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Die Schandmauer: Berliner Geschichten
Die Schandmauer: Berliner Geschichten
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eBook246 Seiten3 Stunden

Die Schandmauer: Berliner Geschichten

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Über dieses E-Book

Berlin war total zerstört. Es wurde von den Engländern Ruinen gelegt, von den Russen ausgeplündert und von aller Welt verraten und vergessen. Wir träumen immer nur von Berlins Glanz und Gloria. Aber Berlins Gloria liegt in seinen Toten. Jetzt senkt sich der Staub darüber. Die Handlung spielt in Berlin in den Jahren 1960 bis 1963. Im Mittelpunkt der Handlung stehen die Ereignisse am 13. August 1961 in Berlin. Diese Ereignisse sind mit den Schicksalen von vier Mädchen verbunden. Diese Mädchen sind Irene, Susanne, Lilly und Rita verbunden. Sie wurden in den Jahren von 1941 bis 1945 geboren wurden. Sie repräsentieren die Nachkriegsgeneration. "Die Schandmauer" ist die Geschichte Berlins und Deutschlands. "Die Schandmauer" ist aber auch die Geschichte dieser Kriegs- und Nachkriegsgeneration.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Dez. 2014
ISBN9783737522908
Die Schandmauer: Berliner Geschichten

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    Buchvorschau

    Die Schandmauer - Heide Fritsche

    Die fünfziger Jahre

    Anfang der sechziger Jahre war der Kalte Krieg auf dem kältesten Tiefpunkt angelangt. In Berlin war der Kalte Krieg noch kälter, er lag unterm Gefrierpunkt. Berlin unterlag dem Viermächteabkommen. Diese Viermächte waren die Russen, die Amerikaner, die Engländer und die Franzosen. Laut Abkommen bestimmten ein Kontrollrat dieser vier Mächte, was man in Berlin tun durfte und was nicht. Aber so einfach war das nun auch nicht, denn die Russen glaubten, sie hätten prinzipiell mehr zu sagen als die Amerikaner, die Engländer und Franzosen zusammen. Die Amerikaner scherten sich einen Teufel darum, was die Russen meinten. Die Engländer richteten sich nach dem, was die Amerikaner ihnen sagten. Die Franzosen existierten nur, wenn man ihre Unterschrift für ein Memorandum brauchte.

    Deutschland gab es zu dieser Zeit nicht mehr. Dafür hatte man eine Ostzone und eine Westzone erfunden. Die Ostzone war die Sowjetzone. Sie wurde auch die Deutsche Demokratische Republik genannt. Was hier „Deutsch war, was „demokratisch genannt wurde und wie eine „Republik" aussah, bestimmte Moskau. In dieser von den Russen okkupierten Zone war der Krieg noch lange nicht zu Ende, denn noch immer diktierten Lebensmittelknappheit, Materialknappheit, Stromausfall und Zensur den Alltag der Menschen. Statt Gestapo herrschte jetzt in der Ostzone der Staatssicherheitsdienst. Im Volksmund wurde er Stasi genannt.

    Aus den okkupierten Gebieten der Amerikaner, Engländer und Franzosen entwickelte sich langsam eine Bundesrepublik. Das wurde der Westen genannt. Der Westen war Wirtschaftswunder, Neonreklame und Wohlstandsspeck. Der Osten war grau und verarmt und von den Russen total ausgeplündert.

    Diese Koexistenz der stärksten Militärmächte der Welt, die auf den Raum einer Großstadt zusammen gepresst waren, musste notgedrungen zu Konfrontationen führen. Diese Konfrontationen wurden verbal ausgetragen. Darum nannte man diese Kriegsführung den „Kalten Krieg". Im Kalten Krieg operierte man mit verbalen Kanonaden und Schlagwörtern. Ost wurde gegen West ausgespielt. Die Welt zerfiel in Nord und Süd und in Arm und Reich. Schuld daran war der Kommunismus, schrie die eine Seite. Schuld daran war der Kapitalismus, schrie die andere Seite. Propaganda, Desinformationen und Diplomatie wurden auf dem tiefsten intellektuellen Niveau geführt. Man griff den Gegnern mit diplomatischen Witzen und Kalauern an.

