Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens
Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens
Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens
eBook260 Seiten3 Stunden

Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Wir Kinder des Grauens" begann als eine schonungslose Abrechnung mit mir und meinen Traumata. Damit wurde es aber auch eine Erzählung über das Leben der Frauen im 20. Jahrhundert. Lohnt es sich, ein ganzes Leben zu opfern, um von sich selbst und seiner Lebensangst befreit zu werden? Es lohnt sich! Ich habe Menschen sterben gesehen, die haben alle Lügen Ihres Lebens mit ins Grab genommen. Sie haben mein tiefstes Mitleid. Ich möchte mit keinem von ihnen tauschen. Die Schönheit des Lebens liegt nicht im Nichtstun, sondern im Bessertun.
"Wir Kinder des Grauens" handelt von den größten Niederlagen meines Lebens. Ich musste bei einer totalen Auslöschung meiner Existenz anlangen, um noch einmal von vorne anfangen zu können. Das aber habe ich mit allen Menschen gemeinsam, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Nichts standen und aus dem Nichts ein neues Leben aufbauen mussten.
Doch wie man aus dem Nichts ein neues Leben aufbaut, davon handelt das dritte Buch von "Silvaplana Blue", "Masken göttlicher Heiterkeit". In "Wir Kinder des Grauens" gehe ich nur eine Stufe nach der anderen in die totale Vernichtung.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Dez. 2014
ISBN9783737524858
Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

Mehr von Heide Fritsche lesen

Ähnlich wie Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

Ähnliche E-Books

Biografien – Geschichte für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens - Heide Fritsche

    Kapitel 1

    Silvaplana Blue II

    -

    Wir Kinder des Grauens

    Heide Fritsche

    Kapitel 2

    Inhaltsverzeichnis

    Die Flucht

    Deutschlands letzte Verteidiger

    Ingeborg

    Das Schönfelder Militärgefängnis

    Angstpsychosen

    Sucht

    Kreuzberger Nächte sind lang

    Überleben

    Berliner Bürgerinitiative

    Norwegen

    Die Schuldzuweisung

    Die Flucht

    Die Flucht

    I.

    Der totale Krieg ist der totale Blödsinn.", sagte Goebbels im September 1944 zum Reichsarbeitsminister Konstantin Hierl. Es war manchmal viel Wahrheit in seinen Worten, so phantastisch sie sich anhörten.

    Der totale Blödsinn war die totale Zerstörung aller ethischen Werte, aller Zivilisation und aller Menschlichkeit.

    Wir sind die Kinder der totalen Zerstörung. Wir sind die Erben des totalen Wahnsinns.

    II.

    Wir, die Kinder des Krieges, wurden in der Hölle geboren. Diese Hölle war Morden auf Befehl. Morden wurde zur Routine. Morden war ein Job. Der Mord gehörte zur Tagesordnung. Gemordet wurde mit Taktik und Raffinesse. Gemordet wurde als Strategie. Gemordet wurde mit einem Federstrich. Gemordet wurde aus Lust, Liebe, Langeweile, Rache, Größenwahn und Angst. Gemordet wurde im Rausch. Gemordet wurde in der Gleichgültigkeit der abgestumpften Seele.

    Wir sind die Kinder der Ermordeten. Wir sind die Kinder des Grauens. Das ist unser Erbe. Das ist unsere Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit hat viele Facetten.

    Wie weit geht unser Bewusstsein? Es reicht so weit, wie wir diese Facetten erfassen, erkennen und begreifen können. Aber dieses Begreifen wird blockiert vom Entsetzen. Dieses Begreifen ist verschüttet unter Traumata.

    Denn der Zweite Weltkrieg war in Deutschland am achten Mai 1945 noch lange nicht zu ende. In Westdeutschland wurde weiter gebombt. In Ostdeutschland herrschte der Terror des Mordens. Wohin wir Kinder des Krieges kamen, kamen wir in ein zynisches Morden, das sich selber feierte und mit Orden schmückte.

