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Freud – Adler – Frankl: Die Wiener Welt der Seelenforschung
Freud – Adler – Frankl: Die Wiener Welt der Seelenforschung
Freud – Adler – Frankl: Die Wiener Welt der Seelenforschung
eBook325 Seiten3 Stunden

Freud – Adler – Frankl: Die Wiener Welt der Seelenforschung

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Über dieses E-Book

Das Leben und Wirken von Freud, Adler und Frankl, der Begründer weltbekannter psychotherapeutischer Schulen, im Spiegel der Zeit.

Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor Frankl – herausragende Größen des Wiener Geisteslebens, die innerhalb kurzer Zeit die Wissenschaft der Seelenforschung revolutioniert haben. Sie wurden zu den Gründungsvätern bis heute maßgeblicher Theorien und Behandlungsmethoden:der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und der Logotherapie. Aus welchen sozialen Milieus stammten sie, welches familiäre Umfeld hat sie geprägt und wie sahen ihre beruflichen Netzwerke aus? Die Autor*innen erzählen auf spannende Weise eine hundertfünfzigjährige Kultur- und Wissenschaftsgeschichte und beleuchten dabei auch die komplizierten Beziehungen zwischen diesen drei Persönlichkeiten.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum16. Aug. 2022
ISBN9783701746873
Freud – Adler – Frankl: Die Wiener Welt der Seelenforschung
Autor

Hannes Leidinger

Hannes Leidinger, geboren 1969, studierte Geschichte, Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte in Wien. Er lehrt am Institut für Geschichte der Universität Wien. Umfangreiche Studien zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, zur Entwicklung Österreichs im 19. und 20. Jahrhundert sowie zur Kommunismus-, Sozialismus- und Kapitalismusforschung. Zahlreiche Auszeichnungen.

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    Buchvorschau

    Freud – Adler – Frankl - Hannes Leidinger

    Hannes Leidinger, Christian Rapp, Birgit Mosser-Schuöcker

    Freud – Adler – Frankl

    Hannes Leidinger

    Christian Rapp

    Birgit Mosser-Schuöcker

    Freud – Adler – Frankl

    Die Wiener Welt der Seelenforschung

    Mit einem Beitrag von Verena Moritz

    Residenz Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    www.residenzverlag.com

    © 2022 Residenz Verlag GmbH

    Salzburg – Wien

    Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.

    Keine unerlaubte Vervielfältigung!

    Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

    Umschlagbild: missbaguette / Photocase

    Grafische Gestaltung / Satz: Lanz, Wien

    Lektorat: Marie-Therese Pitner

    ISBN ePub:

    978 3 7017 4687 3

    ISBN Printausgabe:

    978 3 7017 3566 2

    Inhalt

    Vorwort

    »Der Urvater«

    Verena Moritz

    Sigmund Freud – In den Tiefen der Psyche

    Hannes Leidinger

    Alfred Adler – Individuum und Gesellschaft

    Christian Rapp

    Viktor Frankl – Auf der Suche nach dem Sinn

    Birgit Mosser-Schuöcker

    Freud, Adler, Frankl: Eine gemeinsame Sitzung

    Namensregister

    Endnoten

    Vorwort

    Sigmund Freud, Alfred Adler, Viktor Frankl: Arbeiten über die drei Größen des Wiener Geisteslebens füllen Bibliotheken. Dennoch wurden ihr Werk und ihr Leben selten in einem Band geschildert. Das vorliegende Buch stellt sich dieser Aufgabe, bietet jedoch mehr als eine Biografien-Sammlung oder Zusammenfassung dreier Denkrichtungen.

