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Trümmerfrauen: Angst, Not, Leid und Tod in Aachen während und nach dem 2. Weltkrieg
Trümmerfrauen: Angst, Not, Leid und Tod in Aachen während und nach dem 2. Weltkrieg
Trümmerfrauen: Angst, Not, Leid und Tod in Aachen während und nach dem 2. Weltkrieg
eBook326 Seiten7 Stunden

Trümmerfrauen: Angst, Not, Leid und Tod in Aachen während und nach dem 2. Weltkrieg

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Über dieses E-Book

Unvorstellbares Leid erlitten alle Frauen in den furchtbaren Kriegsjahren des Zweiten Weltkrieges. Auch in Aachen war der plötzliche Tod zu jeder Tages- und Nachtzeit allgegenwärtig. Angst, Hunger, Bespitzelung und Verrat, meist durch die eigenen "Volksgenossen", waren an der Tagesordnung. Nach dem Krieg waren es zuerst wieder die Frauen, die Straßen und Plätze in Schwerstarbeit von Kriegstrümmern befreiten, grausamen Hunger ertrugen, Kinder aufzogen und auf vielfach abenteuerliche Weise die grauenhafte Not zu überleben versuchten.
SpracheDeutsch
HerausgeberHelios Verlag
Erscheinungsdatum10. Jan. 2017
ISBN9783869331751
Trümmerfrauen: Angst, Not, Leid und Tod in Aachen während und nach dem 2. Weltkrieg

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    Buchvorschau

    Trümmerfrauen - Helmut Clahsen

    Nachwort

    Trümmerfrauen

    Seit Stunden saß Rosemarie am Fenster der Küche, die gleichzeitig auch Wohnraum war und stopfte zum xten Mal Hildes lange wollene Strümpfe. Dass sie das so oft machen musste lag an der allgemeinen Notlage.

    Damit die Armut nicht so augenscheinlich wurde – kleine Mädchen sind eitel und laufen nicht gerne mit plump gestopften und geflickten Sachen herum –, stopfte Rosemarie sehr sorgsam, fast schon kunstvoll und stickte anschließendmit bunten Wollresten kleine Verzierungen auf die Stopfen. Kleine Blumen, Dreiecke, auch manchmal, meist auf die Kniepartie, kleine Gesichter.

    Hilde, die recht still und für sich in ihrer ‚Puppenwohnung, der Nische zwischen Küchenschrank und der Wand zur Schlafkammer mit Lena, ihrer einzigen, geliebten, von Oma Erna gebastelten Damenstrumpf-Puppe gespielt hatte, kam zu Rosemarie und wollte kuscheln.

    Rosemarie legte Nadel und Faden beiseite und Hilde legte sich bäuchlings auf Mamas Schoß. Hilde genoss Mamas Hand, die ihren Rücken streichelte.

    Immer und immer wieder strich Rosemaries Hand über den mageren Rücken ihrer achtjährigen Tochter. Jede Rippe des Kindes fühlte sie. Sie ist zu klein geblieben, zu mager meine Kleine, dachte Rosemarie. Kein Wunder, bei der mangelhaften Ernährungslage.

    Hilde richtete sich auf, kletterte auf Mamas Schoß, sah ihr in die Augen und fragte: „Was wünscht du dir am aller aller meisten, Mama?"

    Erstaunt sah Rosemarie ihre Tochter an und drückte sie liebevoll an sich.

    „Was soll ich sagen? Wie kommst du denn darauf?"

    „Ist doch egal. Sag‘ schon Mama, komm, sag schon", bettelte Hilde.

    Rosemarie strich ihr zärtlich über die Haare und seufzte. Sie neigte den Kopfund legte ihre Wange auf die Haare des Kindes. Ganz leise sagte sie: „Ach, mein Schatz. Ich habe so viele ganz wichtige Wünsche, ich weiß gar nicht, was ich mir am aller meisten wünsche."

    „Sag doch", forderte die Kleine und zappelte ungeduldig auf Rosemaries Schoß.

    Sirenen ertönten und enthoben Rosemarie einer Antwort.

