Vier Sommer lang
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Buchvorschau
Vier Sommer lang - Anne Kristin Woeller
schützen.«
Sommer 1941
Die ›Schenke‹ war die einzige Gastwirtschaft im Dorf. Das Haus war ein altes Fachwerkhaus, dessen dunkle Balken in diesen schweren Zeiten auf die Gemüter der Menschen drückte. Ein Radio stand auf dem Tresen und meldete die neuesten Nachrichten. Man versammelte sich um einen großen, langen Tisch und lauschte gebannt, bis die Worte ›Möge Gott Sie schützen‹ gesprochen wurden. Man wusste, dass diese Nachrichten zum moralischen Aufbau der Truppen und Daheimgebliebenen gesendet wurden und nichts mit der Wahrheit mehr zu tun hatten. Wollte man aber die Wahrheit überhaupt hören? Hatte man nicht genug eigene Sorgen, sein tägliches Brot zu verdienen? War Stillsitzen die beste Variante oder sollte man aktiv werden? Was genau fand wirklich statt außerhalb der Dorfgrenzen, hinter dem Wald, über den Hügeln drüber, weit hinter dem Horizont? Bis tief in die Abendstunden wurde am Stammtisch in der Schenke diskutiert. Die Meinungen waren nicht nur gespalten, es entstanden sogar richtige Feindschaften zwischen ehemaligen Freunden.
* * *
»Was können wir hier schon ausrichten? Und in den Städten kennen wir uns nich‘ aus, weder da, noch in der Politik! Was sollen wir einfachen Leut‘ schon machen? Wir sind Landwirte und keine Politiker.«
»Wir hatten auch im Ersten Weltkrieg immer was zu essen, weil wir‘s uns selber anbauen. Damals sind die Leute aus den Städten zu uns gekommen, um zu überleben. Und jetzt haben wir wieder Krieg. Für uns is‘ dieser aber weit weg, in den Städten und in anderen Ländern! Was schert uns das alles, solange wir unsere Felder bestellen können!«
»Wenn wir den Krieg verlieren, dann können wir unsre Felder nicht mehr bestellen! Dann kommen andere, die Anspruch auf dein Feld erheben.«
»Wer hat denn diesen Krieg angefangen?«
»Na die Nazis.«
»Und was haben die mit meinen Kartoffeln zu tun?«
»Wir sind nun mal keine kleinen Volksstämme mehr wie vor 1000 Jahren. Wir sind ein Teil unserer Nation und haben gewisse Pflichten unserer Regierung gegenüber!«
»Auf die Pflicht, mich zu bewaffnen und die Kartoffelfelder der Polen zu zerstören, kann ich gerne verzichten!«
»Aber du musst deinen eigenen Acker verteidigen!«
»Aber wieso denn, die Deutschen haben den anderen zuerst die Felder verwüstet! Wieso das alles?«
»Früher oder später hätten die uns auch den Krieg erklärt. Egal wer angefangen hat, es wäre immer zum Krieg gekommen!«
»Kannst du dir da sicher sein? Haben wir nich‘ aus dem Ersten Weltkrieg, wenigstens ein bisschen, gelernt?«
»Willst du, dass die Russen uns überrennen? Willst du, dass sie dir deine Felder wegnehmen?«
»Das hatten sie doch gar nich‘ vor! Aber nachdem sie von uns überrannt wurden, wird die Welle der Gewalt irgendwann auf uns zurückschwappen.«
»Nicht, wenn wir sie vorher vernichten!«
»Das hat im Ersten Weltkrieg auch nicht geklappt! Das hat in der ganzen Geschichte noch nie geklappt.