    Wichtig ist die Suche nach den sozialen Milieus und den beruflichen Netzwerken, in denen die richtungweisenden Schulen der Psychotherapie entstehen und schließlich international wirken konnten. Freud, Adler und Frankl verkörpern eine 150-jährige Entwicklung der Psychologie und Psychotherapie. Sie führen zugleich durch wesentliche Etappen der österreichischen Geschichte. Die intellektuelle Blüte des Wiener »Fin de Siècle« und nicht zuletzt der jüdische Anteil daran, aber auch die Schatten des nachfolgenden Katastrophenzeitalters werden sichtbar. Das vorliegende Buch betont die Auseinandersetzung der drei Seelenforscher mit den politischen Umständen ihrer Zeit.

    In Erfolgen und Misserfolgen der Hauptfiguren spiegeln sich darüber hinaus die schwierigen Beziehungen zwischen den Begründern der Psychoanalyse, der Individualpsychologie und der Logotherapie wider. Die Konflikte kreisen um zentrale Fragen der Moderne: Inwiefern kann nach dem Blick in die Abgründe individueller Seelenlandschaften noch vom freien Willen eines vernunftbegabten Wesens die Rede sein? Inwieweit sind unter diesen Umständen die Fundamente der Aufklärung noch tragfähig?

    Vor dem Hintergrund der politischen Radikalisierung in Europa, des wachsenden Antisemitismus und der Schrecken zweier Weltkriege suchen Freud, Adler und Frankl nach Ursachen, Spielräumen und Verantwortlichkeiten menschlichen Handelns, nach Erfahrungshorizonten und Verarbeitungsformen des Erlebten.

    Von den Naturwissenschaften und insbesondere der Medizin ausgehend, überschreiten sie Grenzen innerhalb der Humanwissenschaften und entfalten ein fächerübergreifendes Denken, das in der Literatur, Kunst und den Sozialwissenschaften, aber auch in der Philosophie und Theologie seine Wirkung zeigt. Letztlich wenden sich Freud, Adler und Frankl auf unterschiedliche Weise einer neuen Anthropologie und neuen Weltdeutungen zu. Die vorliegende Publikation versucht der Vielfalt ihres Denkens dadurch gerecht zu werden, dass sie sowohl gemeinsame als auch kontroverse Positionen der drei Persönlichkeiten immer wieder zueinander in Beziehung setzt.

    »Der Urvater«

    Abreise

    »Im Alter von 82 Jahren verließ ich als Folge der deutschen Invasion mein Heim in Wien und kam nach England, wo ich mein Leben in Freiheit zu enden hoffe.«¹

    In einem Radio-Interview für die BBC, das im Dezember 1938 aufgenommen wird, erläutert Sigmund Freud die Beweggründe für seine Flucht. Vor ihm haben bereits einige Familienmitglieder der Heimat den Rücken gekehrt. Die Wochen, bevor er Wien verlässt, sind geprägt von Ängsten und Unsicherheit. Seine Angehörigen bekommen den NS-Terror sofort zu spüren. Ein SA-Trupp will Wertgegenstände aus der Wohnung in der Berggasse, wo sich seit Jahrzehnten auch die Praxis des weit über die Grenzen Österreichs bekannten Arztes befindet, konfiszieren. Aber es kommt noch schlimmer. Freud soll verhört werden. Schließlich muss sich an seiner Stelle Tochter Anna stundenlangen Befragungen durch die Gestapo unterziehen. Währenddessen werden Jüdinnen und Juden auf Wiens Straßen öffentlich gedemütigt, vollziehen sich »wilde Arisierungen«, plündert der Mob Geschäfte, werden Autos willkürlich requiriert. Die Lage wird nun auch für die Familie Freud zusehends bedrohlich. Sogar Selbstmord als Ausweg aus einer mehr und mehr hoffnungslos erscheinenden Situation wird diskutiert. All die Jahre zuvor hatte sich Sigmund Freud gegen einen endgültigen Abschied aus Österreich ausgesprochen – obwohl er schon 1933 »Österreichs Weg zum National-Sozialismus« als »unaufhaltbar« bezeichnet hatte. »Alle Schicksale«, schrieb er damals an den nach Palästina emigrierten Arnold Zweig, »haben sich mit dem Gesindel verschworen.«²