    Fliegeralarm! Ein zigfach ausgeführtes, eingeübtes Programm, fast schon ein Ritual dieser Zeit begann.

    Hilde zog ihren dicken roten Wintermantel an, den sie bei einer Kleiderkammer bekommen hatte, als sie das letzte Mal ausgebombt waren. Sie nahm eilig ihre Puppe aus dem Puppenbett – einem alten Schuhkarton, in dem einmal Papas Sonntagsschuhe verwahrt worden sind –, ergriff die Aktentasche, die immer auf einem Stuhl neben der Türe zur Wohnung bereit stand und wichtige Papiere enthielt, wie Mama ihr gesagt hatte.

    Rosemarie war unterdessen in die Schlafkammer geeilt um Adolf zu wecken und anzukleiden. Der Vierjährige schlief mittags meistens eine, manchmal auch zwei Stunden.

    Danach zog sie ihren Opossum-Mantel an. Hans hatte ihr den Pelzmantel 1940 aus Frankreich mitgebracht. Nach dem Westfeldzug hatte er acht Tage Urlaub bekommen und sie, neun Monate später Adolf. Damals hatten sie noch eine schöne große Wohnung in der Pontstraße. Aber seit Göring Meier hieß, war der Krieg nach Deutschland gekommen. Zweimal schon, hatten die feindlichen Bombengeschwader ihr alles genommen. Das nackte Leben und was sie auf dem Leib trugen hatten sie behalten.

    Oma Erna war seit dem letzten Bombenangriff schlimmer dran. Sie hat auch noch ein Bein verloren.

    Immer noch heulten die Sirenen. Hilde war schon die Treppe hinunter unterwegs. Rosemarie folgte ihr mit dem quengelnden, im Schlaf gestörten Adolf an der einen und einem kleinen festen Koffer mit Wäsche und ein paar anderen liebgewordenen Utensilien, der wie die Aktentasche auch, immer gepackt bereit stand und bei jedem Luftalarm mit in den Luftschutzkeller genommen wurde, in der anderen Hand.

    Alle Hausbewohner drängten sich im Treppenhaus, um in den Luftschutzkeller zu gelangen. Alle, wie Rosemarie und Hilde, mit Taschen Rucksäcken und Koffern belastet. An der Kellertreppe stand der Hauswart Herr Funke in dunkler Uniform, ähnlich der, wie die Feuerwehr sie trug.

    Er war immer im Dienst, für Führer, Volk und Vaterland. Besonders bei Luftalarm. Deshalb schützte er seinen schon alten Kopf, in dem alle zur Zeit wichtigen Verordnungen und Gesetze die er als Haus- und Blockwart zu befolgen hatte gespeichert waren, mit einem schwarzen Stahlhelm.

    Ihm entging nichts. Er nahm jeden Hausbewohner der in den Keller wollte in Augenschein. Er war zwar schon sechzig, war im ersten Weltkrieg Soldat gewesen und ein Mann, auf den der Führer sich blind verlassen konnte. Herr Funke tat bloß seine Pflicht. In seine Luftschutzkeller kamen keine „ungebetenen Gäste". Volksschädlinge, Juden, Zigeuner. Juden waren ja kaum noch da. Die meisten waren ja schon fort. Nach dem Osten.

    Er wusste genau über jeden Bewohner der Häuser Bescheid, für die er als Blockwart verantwortlich war. Ihm konnte keiner etwas weismachen.

    Vierzehn Frauen wohnten im Haus. Mit ihm, drei Männer. Alle nicht KV, nicht Kriegsverwendungsfähig. Fünf Kinder wohnten hier. Zwei Jungen, drei Mädchen.

    Ursprünglich wohnten vier Familien in diesem Haus. Keine Kinder.

    Aber dann kamen die Bombennächte, die Männer standen im Feld der Ehre. Irgendwo mussten die Überlebenden, die Ausgebombten untergebracht werden. Das Wohnraumbewirtschaftungsgesetz sorgte dafür, dass der vorhandene, immer weniger werdende Wohnraum restlos genutzt wurde.