    Ansonsten gehrte es überall auf der Welt. Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende, da begannen schon unzählige neue Kriege. Erst wurde Korea rot. Das musste verhindert werden. Dann ließen sich die Vereinten Staaten auf das Vietnam-Abenteuer ein, weil auch hier der Virus des Kommunismus die Gehirne zerfraß. Lateinamerika, Kuba und China revoltierten und revolutionierten aus dem gleichen Grund. Afrika versank in Korruption und Terrorismus. Daran ist der Westen Schuld, sagte Russland. Daran ist die Sowjetunion Schuld, sagte der Westen. Je kälter der Krieg in Berlin wurde, umso heißer wurde er in der restlichen Welt geführt.

    Neben dem Radio tauchte der Fernseher in der guten Stube auf. Krieg, Mord, Totschlag und alle Katastrophen der Welt wurden ein Teil des täglichen Lebens. Man goutierte das beim Mittagsessen und als Beruhigungspille vorm Schlafengehen. Alltag war das, was man jeden Tag vor der Nase hatte. Was man jeden Tag vor der Nase hatte, waren Lügen, dumme Witze, idiotische Anschuldigungen, Korruptionen und die Kriege der Großen. Das war die Normalität des Normalen. Das war die Beste aller Welten. Die Beste aller Welten wurde zum Supermarkt, wo jeder lernte, selektiv zu leben. Man fischte sich das aus dem Angebot heraus, was einem am besten schmeckte, was einem gerade in den Kram passte und was vom Geldbeutel akzeptiert wurde. So wurschtelte sich jeder durch.

    Besonders die Berliner entwickelten einen eigenen Pragmatismus. Man lebte den Umständen entsprechend. Man nahm die Dinge wie sie kamen. Die Berliner hatten zwei Weltkriege erlebt. Sie waren Zeugen der Morde, Überfälle und Kämpfe der Weimarer Republik. Sie ließen zwölf Jahre Hitlerdiktatur über sich ergehen. Die totale Zerstörung von Berlin von dem englischen Flächenbomberdement wurde phlegmatisch hingenommen. Berlin wurde von den Russen zur Plünderung freigegeben. In der Geschichte der Neuzeit gibt es kein Beispiel über ein derartiges barbarisches und viehisches Verbrechen an einer Großstadt. Damit prahlen die Russen. Die Frauen wurden zu Tode vergewaltigt. Keine Frau bekam dafür den Friedens-Nobelpreis. Die gesamte männliche Bevölkerung Berlins wurde nach Sibirien verschleppt. Niemand spricht darüber.

    Diese Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts haben in Berlin Spuren hinterlassen. Sie kreierten den speziellen Berliner Charakter. Man ließ die Großen die Großen sein. Hinter ihren großen Worten kam auch nur der kleine Schmutz zum Vorschein, wie sie Habgier und Größenwahn hervorbringen. Der kleine Mann auf den Straßen von Berlin war in seiner Gelassenheit immer noch grösser als alle großen Worte der Großen dieser Welt.

    Irene, Lilly, Susanne und Rita

    Es war Samstag, der 6. April 1960. In der Wohnung bei Schwitters in der Reichenberger Straße in Berlin waren vier Mädchen und zehn Jungen versammelt. Sie tranken, randalierten, sangen, diskutierten, lärmten und aßen, alles durcheinander und ohne Zusammenhang. Jeder sprach mit jedem. Alle sprachen gleichzeitig. Niemand hörte zu.

    Scotsch-Whisky! Ich nem Scotsch-Whisky. Wie habt ihr nich? Wieso habt ihr nich? Gibt’s doch gar nicht. Na hör mal."

    „Scotsch-Whisky? Nix für mich. Mir hat der Arzt alles verboten. Ich darf keine Wurst essen, keine Butter und keinen Zucker. Ich darf keinen Wein trinken. Aber Wodka, davon hat er nicht gesprochen. Wie? Ihr habt auch keinen Wodka? Ist doch die Höhe!"

    Mensch treib Sport." Walter boxt seinem Nachbarn in die Seite: „Warum treibst du keinen Sport?"

    Irene war auf die Idee gekommen, auf der Straße ein paar Jungen anzureden und einzuladen, einfach so. Man musste die Feste feiern, wie sie fallen. Die Eltern waren unterwegs, mal wieder, wie jedes Wochenende. Die Mädchen konnten tun und lassen, was sie wollten. Irene nahm Rita mit. Rita war Irenes Stiefschwester.

    Auf der Straße sprachen sie wildfremde Männer an. Irene konnte das ganz locker, so nebenbei, kühl und überlegen. Sie machte auf intellektuell. Das zog immer. Rita bewunderte Irene. Sie wollte gerne wie sie sein, konnte aber nicht. Sie hatte nicht den Schmiss, nicht das Aussehen und nicht dieses gewisse Etwas wie Irene. Die Männer flogen auf Irene. An einem Abend zehn fremde Männer einzuladen, war für Irene ein Kinderspiel.