    Nicht nur die Freuds stehen in jenen Märztagen im Jahr 1938 vor schicksalsschweren Entscheidungen. In Wien nehmen sich angesichts der Ereignisse viele Jüdinnen und Juden das Leben, darunter ganze Familien. Etliche Kulturschaffende, Intellektuelle und Wissenschaftler geben dem Tod gegenüber einer Flucht ins Ungewisse, einer Verhaftung oder aber den unabsehbaren Konsequenzen von Verfolgung und Drangsalierung den Vorzug. Am 16. März entzieht sich etwa der Journalist, Kulturhistoriker und Schriftsteller Egon Friedell dem Zugriff durch die SA, indem er aus dem Fenster springt.³ Freud wählt das Leben. Den Suizid lehnt er ab. Diesen Gefallen will er den Schergen des NS-Regimes nicht tun.⁴ Mithilfe von Freunden und Kollegen gelingt schließlich die Ausreise.

    Der Begründer der Psychoanalyse, der im Juni 1938, wenige Wochen nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich, emigriert, stirbt im darauffolgenden Jahr an den Folgen eines bereits lange währenden Krebsleidens. Nach seinem Tod bekommen enge Familienmitglieder, die der verbrecherischen NS-Herrschaft ausgeliefert sind, die Willkür und Grausamkeit des neuen Regimes am eigenen Leib zu spüren. Der Holocaust verschlingt auch Mitglieder der Familie Freud. Vier Schwestern Sigmund Freuds sind in Wien zurückgeblieben. Das rettende Exil bleibt ihnen versagt. Sie sind nur wenige Jahre jünger als der Bruder, hochbetagt. Alle vier werden Opfer nationalsozialistischer Verbrechen: getötet mit Gift, ermordet im Konzentrationslager, gestorben als Folge von Unterernährung.

    Sigmund Freud ist bereits weltberühmt, als er Österreich für immer verlässt. Der Ächtung durch die Nationalsozialisten, die seine Schriften verbrennen, steht die größtmögliche Popularität in weiten Teilen der Welt gegenüber. Freud ist in aller Munde. Der »Seelendoktor« hat mit seinen Theorien das Bild vom Menschen revolutioniert und für scheinbar Unergründliches der menschlichen Psyche aufsehenerregende Erklärungen angeboten. Seine Lehre ist nicht abstrakte Theorie geblieben, sondern beeinflusst die Wirklichkeit der Menschen. Eine mitunter problematische Popularisierung der Psychoanalyse, die Vereinfachungen, Missdeutungen und Fehlurteile zur Folge hat, beobachtet Freud zwar mit Sorge, dennoch bleibt er gegenüber Neuem aufgeschlossen, negiert die öffentlichkeitswirksame Vermittlung oder Anwendung seiner Lehren nicht pauschal. Manches weist er indessen als oberflächlich und zeitgeistig zurück. Anderes erscheint als regelrecht gefährlich. Der Überführung seiner Sexualtheorien in ideologische Bahnen, etwa in Zusammenhang mit dem Marxismus, begegnet er mit Ablehnung.

    Berühmt werden wollte Freud bereits in jungen Jahren und der Versuchung, an seinem eigenen Denkmal zu bauen, hat er nicht widerstanden. Dazu gehörte es auch, Materialien, die sein Leben und Werk betrafen, auszusortieren, ja zu vernichten. Seinen Biografen wollte er es nicht zu leicht machen. Und er vermerkte mit unverhohlener Schadenfreude, wie sehr sich wohl viele von ihnen bei dem Versuch, den Menschen Freud zu re- oder zu dekonstruieren, irren würden. Gleichzeitig räumte er ein, mit Blick auf seine »autobiographischen Mitteilungen« in einigen seiner veröffentlichten Schriften »offenherziger und aufrichtiger gewesen« zu sein, als dies geheimhin üblich sei. »Man hat mir«, setzte er bitter hinzu, »wenig Dank dafür gewußt; ich kann nach meinen Erfahrungen niemand[em] raten, es mir gleichzutun.«