    Im Luftschutzkeller hatte jeder Bausbewohner seinen Platz. Extra Stützpfeiler verstärkten das Kellergewölbe.

    Rosemarie hatte ihren Platz an einem der Stützpfeiler neben dem die hölzernen Pritschen standen. Liegestätten, auf denen meist die Kinder die Zeit verbrachten.

    Herr Funke machte seinen Kontrollgang und blieb bei Rosemarie, die Adolf auf dem Schoß hatte stehen. Er grüßte militärisch mit der Hand am Helm.

    „Heil Hitler. Dann gab er sich wohlwollend. „Na, junge Frau, wann kommt denn der Herr Gemahl mal wieder auf Urlaub? Will die Rußen wohl alleine besiegen, der Herr Oberst.

    Alter Leuteschinder, dachte Rosemarie, machte ein recht freundliches Gesicht und antwortete: „Das will ich nicht hoffen. Russland ist groß, Herr Funke. Für einen alleine zu groß."

    „Wohl war, Frau Winter. Aber bald ist unsere Wunderwaffe fertig und dann dauert es nicht mehr lange bis zum Endsieg."

    Endsieg, für wen, dachte Rosemarie, hütete sich aber sich zu äußern. Sie glaubte nicht mehr an den Endsieg für Deutschland. Nur, wer so etwas laut sagte verschwand sehr schnell für immer. Zwei Jahre hatte sie von ihrem Hans nichts mehr gehört. Kein Brief von ihm, keine amtliche Meldung. Nichts! Er war Offizier. Vielleicht durfte er nicht schreiben wegen der Geheimhaltung. Die absurdesten Gedanken jagten ihr manchmal durch den Kopf.

    Funke war gegangen. Es war still im Keller. Alle lauschten nach draußen. Das dumpfe, wummernde Geräusch der Flugzeugmotoren drang sogar durch Kellerwände. Wer es einmal gehört hatte, vergisst es nie mehr. Alle hatten es schon oft gehört. Schon so oft. Mitunter zwei, drei Mal am Tag und auch noch in der Nacht. Und immer die Angst, ob alles gut geht. Ob das Haus stehen bleibt. Ob die Kellerdecke hält oder alle Menschen verschüttet. Die Flak feuerte aus allen Rohren. Bomben fielen keine. Die waren wohl diesmal für eine andere Stadt bestimmt. Frau Lauer, die ältere Dame die im Parterre rechts wohnte, Witwe war und drei Söhne für den Endsieg verloren hatte, beugte sich zu Rosemarie und flüsterte, mit einer Hand ein heimliches Zeichen nach oben machend: „Da fliegen des Reichsluftfahrtministers Herman Göring ungebetene Gäste. Die radieren jetzt unsere Städte aus undnicht umgekehrt, wie er den Engländern angedroht hatte. Sie schüttelte den Kopf, legte eine Hand an den Mund uns flüsterte noch leiser: „Er wollte Meier heißen, wenn je ein feindliches Flugzeug am Himmel über Deutschland erscheint. Sie seufzte. „Und jetzt? Wie sieht unsere schöne Stadt aus? Wo du hinschaust Trümmer und Bombentrichter."