    Unser Erbe waren Angst, Hunger und Not. Unsere Eltern waren physisch tot oder sie waren seelisch tot, sie waren ermordet oder sie waren für den Rest ihres Lebens auf der Flucht vor sich selber und ihren Erinnerungen.

    Unsere Wirklichkeit war die verkrüppelte Seele der Sieger. Der Sieger schmückte sich mit seinen Morden. Der Sieger kultivierte seinen Hass. Der Sieger veredelte das Blut an seinen Händen mit Siegesparaden, Ehrensaluts, Medaillen, Denkmälern und großen Worten.

    Um diesen Blutrausch, Siegesrausch, Plünderungsrausch und Mordrausch zu rechtfertigen, wurde mit großen Worten der Spieß umgekehrt, jetzt wurden alle zu Opfern erklärt – Opfer der Nazis. Laut Propaganda der Sieger waren alle Deutschen Nazis. Der Witz funktioniert auch heute noch. Wir, die Kinder des Krieges, wurden in dieser Rechnung vergessen. Entweder gibt es uns nicht oder wir sind auch Nazis. Das ist durch die genetische Anlage bedingt, sagt der Sieger.

    Damit wurde unsere Zukunft zum Schmutz, den sich der Sieger aus seiner Seele grub, um seine eigene Schuld zu vertuschen, um sie immer wieder auf „DIE Deutschen zu schmeißen. Sie waren das große Übel der Welt. Sie waren der Satan, die Inkarnation des Bösen. Das Böse, sprich die „Deutschen musste man mit allen Wurzeln ausrotten und vernichten. Das wurde in Teheran, Jalta und Potsdam schriftlich formuliert. Europa sollte, nein Europa musste von allem, was deutsch war, gereinigt werden. Deutschland wurde mit Papier und Tinte ausradiert. Danach gab es Deutschland nicht mehr, also konnte man auch keine Deutsche ermorden. Was es per Definition nicht gibt, kann man auch nicht umbringen. Die Millionen, die auf den Fluchtwegen starben, waren Dreck, den man mit den Füssen wegtrat.

    Wir wurden im Trauma des Mordens geboren. Wir wuchsen im Trauma des Grauens auf. Jetzt feiern wir mit Fahnen und Trompeten den fünfzigsten, sechzigsten, siebzigsten … hundertsten Jubiläumstag unseres Grauens und unserer Traumata.

    III.

    Wo warst du Adam?", fragte Heinrich Böll. Adam war im Krieg. Wo war ich? Ich lag in Bochum unter den Terrorbomben der Engländer und lutschte am Daumen.

    Wo war meine Mutter? Sie lief in den Kessel der russischen Armee hinein. Ich fragte sie:

    Was geschah, als die Russen kamen?"

    Ach…", sie schwieg.

    Ich ließ nicht locker.

    Darüber kann man nicht sprechen.", sie stierte vor sich hin. Ich bohrte weiter:

    „Kannst du dich an gar nichts erinnern?"

    Ach … nein ….". Meine Mutter verschwand im Schweigen ihres eigenen Infernos.

    IV.

    Zu Weihnachten 1944 hatte meine Mutter Heimaturlaub. Am 2. Januar 1945 fuhr sie von Bochum nach Polen zurück. Sie sollte sich bei ihrer Dienststelle in Warta melden.

    Durch die Truppentransporte und die Flüchtlingsströme war die Situation auf den Zügen und Straßen chaotisch. Flüchtende Kinder und Frauen, Truppenverschiebungen, Kranken-, Verletzten- und Gefangenentransporte. Dieses Chaos von Menschen, Verzweiflung, Schmerzen und Tod hatte die Kanonen, Panzer und Gewehre der Russen hinter sich, die Bomben der Engländer und Amerikaner über sich, die Knute der Gestapo vor sich und Angst, Grauen und Entsetzen in sich.

    Meine Mutter kam am 12. Januar 1945 bis Kalisch. Auf dem Bahnhof in Kalisch kamen die letzten Züge aus Sieradz an. Die russische Armee war bereits in Warta. Eine Dienststelle gab es hier nicht mehr. Ihre nächste Dienststelle war Schützensorge bei Landsberg an der Warthe.