    Nach all den Jahrzehnten, die seit dem Tod des berühmten Österreichers vergangen sind, füllen die Veröffentlichungen über ihn und seine Forschungen ganze Bibliotheken, ist die Freud-Literatur nahezu unüberschaubar. Verschiedene Unterlagen hat er, wie erwähnt, im Laufe seines Lebens absichtlich beseitigt, andere sind als Folge der Flucht 1938 der Vernichtung anheimgefallen und so seinen Biografen vorenthalten geblieben. Ungeachtet dessen haben sich zusätzlich zu Freuds umfangreichem Werk vor allem unzählige erhalten gebliebene Briefe als ergiebige Quelle erwiesen, um den »Vater« der Psychoanalyse gleichsam retrospektiv auf die Couch zu legen.⁸ Sie betreffen Korrespondenzen mit Familienangehörigen und Wegbegleitern, die heute zu einem Großteil publiziert sind. Allein die sogenannten »Brautbriefe« – der Schriftwechsel mit der zukünftigen Ehefrau Martha Bernays – umfassen mehrere Bände. In all den Niederschriften, die an die Öffentlichkeit gelangt sind, offenbaren sich viele »Freuds« in unterschiedlichen Lebensphasen, ergeben sich biografische Puzzleteile, die sich mal geradezu perfekt, mal eher schlecht oder gar nicht in bestimmte Vorstellungen von Freuds Werdegang, in Sichtweisen über seine Persönlichkeit oder aber in seine eigenen »Ansichten der Psyche« einfügen lassen. Darüber hinaus befördert die Lektüre der Briefe – zusätzlich zu anderen diesbezüglich relevanten Texten – auch die Versuchung, eine Art Familienaufstellung zu betreiben, die etwa die bei Freud so zentrale Rolle der Eltern-Kind-Beziehung betrifft. Von Interesse ist unter anderem das Verhältnis zur Schwägerin Minna. Immerhin wird Freud eine mögliche sexuelle Beziehung mit der Schwester seiner Frau unterstellt. Unabhängig von solchen Spekulationen, die zu einem gewissen Teil durch die erwähnten Briefschaften genährt werden, ermöglichen die vorhandenen Korrespondenzen tiefe Einblicke in die Lebenswelt des Fin de Siècle und machen anschaulich, wie sehr damalige Konventionen und zeitspezifische Umstände den Wurzelgrund der Freud’schen Psychoanalyse aufbereiteten.

    Freuds Lehre gilt »heute in einigen Punkten« als »historisch überholt oder zumindest von der Geschichte konditioniert«.⁹ Dieser Befund schmälert die Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse ebenso wenig wie er das Faktum ihrer Durchdringung einer Vielzahl nicht-medizinischer Wissensbereiche aufheben kann. Die »psychoanalytische Gesamtunternehmung« hat etwa Pädagogik und Rechtsprechung, Geschichtswissenschaften, Literatur und Kunst, Soziologie und Anthropologie nachhaltig beeinflusst. Die Bedeutung Freuds als Arzt der Moderne geht demgemäß weit über die Errungenschaften des Therapeuten und Analytikers hinaus.