    Es wurde ruhiger draußen. Nach einiger Zeit kam Funke in den Keller zurück. „Die Flak schießt nicht mehr. Wird wohl bald Entwarnung geben. Breitbeinig stand er da, der alte Mann, der sich so ungeheuer wichtig nahm. Der in vier Häusern in der Straße für Ordnung sorgte. Für Deutsche Ordnung. Nationalsozialistische Ordnung. Lebensgefährliche Ordnung für alle die sich nicht fügten oder nicht dazu gehörten, wie Untermenschen, Juden, Zigeuner, Subversive. Ein falsches Wort und das bisschen Freiheit dass die Menschen noch hatten, war verwirkt. „Wird wohl gleich Entwarnung geben", hatte er gesagt und Rosemarie hatte gedacht: ‚wie oft schon in den letzten Jahren und wie oft noch?‘ Ihr war zum Heulen. Sie schaute um sich. Ein Luftschutzkeller voller Menschen. Die meisten hatten nichts Eigenes mehr. Ausgebombte des Krieges, wie sie auch. Kriegerwitwen und Mütter gefallener ‚Helden‘, wie Frau Lauer. Niemand in diesem, wie in jedem anderen Keller wusste, ob er diesen oder den nächsten Luftalarm überleben würde. So viele tote, verwundete, wie lebende Fackeln brennende Menschen hatte sie gesehen. Und immer mehr Tote, mehr Trümmer, mehr Obdachlose, mehr Kinder ohne Eltern kamen mit jedem Luftangriff hinzu. Und aus den kleinen schwarzen Bakalit Kästen, die in jeder Behausung zu finden waren, den Volksempfängern, vom Volk hinter vorgehaltener Hand spöttisch ‚Goebbels Schnauze‘ genannt, faselten die Propaganda Heinis von der Wunderwaffe, die bald zum Einsatz kommen würde und vom Endsieg. Wer glaubte das noch?

    Rosemarie schaute zur Pritsche hin, auf der Hilde eingeschlafen war, die wichtige Aktentasche unter dem Kopf.

    Adolf spielte mit einem gleichaltrigen Jungen auf einer anderen Pritsche.

    Der anhaltende Sirenenton der jetzt zu hören war, bedeutete Entwarnung. Augenblicklich entstand Bewegung unter den Menschen. Alle wollten gleichzeitig in ihre Wohnungen zurück.

    „Frauen und Kinder zuerst!", rief Funke. Irgendein Parteibonze hatte es ihm, so und nicht anders, beigebracht. Er wusste aus Erfahrung, dass besonders kleinere Kinder im Treppenhaus meist ein Hindernis sind, bei akuter Gefahr von den Erwachsenen überrannt werden und zu Schaden kommen. Aber, Vorschrift ist Vorschrift und strikt zu befolgen.

    Er war stolz darauf, seinem Vaterland und dem geliebten Führer – der es zurzeit nicht leicht hatte –, noch im Alter dienen zu dürfen. So, wie er dem Vaterland und seiner Heimatstadt Aachen, als Beamter ein Leben lang gedient hatte. Untadelig, aber kompromisslos und ohne Diskussion. Führer befiehl, wir folgen dir! Auch an der Luftschutzuniform trug er das goldene Parteiabzeichen, das ihm vom Führer durch den Gauleiter, für besondere Verdienste verliehen worden war. Darauf war er stolz.

    Jetzt noch den Kontrollgang durch ‚seine Häuser‘, eventuelle Vorkommnisse notieren, die Einhaltung der Löschvorschriften kontrollieren, sich überzeugen, dass sich während des Fliegeralarms kein ‚Subjekt‘ irgendwo eingeschlichen hatte, dann konnte auch er nach Hause und in Ruhe seinen Tagesbericht schreiben.

    Rosemarie war auch endlich im vierten Stock unter dem Dach angekommen. Adolf wollte nicht getragen werden, als sie aus dem Luftschutzkeller kamen. Eine stramme Leistung für den Vierjährigen, eine zeitraubende für Rosemarie. Hilde war schon eine Zeit vor den beiden oben gewesen. Saß am Tisch und machte ihre Schularbeiten.

    Sie bewohnten zwei Mansardenzimmer, die während des Krieges hier eingebaut worden sind. Die winzige Wohnung hatte zwar eine Wasserleitung, aber keine Toilette. Die befand sich ein Stockwerk tiefer, auf dem Flur im Treppenhaus und wurde von sieben Personen benutzt. Ein Bad oder eine Dusche gab es im ganzen Haus nicht. Rosemaries Wohnung lag im Giebelraum des Hauses und in der Giebelwand war ein normal großes Fenster, von dem aus sie die nicht unerhebliche Trümmerwüste der Stadt überblicken und Dom und Rathaus, ungehindert durch andere Bauten, sehen konnte. Der letzte Bombenangriff hatte zwei große Gebäudekomplexe, die dieser Aussicht im Weg standen, dem Erdboden gleich gemacht.

