte ich, wird ein eventueller Beobachter nicht auf uns aufmerksam. Erst bei Dunkelheit und während der Sperrstunde zeigten wir Vater das Überlebensparadies. Er fand sehr kurzfristig Mittel und Wege, all diese Herrlichkeiten in unseren Keller umzuquartieren. Mehrere Nächte hindurch hörten wir ihn immer wieder Kommen und Gehen, Kommen und Gehen. Trotz der Sperrstunden, die für ihn nicht zu gelten schienen. Über Tag schlief er dann. Er war so glücklich über diese ‚Fügung des Himmels‘, wie er den Fund nannte, dass er uns am Ende des Transfers mit Freudentränen, die ihm über das Gesicht rannen, abküsste. Ja, auch mich. Seinen Blödmann. „Jetzt hat der Hunger ein Ende, jubelte er. „Das reicht für Jahre. Den Alkohol und die Zigaretten können wir gegen alles tauschen, was uns fehlt.

    An die hochgiftigen Nattern in seinem Familienterrarium hatte er nicht gedacht, hatte einfach nicht mit ihnen gerechnet.

    Schon einen Tag nach vollbrachter Bergung kam seine älteste Schwester, der Drachen. Sie kam am späten Nachmittag und in unserem Wohnzimmer entwickelte sich eine lautstarke, erpresserische Auseinandersetzung zwischen Vater, dem Drachen und der Hexe, die den Drachen über den plötzlichen Wohlstand informiert hatte. Beide hatten ihre Ekelnamen nicht nur in meiner sehr frühen Kindheit von mir erhalten. Auch andere Menschen, fremde Menschen bezeichneten die Schwestern unseres Vaters so. Dass Menschen in Not sehr schnell aggressiv reagieren, war mir nicht neu. Schon oft hatte ich blitzschnell aggressiv reagieren müssen. Auch in den Trümmern. Mitunter musste ich mit körperlicher Gewalt verteidigen, was ich dort gefunden hatte. Mehr als einen Dachbalken hatte ich verloren, weil meine Kräfte gegen die eines Mannes nicht ausgereicht hatten.

    Was sich an diesem Nachmittag zwischen Vater und diesen Nattern abspielte, erinnerte mich an Szenen, die ich in meiner sehr frühen Kindheit, im Johannistal, schon einmal erlebt hatte. Damals, als Mama nach der Geburt unserer Schwester aus dem Mariannen-Institut nach Hause kam. Die Situation war gleich, nur der Grund war ein anderer. Sie forderten von dem lebenswichtigen Reichtum, der im Keller lagerte, ‚ihren Anteil‘. Sie stellten Bedingungen, ähnlich wie 1936. Damals forderten sie, dass Vater sich von der Judenschlampe und den Judenbastarden trennen sollte. An diesem Sommernachmittag 1945 erklärten sie Heini und mich zu unnützen Fressern, zu Judenbastarden, die Vater schnellstens wieder ins Kloster zurückschaffen sollte. Der Drachen verlangte den Löwenanteil der Beute für sich und ihre vier Kinder. Der Rest, so verfügte sie, sei für die Hexe, den Vielfraß und das kleine Judenbalg, dass die beiden ja zehn Jahre durchgefüttert hätten. Ich saß mit Heini auf dem roten Plüschsofa. Wir hörten schweigend zu. Sie saßen um den Tisch herum, der wie alle anderen Möbel in dieser Wohnung uns nicht gehörte. Der Mann der Hexe, Onkel Vielfraß, nahm an dem Gespräch nicht teil, stand an der Türe zur Veranda und schaute in den Garten hinaus, die Hände auf dem Rücken ineinandergelegt. Er kümmerte sich um nichts. Zwar überragte er seine Frau um die Länge eines halben Oberkörpers, ohne ein Riese zu sein. Zu sagen hatte er nichts. Absolut nichts. Nur einmal machte er einen zaghaften Versuch. Jedoch, was er hatte sagen wollen, blieb ein Geheimnis, weil seine Frau ihn schon anfauchte, als er den Mund öffnete: „Halt den Mund, Josef!" Dem hatte er nichts hinzu zu fügen.