Selbst Napoleon hat sich an den Russen die Zähne ausgebissen und seine Truppen im russischen Winter verloren.«
»Aber diesmal sind wir besser vorbereitet!«
»Sind wir das? Kannst du mit eindeutiger Gewissheit sagen, dass wir diesmal besser sein werden? Darf ich dich daran erinnern, dass wir bereits Kinder in den Krieg schicken? Darf ich dich daran erinnern, dass wir unsere Stärke im Ersten Weltkrieg maßgeblich überschätzt und den Feind unterschätzt haben? Glaubst du, das ist jetzt anders?«
»Krieg wird geführt, um von anderen politischen Problemen abzulenken. Das war schon immer so. Und Gott möge uns helfen, dass dies nicht so bleiben wird. Wann lernt der Mensch aus seinen Fehlern?«
Solch hitzige Diskussionen wurden fast jeden Abend in der Schenke geführt. Bis eines Tages der Bauer, der sich um seinen Kartoffelacker sorgte, nicht mehr in die Schenke kam. Man wunderte sich erst nur ein wenig. Dann machte man sich aber doch ernsthafte Sorgen.
Als man jemanden auf seinen Aussiedlerhof schickte, stellte der Späher fest, dass dieser verlassen war. Fremde Leute waren plötzlich im Dorf unterwegs. Sie grüßten mit einem steifen Soldatengruß und man munkelte, sie hätten den Kartoffelbauern einkassiert, mit Haus und Hof, den jetzt ein Fremder führte. Der neue Bauer stellte sich als parteitreuer Vetter des Kartoffelbauern vor. Dieser sei nach Berlin gegangen, um dort für sein Vaterland zu kämpfen. Er übernehme so lange den Hof. Sehr parteitreu und zutiefst unsympathisch saß der Fremde nun auf dem Platz am langen, großen Tisch in der Gastwirtschaft ›Zur Schenke‹, seiner selbst stets bewusst und voller Tatendrang die Lebensweise der Einheimischen zu erforschen, zu beeinflussen und eventuelle defätistische Reden sofort zu melden. Aufgrund der vielen Fremden wurde nicht mehr so hitzig diskutiert. Man schwieg und ging seinem gewohnten Alltag nach.
* * *
Die große Unruhe in Gorsleben begann mit der Meldepflicht der jüdischen Einwohner. Jeder mit jüdischer Abstammung sollte sich bei einer offiziellen Einrichtung melden. Dort wurden sie auf eine Liste gesetzt und verhört. Anfangs ignorierten die jüdischen Einwohner des kleinen Dorfes diesen Befehl. Was noch geschehen sollte, konnte damals keiner ahnen.
* * *
Margarete hatte in diesem Sommer ihren Martin Engel geheiratet. Sie wohnte weiterhin im Haus in der Reichengasse 16. Ins Rathaus oder zur Kirche gingen sie nur selten. Margaretes Religion war in den Schönheiten der Natur zu finden. Sie sah Gott in jedem seiner Geschöpfe und betete, wenn sie doch mal in die Kirche ging, zu diesem bedingungslos liebenden Gott. Martin, ihr Ehemann, hielt es ähnlich mit der Religion.
»Nicht jeder Pfarrer lehrt die Worte in der Bibel richtig. Es gibt viele Anschauungsweisen. Wir leben alle auf demselben Planeten, aber jeder hat einen anderen Blickwinkel auf seine Welt. Und jeder Blickwinkel ist für seinen Betrachter richtig, solange er aus der bedingungslosen Liebe kommt.«
Margarete führte zusammen mit ihrem Mann Martin eine Gemüsefabrik. Man bewunderte die junge, erfolgreiche Frau und ihren überaus liebenswerten Mann. In den Sommermonaten arbeiteten die meisten Einwohner des Dorfes in der Fabrik selbst oder auf den Feldern für die Firma Engel GmbH und Co KG. Margarete teilte den Gewinn, den die Firma brachte, immer mit ihren Angestellten und deren Familien. Sie hielt nur so viel zurück, wie sie für sich und ihren Mann brauchte, um ein schönes Leben zu führen.
»Ein gemütliches Bett am Abend und tagsüber eine gute warme Mahlzeit, fröhliche Arbeiter im Hof, die mit einem Lächeln zu uns kommen, das ist das, was ich will und für meine Firma brauche.«
Das war stets ihr Leitsatz und immer wichtiger als die materiellen Dinge, die man mit Geld kaufen konnte. Margarete hielt sich von großen Festlichkeiten, zu denen die örtliche Parteiführung einlud, meistens fern. Sie achtete