    Eine Frau, eine der wenigen Überlebenden aus diesen Gebäuden, wohnte jetzt in der überfüllten Wohnung 1. Etage links bei einer Cousine, deren Vater, der so eine Zitterkrankheit hatte, zwei älteren Tanten, auch ausgebombt und dem unehelichen Sohn der Cousine. Ein netter blonder Junge. elf Jahre alt und Hitlerjunge durch und durch.

    Lustig war an diesen Menschen nur, dass sie alle Liebchen hießen. Auf anderen Schellenschildchen fand man zwei, drei oder gar noch mehr Namen. Bei Liebchen stand nur ein Name geschrieben.

    Rosemarie öffnete das Fenster um die sonnigwarme Aprilluft gegen die bei sonnigem Wetter schnell stickig werdende Mansardenluft auszutauschen.

    Es war 17 Uhr und die Sonne stand in ihrem nachmittaglichen Neigungswinkel so, dass sie die kleine Wohnküche mit ihren Strahlen in ein so goldenes Licht tauchte, dass selbst die ärmliche, notdürftige Möblierung heimelig anmutete.

    Trotzdem. Es war Krieg. Auch das sonnigste Zimmer konnte Rosemarie nicht darüber hinweg täuschen. Jeder Luftangriff konnte für jeden Menschen, wo auch immer in Deutschland, das Ende des Lebens sein. Diese permanente Angst schleppte jeder mit, übertrug sich auf alles Handeln. Machte nervös, gereizt, zänkisch. Andere wieder machte diese Angst gleichgültig. Sie stumpften ab. Wozu etwas beginnen?

    Die Bomben vernichten uns, unsere Kinder, Freunde und Verwandte, alles was uns lieb und Wert ist. Rosemarie hatte ihre beiden Kinder und fühlte sich trotzdem alleine und einsam. Zur Einsamkeit gesellte sich der Hunger, die Not, die genau so allgemein waren wie die ständige Angst. Sie war doch noch so jung. 28 Jahre, zwei Kinder und alleine. Verdammt. Es ist kein Trost, dass Millionen andere Frauen auch alleine sind. Sich wie sie mit Feldpostbriefen begnügen müssen. Nicht einmal das hatte sie. Zwei Jahre schon nicht. Zwei Jahre ohne die geringste Nachricht von Hans. Lebte er noch? Rosemarie wollte nicht an diese Möglichkeit denken, aber die Gedanken kamen von selbst. Ob sie wollte, oder nicht. Hans war Soldat. Soldaten sterben im Krieg.

    Täglich konnte sie ganze Zeitungsseiten mit Anzeigen gefallener Soldaten aus der Region lesen. Auch Offiziere waren darunter. War Hans gefallen? Hatte ihn niemand gefunden? Ein frostiges Schütteln überkam sie. Sie erinnerte sich an so manches Haus in der Stadt, von dem nur noch ein riesiger Bombentrichter an die Stelle erinnerte, an dem das Haus gestanden hatte. Nichts von den Bewohnern war gefunden worden. Nicht einmal Knochensplitter.

    Sie glaubte nicht mehr an den Endsieg. Von der Ostfront hörte sie nur noch Meldungen, die sich nach Rückzug anhörten.

    „Was wünscht du dir am aller, aller meisten, Mama?"

    Das Frieden wird, dachte Rosemarie. Denken und wünschen durfte sie das.

    Aber, durfte sie das auch laut sagen? War das kein Defätismus, wenn sie es laut sagte? Keine die Kampfkraft zersetzende Äußerung, für die sie in ein KZ kommen konnte?

    Dass es diese Lager gab und das niemand mehr zurückkam, der in ein KZ musste, war längst kein Geheimnis mehr. Auch Rosemarie kannte ein paar Leute die sehr plötzlich verschwunden waren und blieben. Gerüchte besagten, sie seien in ein KZ gebracht worden. Was geschah dort mit den Menschen?