    Rita wurde auf der Flucht geboren. Im Januar 1945 floh die Familie vor den Russen aus Schlesien. Die Familie hatte seit undenklichen Zeiten in Schlesien gewohnt. Früher war man einmal österreichisch gewesen. Seit dreihundert Jahren war man preußisch. Aber das spielte keine Rolle, ob man Österreicher oder Preuße war, das Leben ging weiter. Als jedoch die Russen kamen veränderte sich dieses „Laissez-faire". Alles, was deutsch war, wurde umgebracht. Das geschah methodisch. Das war in Teheran, Jalta und Potsdam geplant worden. Wer sein Leben retten wollte, musste fliehen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ritas Mutter starb nach der Geburt. Rita überlebte. Das Dorf hatte sich geschlossen auf die Flucht gemacht. Alle haben sich gegenseitig geholfen. Eine Nachbarin von Ritas Mutter hatte auch ein neugeborenes Kind. Sie konnte Rita die Brust geben. So überlebte Rita.

    Aber Rita wurde während der Flucht auf der Landstraße geboren. Es gab keinen Arzt und keine Hebamme, der bei der Geburt hätte helfen können. Es gab keine Desinfektionsmittel. Auf den hartgefrorenen Wegen vom Januar, Februar und März 1945 gab es auch keine Waschgelegenheit. Durch die primitiven Umstände ihrer Geburt wurde Rita das Rückgrat deformiert.

    Rita wollte gerne so extrovertiert agierend wie Irene sein, konnte aber nicht. Ihre körperlichen Probleme belasten sie und behinderten sie überall. Sie war fleißig und liebenswürdig und konnte keiner Fliege was zuleide tun. Aber ihre Zeugnisse lagen unter dem Klassendurchschnitt. Ist die Intelligenz genetisch bedingt oder wird sie durch die Umstände gefördert? Darüber streiten sich die Gelehrten. Aber die Entwicklung von Irene, Lilly, Susanne und Rita sprach eine eindeutige Sprache. Alle vier waren von Krieg, Nachkriegszeit und psychotischen Eltern beschädigt und belastet. Keines der Mädchen war vom Schicksal besonders privilegiert behandelt worden. Aber ihre Lebenswege waren sehr verschieden.

    Rita hatte niemals eine große Kariere gemacht. Sie war nach der Volksschule bei Karstadt am Hermannplatz als Lehrling eingestellt worden. Seit einem Jahr arbeitete sie hier im Verkauf.

    Ritas richtige Schwester war Susanne. Susanne war zwei Jahre älter als Rita. Sie wuchs in ihren ersten beiden Lebensjahren in Schlesien in glücklichen Familienverhältnissen auf. Von Natur aus war sie introvertiert. Sie sprach selten, sehr selten und dann auch nur, wenn sie ausdrücklich dazu aufgefordert wurde. Sie war immer im Hintergrund, schweigend. Susanne war eine graue Unscheinbarkeit. Trotzdem hatte sie mehr Glück als Rita. Beruflich ging es ihr glänzend und auch auf Männer wirkte sie anziehend, obwohl sie so schüchtern war.

    Susanne arbeitete seit drei Jahren als Friseurlehrling. Seitdem sie im Friseursalon arbeitete, färbte sie sich jede Woche ihre Haare in einer anderen Neonfarbe. Das gehörte zu ihrem Berufsimage. Außerdem behandelten sich die Friseusen gegenseitig gratis. Das war eine gute Reklame fürs Geschäft, ohne Zweifel. Gleichzeitig waren diese Friseusen auch Versuchskaninchen für alle chemischen Produkte und Farbstoffe, die im Wirtschaftswunderland tagtägliche neu auf den Markt geschmissen wurden. Darüber dachte niemand nach. Die Friseusen waren jung, unbeschwert und naiv. Sie bewunderten sich selbst mit immer neuen Farben in den großen Spiegeln der Salons. Sie waren die Welt von Morgen nach der verlorenen Generation der Kriegszeit. Sie repräsentierten die neue Zeit nach den grauen Mäusen der Arbeitsmaiden und Ruinenfrauen. Sie wollten genießen, in großen Zügen. Sie hatten aber nicht gelernt, dass alles einen Preis hat, auch der Luxus der neuen Welt.