    Die Familie meines Vaters besaß seit Generationen einen Bauernhof in Schützensorge. Nach dem totalen Krieg war mein Vater für die Lebensmittelversorgung der Armee zuständig und meine Mutter für den Hof in Schützensorge.

    V.

    Vom 12. bis zum 30. Januar hatte die Rote Armee die gesamte deutsche Abwehrfront zerschlagen. Das Finale der Götterdämmerung des Dritten Reiches hatte begonnen: Die Marschälle Tscherniakowski und Rokossowski überrannten Ostpreußen, Marschall Zhukow den Warthegau und Marschall Konjew Schlesien.

    Am 31. Januar 1945 wurden Kämpfe bei Landsberg an der Warthe gemeldet. Die Rote Armee war jetzt bis Schützensorge vorgedrungen. Da lag der Hof meines Vaters. Eine russische Welle nach der anderen fegte über den Hof hinweg. Alle organisierte Verwaltung brach zusammen, auch das Transportwesen. Millionen von Menschen starben auf den Straßen und in den Wäldern. Das war eine Zerstörung, wie sie Europa niemals zuvor und die Welt niemals danach erlebt hat.

    Zerstört wurden in diesem Inferno nicht nur Häuser, Gebäude, Fabriken, Tiere und Äcker, zerstört wurden die Menschen. Alle Menschen, die in diese Hölle hinein kamen, wurden zerstört. Alle Menschen, die aus dieser Hölle heraus kamen, waren zerstört, Sieger wie Besiegte. Die einen verloren ihr Leben, die anderen verloren ihre Seele.

    Am 1. Februar wurde in Posen noch immer heftig gekämpft. Die Rote Armee sollte hier gestoppt werden. Trotzdem wurde der Tirschtiegel-Riegel von den Russen durchbrochen. Die Erste Weißrussische Front stieß bis zum Oder-Warthe-Riegel vor. Meseritz und Schwerin wurden genommen. Bei Küstrin wurde gekämpft.

    Mein Vater saß in der Festung Frankfurt an der Oder, vorläufig noch sicher.

    Am 2. Februar erstreckte sich der Kampf entlang der Oder von Nordosten bis nach Bischofssee. Nordwestlich ging die Rote Armee bei Zielenzig über die Oder.

    Die deutsche Zivilbevölkerung flüchtete vor dieser Maschinerie des Mordens. Der Flüchtlingsstrom ging in die Millionen. Er kam aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien. Allein aus Swinemünde wurden 40.000 bis 45.000 Flüchtlinge gemeldet.

    Posen, Graudenz und Breslau hatten sich noch nicht ergeben. Um Landsberg an der Warthe wurde gekämpft. Zhukows Einheiten waren dabei, sich im Oderbruch festzusetzen. Sie mussten versuchen, so schnell wie möglich über die Oder zu kommen. Wenn Tauwetter einsetzte, war die Oder ein schwieriges Hindernis, zu schwierig, um hier mit Panzern, schwerer Artillerie und Armeeeinheiten rüber zu kommen.

    Die Oder ist ein Urstrom. Je nach Widerstand und Wasserführung bahnt sie sich ihren Weg wie es gerade möglich ist. Einen festen Stromverlauf gibt es nicht, dafür aber mehrere Oder-Arme, kilometerweit Sumpfland und Überschwemmungen.

    Die Sümpfe zwischen der Oder und Berlin sollten die größte Katastrophe der Roten Armee werden.

    Die Wehrmacht hatte sich auf die andere Seite des Oderufers zurückgezogen. Die Rote Armee hatte sich im Oderbruch etabliert, auch in Schützensorge. In Landsberg an der Warthe wurde das russische Hauptquartier von Marschall Zhukow errichtet.

    In Schützensorge war die Familie meines Vaters auf dem Hof versammelt. Meine Mutter war auch da. Während mein Vater in Frankfurt an der Oder in der Falle saß, war draußen auf dem Lande die Bevölkerung der Willkür des Siegers ausgeliefert. Das ging stereotyp nach Schema: Tortur, Massenvergewaltigung, Mord und Tot.