    Rosemarie hatte sich, als sie aus dem Keller kamen, an dem geöffneten Fenster in die Sonne gesetzt und auch ihr Dekolleté etwas frei gemacht für die Sonnenstrahlen. Allmählich senkte sich die Sonne um später hinter dem Aachener Wald, im Westen der Stadt zu verschwinden.

    Sie schaute auf ihre Armbanduhr, ein Hochzeitsgeschenk von Hans, eine goldene Junghans Uhr. Es wurde Zeit für die Abendmahlzeit. Mahlzeiten waren immer und für alle ein Problem. Was habe ich noch im Haus? Was gibt es noch zu kaufen? Reichen die Lebensmittelmärkchen noch für dies oder das? Egal wo Frauen sich unterhielten, tauschten sie Rezepte aus. Notrezepte. Aus fast nichts, etwas auf den Tisch bringen, was auch noch schmeckt. Frauen erfanden unglaubliche Rezepte und tauschten sie untereinander aus. Die meisten Rezepte hatte Rosemarie in Luftschutzkellern erfahren. Aber nur, wenn kein Bombenangriff stattfand. Wenn die feindlichen Bomber über Aachen hinweg flogen.

    Rosemarie suchte im Küchenschrank nach Lebensmitteln, aus denen sich ein Abendbrot herrichten ließ. Eine Dose Kondensmilch fand sie, einen Rest Grießmehl, sogar noch ein Ei und Zucker. Zucker sogar noch reichlich. Es muss für uns alle reichen, dachte sie und vermehrte die Kondensmilch mit soviel Wasser, bis die Flüssigkeit für den Grießbrei ausreichend war. Zimt und Zucker sorgten bei den Kindern für begeisterten Zuspruch. Nichts blieb über. Rosemaries Anteil war auch in den Kindern verschwunden.

    Als die Kinder im Bettwaren, aß sie eine trockene Scheibe Brot. ‚Trocken Brot macht Wangen rot‘. Auch so ein alter Spruch, dachte sie. Vermutlich für Menschen, die ohnehin nie satt wurden. An den Rest Kunsthonig wollte sie nicht gehen. Der sollte für Hildes Schulbrot bleiben, weil sie nicht wusste, wann sie wieder neuen kaufen konnte. Nicht einmal Kunsthonig war ausreichend zu haben, aber wehe dem, der meckerte.

    „Wieder ein Tag vorüber", sagte Rosemarie halblaut, als sie Funke die hölzerne Treppe zum Dachboden hoch stapfen hörte. Jeden Morgen und jeden Abend kam er zur gleichen Zeit hoch, wenn nicht gerade ‚Alarm‘ war. Er sah nach den Löschgeräten. Zwei große Eimer Wasser, eine Löschpumpe, eine Feuerpatsche, ein großer Eimer Sand und eine lange hölzerne Zange, etwa einen Meter lang. Mit dieser Zange sollten die Luftschutzhelfer Stabbrandbomben ergreifen und nach draußen werfen.

    Lachhaft fand Rosemarie alle diese Vorkehrungen. Sie öffnete die Türe zu ihrer Wohnung und sah Funke, der schnaufend an der Speichertüre stand und sich an einem Dachbalken abstützte.

    „Kann das nicht jemand anders machen, Herr Funke? Ich zum Beispiel. Ich wohne doch hier oben.

    „Geht nicht, Frau Winter, keuchte der Haus- und Blockwart und wedelte verneinend mit der Hand. „Vorschrift ist Vorschrift, Frau Winter. Ich bin dafür verantwortlich.