    Und Vater? Zunächst saß der vom Krieg und dem Hunger in der Strafkompanie ausgemergelte Mann ziemlich lässig da und hörte den Weibern mit funkelnden Augen zu. Dann, im Verlauf des Gezeters spannte sich sein Körper mehr und mehr ob der Forderungen, Zumutungen und Beleidigungen, die die Weiber ihm an den Kopf warfen. Die nickelgefassten Brillengläser, die ihm beim Militär verpasst worden waren, die mit zentimeterbreiten Bändern um die Ohren herum gehalten wurden, gaben seinem Gesicht etwas Lächerliches, nicht Ernst zu nehmendes. Aber, sie hätten ihn besser kennen müssen als ich. Ich glaubte zu sehen, wie es hinter der lächerlichen Brille in seinen Augen arbeitete. Mir hatten seine Augen immer Angst bereitet, wenn er böse wurde. Was ich jetzt zu erkennen glaubte, hätte mich augenblicklich verstummen lassen, wenn ich an der Stelle der Weiber gewesen wäre.

    Sie machten ihm die zigmal gehörten Vorwürfe. Dass er dieses Judenweib geheiratet und Bankerte in die Welt gesetzt hatte. Dadurch sich und die Familien seiner Schwestern in Gefahr gebracht hatte. Der verfluchte Drachen behauptete doch tatsächlich: „Es ist nur gerecht, wenn du mit dem Überfluss aus deinem Keller das wieder gut machst, was du uns in der Vergangenheit durch dein Fehlverhalten und deine Sturheit angetan hast."

    Verdammt hatte ich eine Wut in mir. Diese Hyänen forderten von ihm und von uns eine Wiedergutmachung! Für was? Sie warfen uns vor, dass wir überlebt hatten. Ich schaute zu meinem Bruder. Er war weiß wie die Kalkwand auf dem Hof. Beide schauten wir Vater an. Was war aus ihm geworden? Wo war sein so gefürchteter Jähzorn geblieben? Hatten die Nazis ihn so fertig gemacht, dass er sich nicht mehr wehrte? War er jetzt so wie dieser Vielfraß an der Balkontüre? Zugegeben, seit dem Schlag von ihm in Tante Marys Wohnung 1936 und den fortwährenden Beschimpfungen und Bloßstellungen als sein Blödmann und Dummkopf der Familie, hatte ich keine großen Gefühle für ihn. Ich konnte ihn einfach nicht von mir überzeugen, was auch immer ich machte. Trotz alledem, er war mein Vater, der einzige Erwachsene meiner Familie, von dem ich Schutz erwartete. Meine Augen saugten sich an seinem Gesicht fest. Endlich bemerkte ich ein böses Lächeln um seinen Mund herum. Endlich funkelten auch seine Augen richtig böse hinter den lächerlichen Brillengläsern. Seine Finger begannen auf der Tischplatte zu trommeln, als wollte er seine wahren Gefühle verbergen. Taram, taram, taramtamtam, taram, taram, taramtamtam, immer und immer wieder. Taram taram taramtamtam.

    Ganz unvermittelt brach der Drachen seine Hetztiraden ab. Hatte sie die Verfassung ihres Bruders erkannt? Sie hatte es plötzlich eilig. „Ich werde jetzt einige mitgebrachte Taschen mit dem Zeug da unten füllen und nach Hause gehen", sagte sie laut und bestimmt. Kein Einspruch von Vater?

    „Nein, sagte er gedehnt und sehr, sehr ruhig nach einer Weile des Schweigens. „Nein. Schwesterchen, wir machen das anders. Wir wollen doch kein Risiko eingehen, bei diesen unsicheren Straßen und der Dunkelheit. Ich organisiere einen Handwagen. Dann kannst du mit deinen Kindern kommen, wir beladen den Handwagen und deine Kinder können dich auf dem Heimweg beschützen. So und nicht anders machen wir das! Er ging in den Keller, kam mit einem eingemachten Huhn und einer Flasche ‚Hochprozentigem‘ zurück, gab beides seinem Schwesterlein und brachte sie zur Haustüre.