    Goebbels schrie sich noch immer das Maul wund. Er forderte die Deutschen auf, gegen dieses Inferno stehen zu bleiben und sich in den ‚Heimatboden einzukrallen’."

    Den Deutschen blieb nicht einmal ein Grab, wo sie sich hätten festkrallen können.

    Goebbels sagte, wir müssen uns „Gegen diesen blutdurstigen und rachsüchtigen Feind ... mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen verteidigen, und mit einem Hass, der keine Grenzen kennt."

    Welche Mittel? Welchen Hass? Keiner wusste, wie viele Minuten, wie viele Sekunden er noch leben konnte. Keiner wusste, unter welchen unmenschlichen Qualen er sterben musste. Der Sieger kannte keine Gnade, kein Mitleid und keine Barmherzigkeit.

    VI.

    Was geschah mit meiner Mutter als die russische Armee über den Oderbruch hinweg rollte? Wo blieb sie, als sich Zhukow in Landsberg an der Warthe etablierte?

    Wo warst du als die Russen kamen?", fragte ich meine Mutter.

    Die Russen hielten mich für eine Polin.", sagte sie.

    Meine Mutter eine Polin? Ich habe nie ein einziges polnisches Wort von ihr gehört. Aber das kann Verdrängung gewesen sein. Was weiß ich? Wenig.

    Diese wenigen Informationen, die ich hatte, bekam ich von den Einwohnern von Warta. Als ich 1986 in Warta war, sprach mich eine Frau an:

    Ich habe ihre Mutter gekannt. Wir waren jeden Tag auf dem Hof. Wir waren vier Schwestern. Wir hatten keine Eltern mehr. Niemand kümmerte sich um uns. Meine älteste Schwester arbeitete auf dem Hof ihres Vaters in Warta. Sie war die beste Freundin von Hilde. Darum waren wir jeden Tag auf dem Hof. Hier bekamen wir zu essen. Hier haben wir überlebt. Als die SS kam und den Hof beschlagnahmte, mussten wir den Hof verlassen. Meine älteste Schwester kam als Dienstmädchen auf den Hof nach Schützensorge."

    Diese Schwester lebte 1986 in Posen. Sie schrieb mir, sie möchte meine Mutter gerne wiedersehen. Als ich den Brief bekam, war meine Mutter schon tot.

    Eine solche Freundschaft hält auch durch die schlimmsten Katastrophen. Als die sowjetische Armee nach Schützensorge kam, wurde meine Mutter wahrscheinlich von ihren polnischen Freunden aus Warta gedeckt und als Polin ausgegeben.

    Aber diese polnischen Mädchen hätten ihr keinen Job als Köchin im Hauptlager von Zhukows Armee verschaffen können. Diese polnischen Dienstmädchen waren für die Russen Material. Sie konnten ihren Dienst in den polnischen Streitkräften der russischen Armee verrichten. Doch mit Lügen über die Identität von Deutschen wären sie weder bei den Russen noch bei den Polen weit gekommen

    Meine Mutter wurde aber Köchin für die sowjetische Armee. Sie machte den Feldzug der Eroberung von Berlin auf russischer Seite mit. Das erzählte mir eine Rote Kreuz Schwester 1961 in Briesen/Mark.

    Ich war in den Ferien bei meinen Großeltern. Eines Tages kam eine mir unbekannte Dame zum Hause meines Großvaters. Sie wollte mich sprechen.

    Sie sehen genau wie ihre Mutter aus", sagte sie. Ich fühlte mich gar nicht geschmeichelt. Meine Mutter war kein Vorbild für mich. Derartige Gleichsetzungen beleidigten mich empfindlich. Außerdem war dies eine Zeit, wo ich schon dabei war, alle Verbindungen zu meiner Mutter abzubrechen. Aber das ging niemanden etwas an. Darüber sprach ich nicht. Ich wollte mich schnellsten von dieser Dame verabschieden. Ich stand auf, um zu gehen, da sprach die Dame hastig weiter:

    Ich habe ihre Mutter gekannt. Sie hat uns das Leben gerettet. Ich war als Rote Kreuz Schwester für ein Flüchtlingslager verantwortlich. Ihre Mutter war in Landsberg an der Warthe Köchin für die russischen Soldaten. Jeden Abend hat sie alle Essensreste in Papier eingepackt und am Lagerzaun eingegraben. Nachts haben wir von der anderen Seite einen Tunnel gegraben und uns diese Essensreste herausgeholt. Das war in Wochen und Monaten das einzige Essen, das wir hatten. Damit haben wir überleben können."