    „Na dann, Herr Funke, gutes Gelingen." Rosemarie schaute zu, wie Funke die Feuerlösch – Utensilien inspizierte. Kopfschüttelnd dachte sie an das Haus in der Pontstraße, in dem sie gewohnt hatte, das durch Brandbomben vernichtet worden war. Da hatte weder Wasser noch Sand, keine Feuerpatsche und auch keine Brandbombenzange genutzt. Vier Menschen sind bei lebendigem Leibe verbrannt. Darunter ein neugeborenes Mädchen. Vom Haus blieben nur noch Die Außenmauern und eine Menge Schutt, der noch zwei Tage qualmte. Phosphor ist in den Brandbomben. Der brennt bis nichts Brennbares mehr vorhanden ist. Ob Funke sich vorstellen konnte, wie Menschen zu Mute ist, wenn sie ihre Lieben brennen sehen und können nicht helfen? Weiß er, wie es ist, Hab und Gut zu verlieren? Ausgebombt! Ein Wort mit zehn Buchstaben. Wieviel Leid bedeutet dieses Wort für Millionen Menschen. Es gelang Rosemarie nicht, die Gedanken an die Bombennacht 1942 zu verdrängen. Sie hatte damals auf den Krieg geschimpft und war in Schwierigkeiten gekommen. Die Parteibonzen duldeten keinen Defätismus. Sie wurde scharfzurechtgewiesen und verwarnt.

    Die Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, hatten still für sich zu leiden, junge wie alte. Trotz allen Leides, es waren Verräter unter ihnen. Miese Denunzianten, die Menschen schon für winzige Kleinigkeiten anschwärzten.

    Niemandem konnte man vertrauen. Niemandem sich anvertrauen, wenn man im Elend zu ertrinken glaubte. Nicht einmal Geistlichen, weil etliche von denen auch in der Partei waren.

    Funke hatte sein Werk vollbracht. Wandte sich zur Türe, wünschte eine gute Nacht, sagte „Heil Hitler" und stieg die Treppe hinab.

    Um einundzwanzig Uhr lag Rosemarie auch im Bett. Schlafen, bevor der nagende Hunger sich zurück meldete. Hungrig ins Bett zu gehen, mit dem Hunger zu leben, war seit Jahren für alle Gewohnheit. Gewohnheit, die schlapp und mutlos machte.

    Das Sirenengeheul, das Luftalarm verkündete, riß die Bewohner der ganzen Stadt aus dem Schlaf. Raus aus den warmen Betten! Die Bekleidung lag bereit. Wurde zurechtgelegt, bevor man sich ins Bett legte. Rosemarie zog sich in Windeseile an. Danach Adolf, der absolut keine Lust dazu hatte. Hilde war so selbständig wie eine Erwachsene. Die drei waren schon auf dem Weg nach unten und die Sirenen heulten immer noch. Auch jetzt hatte Rosemarie den Opossum-Mantel an und mehrere Garnituren Unterwäsche. Für alle Fälle. Man weiß ja nie.

    Wieder das Gedränge im Treppenhaus. Das Schleppen der wenigen, wichtigen, vorgeschriebenen Habseligkeiten, die nur dann aus Koffern und Taschen geholt wurden, wenn die Behörden sie sehen wollten.

    Wie immer stand Funke an der Kellertreppe und musterte die längst bekannten Gesichter.

    Während jeder Hausbewohner seinem Platz zustrebte, verebbten die Sirenen. Stille! Weil alle lauschten, herrschte keineswegs eine ‚Lauschige Stille‘.

    In allen Kellern lauschten Menschen angstvoll nach draußen. Warteten auf das Brummen vieler hundert Flugzeugmotoren. Viele Menschen, auch Rosemarie, glaubte unterscheiden zu können, ob die Tod und Zerstörung bringenden Bomber hoch oder sehr hoch flogen. Flogen sie sehr hoch, war die Gefahr meist gering. Sie flogen dann über Aachen hinweg.

    Es dauerte eine Weile, aber dann waren sie da. Ganz deutlich waren die Motoren zu hören und gleichzeitig feuerte die Flak aus allen Rohren. Es donnerte und Krachte von überall her. Die fliegen tief murmelte Rosemarie.

    Sie hatte Angst. Große Angst.

    Rums. Rums. Rums. Drei Einschläge. Drei gewaltige Detonationen ganz in der Nähe. Staub und Kalksand rieselte von der Kellerdecke. Neue Detonationen. Eine folgte der anderen. Mal nah, mal ferner.