    Als er wieder ins Wohnzimmer kam, setzte er sich wieder hin, schüttelte den Kopf und sagte ganz ruhig: „War das denn nun nötig? Habt ihr dummen Weiber etwa angenommen, ich wollte das alles, da unten, für mich alleine haben? Selbstverständlich hätte ich mit euch geteilt. Ihr hättet gar keinen solchen Aufstand machen müssen. Ihr habt euch ja mächtig ins Zeug gelegt. Jetzt weiß ich aber, Gott sei Dank, woran ich mit euch bin. Der Krieg ist also nicht vorbei und die Nazis keinesfalls besiegt. Überall sitzen sie. In der Familie genau so wie in den Ämtern. Er drehte sich zu uns hin, lachte freundlich und meinte: „Ja, Jungs. Dann nehmt euch mal schön in Acht! Ihr habt ja gehört, was eure lieben Tanten mit euch vorhaben. Er schickte uns auf unser Zimmer. Noch während ich mich erhob, sagte ich laut und deutlich: „Wer mich anfasst, den erschlage ich. Und bei Gott, es war mir ernst gemeint, trotz meiner vierzehn Jahre. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war aus diesem Mann geworden? Lässt sich beschimpfen in der übelsten Art und Weise und belohnt das noch mit Branntwein und einem Huhn und dem Versprechen, Heinis und meinen Fund mit diesen gottverfluchten, mörderischen Weibern zu teilen. Ich kämpfte mit den Tränen der Wut, die mir die Sicht nahmen, als wir die Treppe hochstiegen zu unserem Zimmer im ersten Stockwerk des Hauses. Heini heulte los und ich fragte mich: haben wir dafür überlebt? Müssen wir uns das gefallen lassen? Wir kamen mit dem, was wir soeben erleben mussten, nicht zurecht. Würde Vater uns wirklich wieder in ein Kloster abschieben? Ausgerechnet jetzt, wo der Keller, unser Keller, durch unser Glück und purem Zufall voller Ware war, die wir gegen Lebensmittel eintauschen konnten? Verdammte Scheiße! Wenn ich jetzt einundzwanzig Jahre gewesen wäre und volljährig, ich hätte den Weibern so aufs Maul geschlagen, dass sie neue Zähne gebraucht hätten. Wir waren also immer noch Judenbastarde. Immer noch auf der Abschussliste. Das Ende des Krieges war also nicht das Ende der Nazis. War kein freies Leben für uns. Als Heini sich ausgeweint hatte, schmiedeten wir Pläne, wie wir uns in Zukunft der Hexe, dem Drachen, dem Vielfraß gegenüber verhalten wollten. Ob unser Verhalten auch gegenüber Vater gelten sollte, wollten wir abwarten. Sollte von seinem Verhalten abhängen. „Der wird immer zu seinen Schwestern halten, meinte Heini. „Ich fürchte, du hast recht. Ich könnte sie ermorden, so sehr hasse ich diese Weiber."

    „Wir müssten der Hexe ganz klein gestoßenes Glas im Essen machen, dann geht sie kaputt." Heini erinnerte sich an einen Fall, der einem Kind in Herbestal passiert war.

    Ein ganz kleines Kind hatte, unbemerkt von Erwachsenen, winzige Glassplitter für Zucker gehalten und gegessen. Es war qualvoll gestorben. Niemand hatte ihm helfen können. Gegen den ständigen Essensentzug, den die Hexe uns aufzwang, wollten wir uns an den Vorräten im Keller schadlos halten. Sie konnte abschließen, so viel sie wollte. Türschlösser stellten für uns beide keine Probleme dar. Ab sofort würden wir massiven Widerstand leisten. Wenn es sein musste, auch mit gemeinsamer Gewalt.

    Das versprachen wir uns, bevor wir einschliefen. Die Verwandten sollten sich ab sofort vor uns in Acht nehmen!

    In diesem unter Trümmern verschütteten ‚tausendjährigen Deutschen Reich‘, gab es täglich Überraschungen und Abenteuer, auf die jeder gerne verzichtet hätte.