    Obwohl zahlreiche Autoren und Wissenschaftler mit anerkennenswerter und größtmöglicher Akribie der Lebensgeschichte Sigmund Freuds nachgespürt haben und dabei selbst »Notizen und Schmierzettel« des »Genies« berücksichtigt wurden, bleiben dennoch viele Fragezeichen. Es eröffnen sich unterschiedliche Interpretationen, will man dem Menschen hinter dem Werk näherkommen.¹⁰ Bei der Analyse der relevanten Materialien und folglich auch in der Vita des »Seelenarztes« sowie in seinen Verhaltensweisen erscheint bei Weitem nicht alles stimmig. Zumindest genügen die Befunde nur bedingt jenen Kausalitäten, die sich aufgrund seiner Theorien aufdrängen. Gerade die Selbstanalyse, der er sich in Zusammenhang mit der »Traumdeutung«, dem grundlegenden Werk der Psychoanalyse, unterzogen hat, gibt mitunter mehr Rätsel auf, als sie Fragen über die Persönlichkeit Freuds oder seine Familiengeschichte beantworten kann. Dennoch ist die 1900 erschienene »Traumdeutung«, die Freud selbst als »Wendepunkt von der Therapeutik zur Wissenschaft« sah und manche wiederum mit einer zumindest vorsichtigen Autobiografie gleichsetzen, der Schlüssel zum Verständnis der Person Freud wie des Gedankengebäudes, das der Psychoanalyse zugrunde liegt.¹¹

    Eine Kongruenz von Lebensgeschichte und Werk liegt auf der Hand. Insofern erscheint das enorme Interesse an der Biografie Sigmund Freuds nachvollziehbar. Die »Vermengung von Autobiographie und Wissenschaft« ist der Psychoanalyse solcherart eingeschrieben, hat sie von Anfang an belastet und angreifbar gemacht.¹² Der oft formulierte Einwand, eigene Erfahrungen und Entwicklungen »in sogenannte Gesetze des Psychischen« übertragen zu haben, forderte den Begründer der Psychoanalyse schon zu seinen Lebzeiten heraus.¹³ Die Grundpfeiler seines Lehrgebäudes mussten nicht zuletzt angesichts oft heftiger und vielfach unqualifizierter Angriffe abgesichert werden. Die Verfeinerung und das Revidieren verschiedener Thesen war Bestandteil seiner Arbeit als Wissenschaftler. Bei den Ergebnissen intimer Selbsterkundung ließ er es keineswegs bewenden. Trotzdem schob sich mehr und mehr ein strenger Dogmatismus in den Vordergrund, grenzte er, der sich oft als Ausgegrenzter empfand, auch andere aus, die von seinen Lehren abwichen. »Dem Gespür für die Ambivalenzen des menschlichen Seelenlebens stand […] ein merkwürdiger Hang zur einseitigen Begründung von Symptomenkomplexen und Heilungsverfahren gegenüber.«¹⁴

    Die Persönlichkeit des Begründers der Psychoanalyse birgt nicht wenige Widersprüche in sich. In den Biografien über Freud begegnet uns demgemäß der Revolutionär und Aufmüpfige ebenso wie der Streber und Angepasste, der sich nach dem Applaus jener sehnte, die er verachtete oder die ihn bewusst zur Seite drängten. Aus seinen Briefen an die Zukünftige, an die spätere Ehefrau Martha, tritt uns zudem eine »energiegeladene, eroberungswillige und eroberungsfähige« Persönlichkeit entgegen, andererseits ein »Zerrissener, von Stimmungsschwankungen Geplagter, ein Suchtgefährdeter, ein hochgradig Empfindsamer und Verletzbarer«.¹⁵ In späteren Jahren wiederum tritt Freud nicht zuletzt als Patriarch auf, der gleichzeitig das Patriarchat problematisiert. In ihm identifiziert er die Keimzelle von Neurosen, welche die Psychoanalyse zu ergründen versucht.

    Aufgewachsen in der sogenannten »franzisko-josephinischen« Ära, die nach dem Habsburger Langzeitmonarchen und »Übervater« Kaiser Franz Joseph benannt ist, wendet sich Freud über die Behandlung einzelner Patienten hinaus gleichsam den »seelischen Störungen« eines ganzen Reichs zu. Zumindest sieht die Nachwelt in ihm den Arzt der Moderne, der – inmitten einer vielfach als unzeitgemäß empfundenen und scheinbar im Stillstand verharrenden k. u. k. Monarchie – Tabus bricht und neue Wege beschreitet. Der Name Freud ist in jedem Fall untrennbar verbunden mit Wien – einer Stadt, die ihn gleichermaßen anzog, wie sie ihn abstieß. So oder so war sie Teil seiner Lebensrealität. Beinahe acht Jahrzehnte hindurch.