    Erst Hilde, danach Adolf waren auf Rosemaries Schoß geklettert, vergruben ihre Gesichter im Opossum, weinten laut, zitterten am ganzen Körper in ihrer Angst und zuckten bei jedem ‚Rums‘, bei jeder Detonation zusammen.

    Frau Lauer und einige andere Frauen beteten laut, schluchzten, weinten, zitterten in Todesangst. ‚Rums‘! Und wieder rieselte Sand und Mörtel von der Decke. Die Stützbalken knirschten und bebten bei den heftigen, vermutlich nahen Detonationen. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns, jetzt und in der Stunde unseres Todes."

    Auch die drei Männer und der kleine Hitlerjunge, der in Uniform im Keller saß, beteten laut mit. Krachen, Detonieren und Bersten, nah und fern‚unaufhörlich. Wie lange schon? Wie lange noch? Steht das Haus noch über uns? Wird das Kellergewölbe halten?

    „Bitte für uns. Jetzt und in der Stunde unseres Todes!"

    Und wieder eine furchtbare Detonation. Die Sandsäcke, die zum Schutz gegen Splitter und anderes mehr, außen vor den Kellerfenstern lagen, wurden samt Kellerfenster von der Druckwelle der explodierenden Bombe in den Luftschutzkeller geschleudert. Totenstille! Eine Sekunde? Zwei? Drei?Eine Frau schrie laut und schrill. Rosemarie sah hin. Es war die Kappes. Erste Etage rechts. Irgendetwas, das durch das Kellerfenster katapultiert worden war, hatte den Bruder der Kappes am Kopf getroffen. Der alte Mann lag blutend und an allen Gliedern zitternd auf dem Boden.

    Funke kam mit dem ‚Erste Hilfe Kasten‘, sah nach der Kopfwunde und verband den Mann, der in einem Schockzustand war. Während draußen das Inferno weitere Druckwellen, Erdklumpen und Trümmerreste durch das offene Kellerloch auf die Bewohner des Hauses schleuderte. Alle sahen den gewaltigen Feuerschein der brennenden Stadt. Nach Phosphor riechender, in den Augen beißender, die Atemwege zum Husten reizender Luftzug drang in den Keller. Panik entstand. Schreiend stürmten fast alle, die nicht behindert waren zur Kellertreppe. Funke brüllte Befehle, stellte sich den Menschen in den Weg, redete auf sie ein. Ohne Erfolg. Sie hasteten an ihm vorbei. Trampelten sich beinahe gegenseitig über den Haufen, um möglichst schnell aus diesem Keller zu gelangen.

    Mit Funkes Hilfe wuchtete Rosemarie eines der doppelstöckigen Pritschenbetten vor die Kellerfenster und dichtete sie mit nassen Wolldecken ab, um die furchtbare Luft, ‚den Atem des Infernos‘ von den im Keller gebliebenen Menschen fern zu halten.

    „Alle, die sich meinen Befehlen widersetzt haben, werde ich zur Anzeige bringen", tobte Funke, während draußen der Tod jede Sekunde vermutlich reiche Ernte hielt, bei Frauen, Kindern und meist alten Männern.

    Rosemarie hatte sich und ihren Kindern unter der Treppe einen – wie sie glaubte – sicheren Platz zum Überleben eingerichtet. Angst, Angst, Angst. Jedes Mal, wenn die Sirenen heulten, kam auch gleich die Angst über sie. Außer ihr und den Kindern waren noch drei Frauen, der Verwundete und Funke im Keller. Funke war anscheinend in seiner Ehre als Haus- und Blockwart gekränkt. „Ihr seid meine Zeugen, brüllte er die Frauen an. „Morgen werde ich bei der Kreisleitung Anzeige erstatten.

    Frau Mäuser, die so krank und dick war, dass sie sich nur schwerfällig bewegen konnte, lachte verächtlich. „Sie sind wohl der liebe Gott. Funke", schimpfte sie. „Woher wollen Sie denn wissen, dass ausgerechnet Sie morgen noch leben? Schämen sollten Sie

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