    Ohne Zweifel machten diese lackierten, selbstleuchtenden Frisuren Susanne bunter. Mehr sichtbar wurde sie dadurch nicht. Aber ihre Kunden liebten sie. Tagein, tagaus hörte Susanne sich geduldig jedes Gewäsch und jeden Klatsch ihrer Kundinnen an. Sie störte nie mit unnützen Fragen. Sie kommentierte nichts. Sie gab keine Informationen weiter. Aller Kummer der Kundinnen, ihre kleinen und großen Geheimnisse, aller Klatsch und Tratsch, alle Informationen, Lügen und Desinformationen kamen nie über die Türschwelle des Friseursalons hinaus. Das wussten die Kundinnen zu schätzen. Susannes Wortkargheit verwandelte sich hier in reines Gold. Sie kassierte astronomische Trinkgelder.

    Als die Herrengesellschaft, die Irene und Rita auf der Straße aufgelesen hatte, in der Reichenberger Straße angeströmt kam, kroch Susanne in sich selber zusammen wie in einem Schneckenhaus. Mit den Frauen im Friseursalon konnte sie großartig auskommen. Sie lächelte, arbeitete fleißig, ließ die Frauen reden und alle waren ihr dankbar. Wie aber sollte sie sich gegenüber diesen Männern verhalten? Susanne setzte sich geduldig in eine Ecke. Sie wagte gar nichts anderes. Sie war fügsam und geduldig und wartete ab, was geschah. Ansonsten schwieg sie wie gewöhnlich. Sie neigte den Kopf nach unten. Wenn sie angesprochen wurde, stierte sie auf den Fußboden. Wenn sie jemand etwas fragte, schüttelte sie den Kopf oder sie nickte. Ansonsten brachte sie kein Wort hervor.

    Irene hatte eine Halbschwester. Sie hieß Lilly. Auch Lilly war an diesem Abend stumm. Auch sie sagte kein Wort, als zehn wildfremde Männer in der Reichenberger Straße anmarschiert kamen. Aber im Gegensatz zu Susanne war Lilly niemals fügsam und geduldig. Gleichgültig, in welche Situationen sie kam, so wartete sie ab, beobachtete, registrierte, was gesagt und gemacht wurde und dann handelte sie konsequent.

    Lilly war der Prügelknabe ihrer Mutter, Irene war ihr Liebling. Irene durfte die Realschule besuchen. Lilly musste arbeiten gehen. Das Geld, das sie verdiente, musste sie zu Hause abgeben. Sie könne in der Reichenberger Straße nicht gratis wohnen und essen, hatte ihre Mutter gesagt. Da war Lilly vierzehn Jahre alt.

    Lilly hat keinen Verstand.", sagte ihre Mutter. „Gymnasium? Ha, ha, ha! Das ich nicht lache! Ich schmeiße mein Geld nicht vor die Schweine. Die geht in die Fabrik. Die kann sich ihren Lebensunterhalt alleine verdienen. Das ist das einzig vernünftige, was sie zustande bringt. Bei mir hängt sie nicht herum. Ich unterstütze keine Faulenzer. Zu etwas anderem taugt dieses Flittchen ohnehin nicht."

    Seitdem Lilly vierzehn Jahre alt war, musste sie arbeiten. Zuerst war Lilly Saisonarbeiterin. Sie half beim Verkauf in Geschäften aus. Sie sprang überall ein, wo jemand gebraucht wurde. Im Haushalt helfen? Putzen? Kein Problem! Lilly sagte ja, immer und überall. Jeder Pfennig war willkommen. Alles, was sie nicht bei ihrer Mutter ablieferte, investierte sie in Kursen. Sie besuchte Stenografie-, Schreibmaschine- und Mathematikkurse, Englisch- und Französischkurse. Sie war jeden Abend unterwegs. Morgens um sieben Uhr ging Lilly aus dem Haus. Sie kam nachts um elf Uhr in die Reichenberger Straße zurück, legte sich ins Bett, schlief und verschwand früh morgens wieder, bevor die anderen aufstanden. Sie kommentierte nichts. Sie gab ihrer Mutter keine Informationen, wo sie war und was sie machte. Sie antwortete ihrer Mutter nicht, wenn sie angesprochen wurde. Sie drehte sie sich um und ging weg. Deswegen nannte ihre Mutter sie eine Herumtreiberin, ein Flittchen und eine Hure.