    Die Abreise Freuds aus Wien im Schicksalsjahr 1938 steht am Beginn eines 1976 produzierten Fernsehfilms. In »Der junge Freud« zeigen Regisseur Axel Corti und Drehbuchautor Georg Stefan Troller den prominenten Emigranten zunächst in einem Zugabteil, Zigarre rauchend. Der 82-Jährige reist gemeinsam mit Frau Martha und Tochter Anna, die schon damals einen wichtigen Anteil an der Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse beanspruchen kann. Dann folgen in rasanter Schnittfolge Fotos – angefangen mit dem Bild des bereits greisen Freud und abschließend mit einem Kinderporträt. Und wieder ist ein Zug zu sehen. Er ist soeben angekommen: Wien, Nord-Bahnhof. Passagiere steigen aus. Das Ehepaar Jakob und Amalie Freud ist gemeinsam mit den beiden Kindern Sigmund und Anna in der Haupt- und Residenzstadt des österreichischen Kaiserreichs eingetroffen. Ein junger Mann steht auf dem Bahnsteig. Es ist Sigmund Freud, im Film verkörpert von Karlheinz Hackl, der nun auf die Kindheit zurückblickt. Mit der Ankunft in Wien hat ein neuer Lebensabschnitt für den kleinen Sigismund

    Schlomo begonnen. Der Abschied aus Mähren ist ihm schwergefallen. Im Rückblick wird er ihn gar als »Katastrophe« bezeichnen.¹⁶ Keine vier Jahre alt ist er, als er die Heimat verlässt. Ob er sich in Wien je heimisch gefühlt hat, wird er – im erwähnten Film von Corti und Troller – von einer Stimme aus dem Off gefragt. Freud überlegt. Wien, erklärt er, habe zeitlebens etwas Erschreckendes an sich gehabt. Die Stadt sei wie ein Kampfplatz gewesen.

    Ankunft

    Darüber, wann die Familie Freud nach Wien kam, gibt es unterschiedliche Angaben. Im Freud-Film ist es das Jahr 1860, vieles spricht allerdings für 1859. Für den aus Galizien stammenden jüdischen Händler Jakob Freud war es nicht die erste große Übersiedelung. 1844 hatte er sich in Freiberg in Mähren niedergelassen. Dort wurden 1856 und 1858 auch die beiden Kinder Sigismund Schlomo – später Sigmund – und Anna geboren. Ein Sohn, Julius, starb nur wenige Monate nach der Geburt. Die Gründe für den Wohnortwechsel der Familie Freud liegen im Dunklen. Wien dürfte allerdings nur zweite Wahl gewesen sein. Ursprünglich war ein dauernder Aufenthalt in Leipzig geplant. Dort aber wurde dem Juden Jakob Freud das Bleiberecht verweigert.

    Während ihr berühmter Sohn sich später selbst als Atheist bezeichnete, hielt die Familie Freud bei allen Tendenzen zur Assimilation an ihren Wurzeln fest. Man sprach Jiddisch, Feiertage und Familienfeste orientierten sich an den religiösen Bräuchen. Auch Sigmund wurde solcherart von jüdischen Traditionen geprägt. »Religion und Kultur« identifizierte er später als Bereiche, »die uns die Illusion der Erfüllung unserer Wünsche vermitteln«.¹⁷ Wenn er wiederum in seiner 1925 erschienenen »Selbstdarstellung« betonte, dass er stets »Jude geblieben« war, verknüpfte er das mit verschiedenen Erfahrungen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Erniedrigung. Die »Zumutung«, sich als Jude »minderwertig« fühlen zu müssen, schrieb er, habe er immer abgelehnt, die verwehrte Zugehörigkeit zur »Volksgemeinschaft« allerdings »ohne viel Bedauern« zur Kenntnis genommen.¹⁸ Demgegenüber entwickelte er bei aller Religionskritik eine Verbundenheit gegenüber dem »Judentum«, die sich einem Gefühl der Zusammengehörigkeit verdankte.