    Bei jedem Wetter, jeder Jahreszeit standen die Menschen, mangelhaft gekleidet, hungrig und entkräftet, täglich, mitunter auch schon nachts, in langen Schlangen vor den Geschäften oder Verteilstellen. Sehr oft auch vergeblich, weil das, wofür sie anstanden, schon vergriffen war, bevor sie das Geschäft, die Verteilstelle erreichten.

    Ganz gleich war, ob es sich dabei um Lebensmittel oder Gebrauchsgüter handelte.

    Ob es sommerlich warm oder bitter, bitter kalter Winter war. Ganz schlimm war die Zeit für alleinstehende, alte und kranke Menschen und Kinder. Sie konnten sich ja immer nur an einer Bezugsstelle anstellen und wenn sie krank waren, gar nicht. Oft brachen Menschen in solch einer Warteschlange zusammen. Entkräftet, krank, alt.

    Ob unser Vater es deshalb vorgezogen hatte, mit der Hexe unter einem Dach zusammen zu wohnen? Ich verstand ihn trotzdem nicht. Anstatt ihm Halt zu geben, ihn zu unterstützen, haben sie ihn die ganzen Kriegsjahre angefeindet, ausgestoßen, ihm das Leben so schwer und unerträglich gemacht, wie es ihnen nur möglich gewesen war. Haben sogar seine Schwiegermutter an die Nazis verraten. Haben versucht, uns, Heini und mich aus der Welt zu schaffen, und er... Ich verstand ihn nicht.

    Vater hatte versprochen, den lebenserhaltenden Reichtum, der im Keller lagerte, mit seinen Schwestern zu teilen. Heini und ich hatten am gleichen Abend gelobt, keine Ungerechtigkeit mehr hinzunehmen. Als ich am Nachmittag des folgenden Tages auf der Veranda in der Sonne saß und mir den vergangenen Abend noch einmal vor Augen führte, fiel mir etwas auf. Hatte Vater wirklich versprochen, mit den Hyänen zu teilen? Nein. Hatte er nicht. Mir fiel auf, er hatte dem Drachen und nur dem Drachen angeboten, einen Handwagen zu besorgen. Er hatte nur versprochen, den Drachen mit einem beladenen Handwagen nach Hause gehen zu lassen. Von Aufteilung hatten nur die giftigen Nattern gesprochen. Mir war schon klar, dass er von dem Fund einiges abgeben musste. Schon deshalb, damit der Drachen ihn nicht anzeigte und des Diebstahls bezichtigte. Mir war auch klar, dass die Hexe schon dafür sorgen würde, dass der Drachen nicht zu kurz kommen würde. Vater, der ja ständig abwesend war, hätte das gar nicht verhindern können. Die Hyänen hatten ihn ja schon früher im Johannistal beklaut, wo sie nur konnten. Konnten Heini und ich ein Auge auf die Nattern haben? Konnten wir verhindern, dass die Weiber Vater und uns ausplünderten? Ich musste unbedingt mit Heini darüber sprechen. Er musste mir dabei helfen, die Hyänen zu überführen. Verdammt, wäre das lustig, wenn Vater die Hexe und den Vielfraß wieder, wie damals, vor die Türe setzen würde.

    Es schellte und die Hexe befahl mir, die Haustüre zu öffnen. Noch bevor ich an der Türe war, wurde schon wieder geschellt. Niemand öffnete so einfach eine Türe, wenn es schellte. Ich auch nicht. Ich öffnete erst das kleine Sichtfenster in der Türe, um zu sehen, wer davor stand. Drei uniformierte englische Soldaten verlangten ins Haus gelassen zu werden. Ich öffnete und hatte ein sehr ungutes Gefühl in der Magengegend. In deutscher Sprache, die kein bisschen ausländisch klang, ordnete der Soldat eine Hausdurchsuchung an.