    Wie und warum wurde meine Mutter Köchin in Zhukows Armee in Landsberg an der Warthe? Es ist möglich, dass meine Mutter in Schützensorge die Überlebenden der polnischen Heimatarmee wieder fand. Mit denen hatte sie jahrelang in Warta kollaboriert.

    Tante Ingeborg, die dritte Frau meines Vaters, sagte verächtlich: „Sie lebte mit einem Russen zusammen."

    Einem Offizier, sagte sie mir."

    Ach was, das soll ein ganz gemeiner Soldat gewesen sein, sagt dein Vater."

    Möglicherweise war dieser „ganz gemeine Soldat" ein Mitglied der polnischen Heimatarmee, den sie schon von Warta her kannte. Ihr Haus in Warta war das Hauptquartier des polnischen Widerstands gewesen.

    Ich wurde in Warta in der Bruchstraße Nummer eins geboren. 1986 hatte ich auf meiner Reise nach Warta ein Bild von diesem Haus bei mir. Ich habe die Einwohner gefragt, was sie mir hiervon erzählen konnten. Die einzigen Informationen, die ich bekam, waren verlegende Bemerkungen:

    Das war das Hauptquartier des polnischen Widerstands." Die Frauen flüsterten. Die Angst schnürte ihnen noch immer die Kehle zu.

    Da hauste der Widerstand." Die Blicke streiften verlegen nach rechts und links. Hoffentlich hörte das niemand.

    Ach das da, da wohnte ein Russe." Das war von einer wegwerfenden Handbewegung begleitet. An solche Dinge zu rühren war unbehaglich und peinlich.

    Der Abstand zwischen dem Haus in der Bruchstraße Nummer eins und dem Hauptportal der Psychiatrischen Anstalt aus der deutschen Besatzungszeit betrug kaum fünfzig Meter. Dieses Hauptportal wurde von der SS bewacht. Zwischen der SS und der Bruchstraße Nummer eins waren keine Sträucher und Bäume. Die SS hatte damit über dieses Grundstück eine totale Aufsicht und Kontrolle – glaubte sie.

    Dass sich hier das Hauptquartier des polnischen Widerstands etabliert hatte, direkt vor den Augen der SS, soviel Frechheit hatten nicht einmal Himmlers Schergen für möglich gehalten!

    Um zu verstehen, warum meine Mutter als Polin in Zhukows Armee integriert werden konnte, muss man die Geschichte der polnischen Widerstandsbewegung kennen.

    VII.

    Die Geschichte des polnischen Widerstands ist eine Tragödie. Am 1. September 1939 wurde Polen von deutschen Truppen besetzt. Am 27. September 1939 gründete eine Gruppe von polnischen Offizieren unter General Korasievicz-Tokarzewski die „Polnische Sieges Partei". Der Kampf sollte im Untergrund fortgesetzt werden.

    Im November 1939 wurde von der neuen polnischen Exilregierung in London die „Union des bewaffneten Kampfes gegründet. Diese beiden Organisationen waren die Grundlage der polnischen Widerstandsbewegung, der „Armia Krajowa.

    Die „Armia Krajowa wurde durch rechtsgerichtete Gruppen verstärkt. Dazu gehörten die „Nationale bewaffnete Streitmacht, die Nationale Militär Organisation und der ehemalige polnische Pfadfinderverein. Die Pfadfinder formten einen eigenen geheimen Sturm-Trupp. Außerdem gab es eine kommunistisch geleitete polnische Widerstandsgruppe, die „Gwardia Ludowa".