    Erst als der Umzug nach Leipzig misslang, wurde Wien zum neuen Ziel der Familie Freud. Den Ortswechsel empfand Sigmund als Verlust: Wichtige Bezugspersonen wie seine Kinderfrau und verschiedene Familienmitglieder musste er zurücklassen. Wien war dem kleinen Buben fremd. Die Großstadt präsentierte sich hektisch. Die Metropole befand sich im Umbruch, als die Freuds hier sesshaft wurden. Binnen weniger Jahren entstanden jene Bauten entlang der Ringstraße, die auch heute noch das Zentrum der österreichischen Hauptstadt prägen. Umwälzungen größerer Dimensionen betrafen darüber hinaus in den 1860er-Jahren den gesamten Herrschaftsbereich der Habsburger. Das Kaisertum Österreich – so der offizielle Name – hatte in einem Krieg gegen das Königreich Sardinien und seine Verbündeten gerade erst die Lombardei verloren. Vor dem Hintergrund schwieriger wirtschaftlicher Verhältnisse verließ Kaiser Franz Joseph den Weg des Neoabsolutismus, den er als Folge der Revolution von 1848 eingeschlagen hatte. Nun machte er Zugeständnisse in Richtung einer Verfassung. Nach der Niederlage gegen Preußen 1866 wurden die Weichen endgültig neu gestellt. Der Kaiser musste den widerständigen Ungarn entgegenkommen. Ein Ausgleich gelang. Zwei Staaten, Österreich und Ungarn, bildeten ab 1867 die k. u. k. Monarchie. Eine Verfassung wurde gewährt. Die letzten Jahrzehnte des Habsburgerreichs brachen an.

    Sigmund war der Erstgeborene aus der Verbindung von Jakob und Amalie Freud. Die Eheleute trennten 20 Jahre. Freuds Vater war bereits über 40, die Mutter noch eine junge Frau, als ihnen das erste gemeinsame Kind geboren wurde. Und Jakob hatte bereits eine Nachkommenschaft, als er Amalie heiratete. Sie war seine zweite oder – meinen andere – wahrscheinlich sogar seine dritte Ehefrau. Sigmunds Stiefgeschwister waren schon erwachsen, als der Vater eine neue Familie gründete. Diese wiederum vergrößerte sich nach der Ankunft in Wien beinahe im Jahrestakt. Bis 1866 wurden dem Ehepaar Freud weitere fünf Kinder geboren. Sigmund wuchs in einer Großfamilie heran, umgeben von Eltern, Geschwistern, Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Später kamen die Verwandten der Ehefrau Martha hinzu sowie die eigenen Kinder und Enkel. Freud war eng an die Familie gebunden, nicht immer mit gleichbleibender Hingabe, aber stets im Gefühl, Verantwortung für sie tragen zu müssen. »Die erste Bedingung jeder Ehe sollte sein, daß jeder Teil das Recht hat, die Verwandten des anderen herauszuwerfen.« Diesen Ausspruch seines damaligen »Chefs«, des Psychiaters, Neurologen und Anatomen Theodor Meynert, teilte er der Braut in einem Brief aus dem Jahr 1883 mit. Er verhehlte nicht seine Zustimmung.¹⁹ Trotzdem: Bei allen Konflikten, die sich innerhalb der Familie Freud auftaten und in einer noch dazu so weit verzweigten Verwandtschaft kaum überraschen konnten, ließ es Sigmund Freud nie an Unterstützung für seine Angehörigen mangeln. Er griff später seinen Kindern und Schwiegerkindern finanziell unter die Arme, sorgte sich um Eltern und Geschwister.