    Vater war nicht im Haus. Die Hexe gab sich alle Mühe, die Hausdurchsuchung zu verhindern. „Das ist die Wohnung eines politisch Verfolgten und seiner jüdischen Kinder. Geht das denn schon wieder los?, schimpfte sie. „Sie sollten sich schämen. Mein Bruder wird sich bei der Militärregierung über Sie beschweren, keifte sie und versuchte, die Soldaten aus dem Haus zu drücken. Sie konnte drücken und schieben wie sie wollte, die Soldaten lachten nur und bewegten sich keinen Zentimeter. Seelenruhig sagte der, der so gut deutsch sprach: „Und ich lasse Sie auf der Stelle festnehmen, wenn Sie uns behindern. Er winkte den anderen Soldaten, öffnete die erste Türe, die er fand und stieg mit den Männern die Kellertreppe hinunter. Mir wurde ganz schummerig. Mit vollen Armen kamen sie wieder hoch und brachten die Pakete, Kisten, Dosen und alles Eingemachte – unseren ganzen Schatz – nach und nach auf einem Mannschaftswagen, der vor dem Haus stand. Der Fahrer saß in dem Wagen und hinderte die Hexe mit körperlicher Gewalt daran, sich wieder etwas von dem Wagen zu holen. Ihre Stimmung schlug plötzlich um. Sie brüllte den deutsch sprechenden Soldaten an: „Diese Judenlümmel hier, sie wies auf Heini und mich, „die sind an allem schuld. Die haben das ganze Zeug geklaut und angeschleppt. Weiß der Himmel, wo sie das alles geklaut haben. Die können sie gleich mitnehmen, das Judenpack. Der Vater von denen ist auch schuld. Jeden Tag hat er die beiden zum Klauen losgeschickt. Er hat das alles im Keller verstaut."

    Der Soldat schien taub zu sein. Ich suchte nach einer Möglichkeit zur Flucht. Ohne Heini? Unmöglich! In meinen fieberhaften Gedanken, wem wir diese plötzliche Hausdurchsuchung wohl zu verdanken hatten, fuhr mir die Hand des deutsch sprechenden Soldaten durch die Haare. „Keine Angst, Junge, du und dein Bruder, habt nichts zu befürchten. Er nahm die Hand aus meinem Haar und stemmte sie auf seine Hüften. Er sah mich an und meinte lächelnd: „Du und dein Bruder, ihr seid also Judenkinder?

    Ich war sauer und wütend und sagte: „Meine Schwester da drinnen im Wohnzimmer auch." Der Soldat nickte ein paar Mal und stieg dann mit seinen Männern in das beladene Fahrzeug und sie fuhren los.

    Scheiße, Scheiße, Scheiße! Echte Mordgedanken rasten mir durch den Kopf. Wenn ich nur gewusst hätte, wem meine Wut galt. Schon sehr bald wurde mir klar, wir waren wieder so arm wie vor der ‚Fügung des Himmels‘ und ich malte mir aus, wie wütend Vater sein würde, wenn er nach Hause kommen würde. Alle schönen Träume vom besseren Leben und vom Tauschhandel zerplatzt. Ich setzte mich wieder in den Liegestuhl auf der Veranda. Heini war oben im Schlafzimmer. Die Hexe rief mir zu: „Mach, dass du in die Trümmer kommst und komme ja nicht ohne Holz zurück."

    Ich dachte gar nicht daran, jetzt Holz zu suchen. „Leck mich am Arsch, alte Hexe", rief ich zur Wohnung hin und blieb sitzen. Sie brüllte ihren Mann an, er solle mich verprügeln. Als der Vielfraß auf mich zu kam, sprang ich blitzschnell aus dem Liegestuhl. Aber der Mann sah mich nur an und schüttelte den Kopf. Hätte er versucht mich zu schlagen, ich hätte ihm so zwischen die Beine getreten, dass ihm garantiert die Lust vergangen wäre. Kein Mensch schlägt mich jemals wieder ungestraft. Das hatte ich mir am Tag der Befreiung durch die Amerikaner in Belgien geschworen. Noch eine ganze Weile würden meine Kräfte nicht ausreichen, einen Erwachsenen zu verprügeln. Aber der Tag würde kommen. Ich hatte es geschworen.

    Trotzdem wusste ich mich zu wehren, wenn ich angegriffen wurde.

