Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Graskissenbuch
Das Graskissenbuch
Das Graskissenbuch
eBook240 Seiten3 Stunden

Das Graskissenbuch

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Kunstvolle Gedichte und tiefsinnige Gedanken über das Wesen der Kunst und der Natur sind das einzige, was der junge Protagonist dieses Romans, ein junger Maler, auf seiner ziellosen Wanderung durch die Berge zustande bringt. Als er unterwegs die Tochter eines Gastwirts kennenlernt, ist er auf Anhieb fasziniert von ihr. Langsam kommen die beiden sich näher, und die emotionale Distanz, mit der er sich bislang vor den Zumutungen der Welt zu schützen versuchte, gerät ins Wanken.
Natsume Sosekis 1906 erschienener Künstlerroman verknüpft meisterhaft Motive westlicher und östlicher Literatur und besticht durch die Poesie seiner Sprache.

Ein Meisterwerk der japanischen Moderne – erstmals seit 20 Jahren wieder auf Deutsch erhältlich.
SpracheDeutsch
HerausgeberBeBra Verlag
Erscheinungsdatum2. Apr. 2020
ISBN9783839321423
Das Graskissenbuch

Ähnlich wie Das Graskissenbuch

Ähnliche E-Books

Klassiker für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Das Graskissenbuch

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Graskissenbuch - Natsume Soseki

    Nachwort

    I

    Ich stieg auf schmalem Pfad bergan und dachte bei mir: Wer nur der Vernunft folgt, eckt an. Wer in den Strom der Gefühle hinausrudert, wird von ihm erfasst. Wer seinen Willen durchsetzt, dem wird es bald zu eng. Es ist auf jeden Fall schwer, in der Menschenwelt zu leben.

    Wenn die Schwierigkeiten sich häufen, möchten wir in eine ruhigere Wirklichkeit hinüberwechseln. Irgendwann jedoch wird uns klar, dass das Leben überall schwer ist. Dann entsteht Poesie, wird Malerei geboren.

    Nicht Götter, nicht Dämonen haben die Menschenwelt erschaffen, sondern Durchschnittsbürger wie die Nachbarn in unserer Straße, die wir regelmäßig ihren Geschäften nachgehen sehen. Unsere Welt stammt von ganz normalen Sterblichen ab, und wohl deshalb gibt es kein Land, in das wir hinüberwechseln könnten, denn dafür käme nur ein nicht menschliches Land in Frage – ein solches wäre aber noch schwieriger zu bewohnen.

    Wir können diesem qualvollen Sein also nicht entfliehen, sondern müssen es uns darin bequem machen, so gut es geht, damit unser Leben erträglicher wird, und sei es nur für einen Augenblick, denn so kurz dauert es. Hierhin nun fällt die Berufung des Dichters, die naturgewollte Aufgabe des Malers: All diese Ritter der schönen Künste verdienen unsere Bewunderung, weil sie Frieden bringen in die Menschenwelt und unseren Geist bereichern.

    Dichtung und Malerei, aber auch Musik, Skulptur, nehmen dem schweren Leben das Leid und bilden eine neue, freundlichere Welt vor unseren Augen ab. Genau gesagt müssen sie sie nicht einmal wirklich abbilden, denn schon wenn wir sie nur in unserer Vorstellung sehen, lebt ein Gedicht auf, sprudelt ein Lied hervor. Auch ohne dass wir unsere Einfälle zu Papier bringen, erklingen Harmonien in unserer Brust, und dem Blick bietet sich eine ganze Pracht dar, ohne dass wir Farben auf unseren Malgrund pinseln. Es genügt vollauf, wenn man die Welt, in der man selbst lebt, in dieser neuen Weise betrachten und mit der Kamera der Seele die schmutzige, trübe Wirklichkeit klären und aufhellen kann. Aus diesem Grund ist sogar ein stummer Dichter ohne Strophe oder ein farbenloser Maler ohne Leinwand, der fähig ist, seine Umwelt in der genannten Art zu sehen und sich dadurch von den Qualen des Lebens zu erlösen, um in eine reine Welt zu entfliehen und ein allumfassendes Universum zu erschaffen, glücklicher als ein vergoldeter Fürst, glücklicher auch als ein Heerführer mit zehntausend Reitern oder ein Liebling des irdischen Schicksals.