    Die Familie Freud wohnte in der Leopoldstadt, im zweiten Bezirk, wo ein Gutteil der in Wien ansässigen Juden lebte. Die Prosperität einer aufstrebenden Stadt, als die sich Wien in den 186oer-Jahren präsentierte, vermochte Jakob Freud nicht für das eigene Fortkommen zu nutzen. Oft fehlte das Geld an allen Ecken und Enden. Freuds Vater wird als umgänglicher und kluger Autodidakt beschrieben, als freundlicher Patriarch, dem es allerdings an Geschäftssinn gefehlt haben dürfte. Immer wieder befand sich die Familie wirtschaftlich am Abgrund, schien die Lage aussichtslos, die Zukunft düster. Finanzielle Unterstützung kam in einer später auch von Sigmund Freud als besonders entbehrungsreich und unsicher wahrgenommenen ersten Phase in Wien von einem der älteren Stiefbrüder, die nach England ausgewandert waren. Andere Verwandte erwiesen sich als weit weniger hilfreich. Josef Freud, Sigmunds Onkel, dessen Übersiedelung nach Wien ins Jahr 1861 datiert, bescherte der Familie einiges an Kummer. Eine Falschgeldaffäre wurde ihm zum Verhängnis. Offenbar war er in dubiose Geschäfte verwickelt. Im Juni 1866 folgte eine Verurteilung zu »zehn Jahren schweren Kerkers«. Aufgrund seiner Unbescholtenheit wurde er im Unterschied zu seinem Mitangeklagten »dem Obergerichte behufs einer Strafmilderung anempfohlen«. Onkel Josef saß daher die Strafe für »Kreditpapierfälschung« – er war wegen des Vertriebs falscher Rubelnoten angeklagt worden – nicht zur Gänze ab.²⁰ Was blieb, waren Schande und Angst. Etliche Biografen Sigmund Freuds schließen nicht aus, dass eventuell auch der Vater in die Machenschaften seines Bruders involviert war. Jakob Freud, erinnerte sich Sohn Sigmund später, bekam als Folge des Skandals seine ersten weißen Haare. Zum Stigma der jüdischen Herkunft kam nun auch noch jenes eines zweifelhaften Rufs: Ein verurteilter Krimineller in der Familie schadete der Reputation eines ohnehin meist glücklosen Geschäftsmannes, als der Jakob Freud in der Nachbetrachtung für gewöhnlich dargestellt wird, zusätzlich.

    »Aus armem Hause stammend, aber mit großer Energie, und entschiedenem Talent begabt«

    ²¹

    Sigmund wuchs zwar in sehr bescheidenen und beengten Wohnverhältnissen auf, innerhalb der Familie war er allerdings privilegiert. Ihm wurde im Unterschied zu den Geschwistern in der relativ kleinen Wohnung ein eigenes Kabinett zugestanden. Seine Begabung erkannten die Eltern früh. Die erhoffte Karriere des Sohnes hatte Priorität. Der »Kronprinz« sollte in Ruhe lernen und studieren können. Die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden, erfüllte er. Sigmund brillierte als Vorzugsschüler, entwickelte sich aber nicht zum stumpfen Pauker, der lediglich zu entsprechen wusste. Vielmehr zeichnete er sich durch eine unbändige Neugier aus, getrieben von stetem Wissensdurst. Sein Fleiß beeindruckte auch die Mitschüler. Der Knabe gönnte sich kaum Pausen, büffelte unentwegt und erwarb sich ein vielseitiges Wissen, das Fremdsprachen ebenso umfasste wie Geschichte oder Naturwissenschaften. Die spärliche Freizeit gestaltete sich nicht als die eines Kindes, sondern kreiste um die vielgestaltigen Neigungen eines ernsten und strebsamen Heranwachsenden, der um die Hoffnungen, die sein Elternhaus in ihn setzte, wusste.

    Freud war fest

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