    Vater kam erst am Abend nach Hause. Onkel Vielfraß war schon von seinem Informationsgang zu dem Drachen zurück. Heini erzählte Vater wutentbrannt, wie die Hexe uns beide und auch ihn genannt und des Diebstahls bezichtigt hatte. Vater rastete völlig aus. Mit einem ungeheuren Faustschlag schlug er den Onkel bewusstlos. Griff sich seine Schwester im Genick und schleifte sie gewaltsam auf die Straße. Den noch stark benommenen Onkel prügelte er hinterher. „Lasst euch nie mehr hier blicken", brüllte er und donnerte die Haustüre zu. In mir waren nur Jubel und Freude. Nur unsere kleine Schwester schrie und weinte so fürchterlich, dass ich Angst um sie hatte. Verständlich. Sie kannte Vater kaum, uns gar nicht. Nicht einmal ihre leibliche Mama kannte sie. Sie kannte nur die Hexe und Onkel Vielfraß. Hatte die ganzen zehn Jahre ihres Lebens mit diesen Menschen, fern von uns allen gelebt. Und nun musste sie erleben, dass ihr ‚Papilein‘ die Menschen, die sie liebte, so gemein verprügelte. Es musste ein furchtbarer Schock für sie gewesen sein, zu dem noch hinzu kam, dass sie bei den fremden Brüdern bleiben musste. Sie kannte uns nicht, wir kannten sie nicht.

    Und Vater? Kaum war die Haustüre zugeschlagen, schien seine vorher so grenzenlose Wut verflogen zu sein. Sah ich recht oder trogen mich meine Augen. War ein Lächeln in seinem Gesicht gewesen? Ich glaubte wirklich, es gesehen zu haben.

    In dieser Nacht stand ich noch lange an unserem offenen Schlafzimmerfenster, das im Hinterhaus zum Garten hinaus lag, und schaute in den mondhellen Ausschnitt des Sternenhimmels. Ich hatte mit Heini reden wollen, aber der hatte sich zur Wand gedreht und mich angeblafft: „Lass mich bloß mit der verdammten Familienscheiße in Ruhe. Ich will davon nichts hören und nichts wissen. Wenn die verdammten Weiber uns wieder irgendwohin abschieben wollen, bringe ich sie alle um. Er drehte sich zu mir, setzte sich im Bett auf und sagte, die rechte Hand zum Schwur erhoben, „So wahr ich der liebe kleine Heinemann bin. Ich bringe sie alle um! Ich kannte meinen kleinen Bruder mit allen Schattierungen seines Charakters. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er seinen Schwur wahr machen würde.

    Nicht nur der sommerlichen Wärme wegen, sondern weil ich nicht schlafen konnte, hatte ich mich ans Fenster gestellt, dachte an Mama und an meine geliebte Oma, der ich versprochen hatte, nichts von dem, was geschehen ist und geschehen würde zu vergessen und darüber zu berichten. Ich hatte nichts vergessen. Alle die grausamen Erinnerungen waren da. Waren jederzeit da. Auch auf meinem Baum und nachts, wenn die Albträume kamen und ich schweißnass aufwachte. Es gab kein Entrinnen, kein Vergessen. Wahrscheinlich aber auch keine Rache.

    Aber es gab Hass. Abgrundtiefen, bösen Hass!

    Am Tag darauf blieb Vater zu Hause. Es schien ihm nichts auszumachen, dass unsere wertvollen Vorräte beschlagnahmt worden waren. Er schien auch keine Angst vor einer Verhaftung oder einer ähnlichen Maßnahme der Militärregierung zu haben. Er schien in keiner Weise beunruhigt zu sein. Ihn zu fragen, war zwecklos. Er hätte mir doch nur eine dumme Antwort gegeben. Dabei wäre einfacher für mich gewesen, Bescheid zu wissen, wie er mit dieser Situation umzugehen gedachte. Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Was, wenn die Soldaten wiederkamen und ihn verhafteten und uns mit. Waren wir nicht schuldig, geplündert zu haben? Er machte sich, so wie es aussah, keine Gedanken darüber. Er hatte sich in den Liegestuhl auf die Veranda gelegt und eine

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