    Nach einem Jahr, als Lilly das Schreibmaschinen- und Stenografie Examen bestanden hatte, bekam sie eine Anstellung als Schreibkraft in einem Büro. Jetzt verdiente sie regelmäßig und gut. Auch davon sprach sie mit niemanden. Ihre Mutter hätte dann noch mehr Geld von ihr verlangt und noch mehr an ihr herum gestänkert. Wie, wo und wann sie arbeitete, war ihre Angelegenheit. Das ging niemanden etwas an.

    Damals gab es noch eine achtundvierzig Stunden Woche in Deutschland. Auch samstags wurde gearbeitet. Aber jeden Tag von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags im Büro zu sitzen, genügte Lilly nicht. Abends besuchte sie weiterhin Mathematik- und Sprachkurse. Ihre Kolleginnen glauben, sie wollte Kariere machen. Sie wollte zur Privatsekretärin avancieren oder sich für die Korrespondenz in der Auslandsabteilung bewerben. Lilly war jung. Die ganze Welt stand ihr offen.

    Lilly äußerte sich nicht dazu. Wenn ihr jemand einen besseren Job angeboten hätte, hätte sie nie nein gesagt. Aber des Lebens letzter Zweck war dies nicht für sie. Lilly lernte, um des Lernens willen. Sie las alles, was sie auftreiben, erstehen oder ausleihen konnte. Im Lernen und Lesen öffneten sich für Lilly ganz andere Welten. Lilly lebte mit und in ihren Büchern. Hier verwischten sich die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Traum, Phantasie, Utopie und Wunschbilder. Es öffneten sich immer neue Möglichkeiten. Jetzt hatte sie ein privates Gymnasium gefunden, wo sie ihr Abitur nachmachen konnte. Allerdings musste sie hier tagsüber zur Schule gehen. Darum hatte sie im Büro gekündigt und suchte einen Job, wo sie abends oder nachts arbeiten konnte.

    Auch in dieser Nacht in der Reichenberger Straße war Lilly in einem Buch versunken. Dann kam diese lärmende Kompanie und machte jegliche Konzentration unmöglich. Die Kakophonie von Stimmen, Lachen, Singen und Schreien schlug wie eine Sintflut über ihr zusammen. Politik, Klatsch und Banalität wurden wie Kraut und Rüben durcheinander geschmissen. Wer sagte was? Worum ging es? Lilly konnte nicht folgen.

    Erzähle mal, wie war das mit diesem Skandal?"

    Skandal? Dem wollt ich mal eins auswischen, wollt ich. Und da hab ich jesacht, ‚Wat hab’n Se eben jesacht?‘, und da hat er jesacht: ‚Kommen Se mir nich mit so wat.‘"

    Unmöglich!"

    Sach ich doch, sach ich doch."

    Alle redeten gleichzeitig, keiner hörte zu. Jeder hatte eine Meinung, die niemanden interessierte.

    Das Volk weiß nicht, was es will und die Abgeordneten sind zu faul, zu müde und zu beschäftigt."

    Man sollte diese aufgeblähten Beamtenkörper abschaffen."

    In Bonn produzieren diese Typen tausend Narrheiten und Albernheiten. Hier fischt jeder im Trüben."

    Meinst’e?"

    Deutschland müsste amtlich organisiert werden und nicht von wildgewordenen Spießbürgern, sach ich."

    Amtlich organisiert? Mit all die irrsinnigen Vorschriften? Glaubst’e das interessiert mich. Das interessiert mich überhaupt nicht."

    Susanne gähnte. Sie hatte Lust ins Bett zu gehen. Sie traute sich aber nicht, einfach aufzustehen und alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Rita war in der Küche, um ein paar Stullen zu schmieren. Die Herren hatten Schrippen und Aufschnitt mitgebracht. Das wurde ein richtiges Fest.

    Nächstes Jahr? Tunis? An jeder Straßenecke ein Harem. Wa?"

    Woher hasse das?"

    Na hör mal, ich lese, klar, lesen muss man können."

    Harem? Hab ich richtig jehört? Sowat jehört bei uns unters Jugendschutzgesetz. Anstößige Wörter müssen vermieden werden."

    Man darf auch nicht ‚das leibliche und sinnliche Leben’ verherrlichen oder gar bordellartige Gespräche im Schoß der Familie führen." Das war Irene. Sie machte auf intellektuell wie immer. Rita kam mit den Brötchen. Irene holte Bier.

    Familienleben! Dachte Lilly verächtlich, Familienleben war geheuchelte

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