    Mehr als fünfundsiebzig Prozent der Widerstandsgruppen gehörten zur „Armia Krajowa, zur polnischen Heimatarmee. Die Heimatarmee hatte zusammen mit den Bauernbataillonen vierhundert Tausend Mitglieder. Sie bildete damit die absolute Mehrheit. Die „Gwardia Ludowa war verschwindend klein und unbedeutend. Zusammen mit den kleineren Widerstandsverbänden und Partisanengruppen kontrollierte sie über zehntausend Mann.

    Die „Gwardia Ludowa war in Großstädten etabliert. Unterstützung hatte sie bei den Arbeitern. Auf dem Lande hatte die kommunistische Widerstandsbewegung keine sicheren Zufluchtsorte. Sie war hier nicht repräsentiert. Darum ist es unwahrscheinlich, dass die „Gwardia Ludowa ihren Hauptsitz in Warta hatte, denn Warta war und ist ein kleines verschlafenes Städtchen auf dem Lande. Das war kein Milieu für die „Gwardia Ludowa".

    Warta lag abseits von den großen Truppentransportwegen nach Warschau und zur Ostfront. Die waren gut bewacht. Hier hatte die deutsche Armee eine totale Kontrolle. Demgegenüber lag Warta strategisch günstig zwischen den großen Truppenansammlungen der SS wie dem Hauptquartiert der SS in Posen, dem Auffanglager der SS in Zdunska Wola und den großen Konzentrationslager von Lódz, Warschau und Konin. Von Warta aus konnte man über das Flüsschen die Warthe kleine, halb zugewachsenen Wasserwege erreichen. Dieses Wasserwegsystem ermöglichte eine geschützte und von den von Deutschen kontrollierten Straßen unabhängige Verbindung nach Posen und Warschau.

    Das Haus in der Bruchstraße Nummer eins lag nicht einmal zweihundert Meter von der Warthe entfernt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die „Armia Krajowa" ihr Hauptquartiert in Warta in der Bruchstraße Nummer eins.

    Die Heimatarmee vertrat in Polen die konstitutionelle Exilregierung in London. Das galt sowohl für das Generalgouvernement als auch für die Reichsgaue. Von London und Washington wurden sie aufgefordert, mit Moskau zusammen zu arbeiten. Moskau weigerte sich, ihre Existenz überhaupt anzuerkennen. Eine Zusammenarbeit war unter solchen Bedingungen unmöglich. Das führte zu katastrophalen Niederlagen für die Heimatarmee.

    Am 4. Januar 1944 marschierte die Rote Armee in Wolhynien ein. Die Wehrmacht war im Rückzug. Hier begann die Befreiung Polens. Aber die Sowjetunion betrachtete Wolhynien als sowjetisches Eigentum, denn im November 1943 war auf der Konferenz in Teheran Europa in Ost und West eingeteilt worden. West- und Süd-Europa fielen unter angloamerikanischen Einfluss und Ost-Europa unter russischen. Ganz Ost-Europa schwamm in einem politischen Vakuum. Polen fiel unter russische Okkupation und Kontrolle. Polen gab es per Definition nicht mehr. Die polnische Exilregierung in London wurde hierüber nicht informiert.

    Als die Rote Armee in Polen einmarschierte, hatte sie eine eigene polnische Regierung mitgebracht. Sie war nicht von den Polen gewählt. Sie hatte keine Verbindung mit der Exilregierung in London. Diese Regierung war von den Sowjets zusammengesetzt und ernannt worden. Das waren Schaufensterpuppen für die sowjetische Machtübernahme.

    1939 hatten die Engländer und Franzosen den Krieg an Deutschland erklärt, weil die Deutschen Polen überfallen hatten. Die Engländer und Franzosen kamen ihren polnischen Freunden zur Hilfe. Sie wollten Polen verteidigen. Das wurde über alle Medien in den Äther trompetet.

    Zum Schluss führten die Engländer und Amerikaner den Krieg um des Krieges willen. Zum Schluss wollten sie die absolute Vernichtung, wollte sie Opfer, Rache und Vergeltung. So wurde es in alle

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1