    Nach zwanzig Jahren in dieser Welt habe ich erkannt, dass es sich dennoch lohnt, in ihr zu leben. Nach fünfundzwanzig ist mir bewusst geworden, dass hell und dunkel wie die Vorder- und Rückseite derselben Sache sind, dass dort, wo die Sonne scheint, bestimmt auch Schatten fällt. Und jetzt, mit dreißig, denke ich so: In Zeiten großer Freude ist die Trauer umso tiefer, und je mehr Glück wir erfahren, desto schlimmer ist unser Leid. Versuchten wir, diese Tatsache aus dem Weg zu räumen, hätte unsere Welt keinen Bestand. Geld ist wichtig … Nehmen aber wichtige Dinge überhand, sorgt man sich sogar nachts im Bett. Liebe ist wunderschön … Je mehr wir jedoch von Liebesglück erfüllt sind, desto lieblicher erscheint uns plötzlich unsere lieblose Vergangenheit. Auf den Schultern eines hohen Beamten ruht das Gewicht einiger Millionen Leute. Sein Rücken ist gebeugt unter einem schweren Staat … Bekommt man keinen Leckerbissen, so sehnt man sich danach. Ergattert man ein wenig davon, wird man nicht satt. Darf man aber nach Lust und Laune schmausen, fühlt man sich in der Folge unwohl.

    Bis an diesen Punkt waren meine Gedanken geschweift, als mein Fuß plötzlich über den Rand eines kantigen Steines, der nicht festsaß, ausrutschte. Mein linker Fuß sauste sofort nach vorn, um das Gleichgewicht zu wahren und dem Fehler entgegenzuwirken – prompt landete ich mit dem Hintern auf einem gar nicht so unbequemen, etwa drei Fuß großen Felsbrocken. Die Schachtel mit den Malutensilien, die ich über die Schulter gehängt hatte, entglitt mir und flog in hohem Bogen nach vorn, ansonsten war glücklicherweise nichts Schlimmeres geschehen.

    Als ich aufstand und meine weitere Umgebung wahrnahm, sah ich, dass links des Weges Berggipfel wie umgekehrte Eimer emporragten, die vom Fuß bis zur Spitze über und über mit dunklen, blaugrünen Bäumen bewachsen waren – ob Zedern oder Zypressen, wusste ich nicht. Dazwischen zogen sich rosa blühende Bergkirschen wie Girlanden hin. Dichte Nebelschwaden verdeckten die Übergänge zwischen den Bäumen. Etwas näher zu mir erhob sich aus der Menge der Berge ein kahler Hügel, der mir in die Augen fiel. Seine nackten Seiten stießen verzweifelt und scharf ins Tal, als habe sie ein Riese mit der Axt behauen. Auf dem Grat wuchs ein einzelner Baum, vermutlich eine Rotkiefer. Zwischen ihren Ästen konnte ich sogar Stücke des Himmels erkennen. In meiner Gehrichtung brach der Weg offensichtlich nach etwa zweihundert Metern ab. Weiter oben jedoch regte sich eine menschliche Gestalt, die in eine rote Decke gehüllt war. Es schien mir ratsam, dorthin aufzusteigen, um weiterzukommen. Der Weg war äußerst beschwerlich und schwierig zu finden.

    Hier den Boden zu planieren, wäre zwar nicht allzu aufwendig gewesen, doch steckten in der Erde riesige Felsbrocken, die einzuebnen unmöglich gewesen wäre. Die Steine hätte man sprengen können, aber bei den Felsen wäre man nie an ein Ende gelangt. Die freigegrabenen Blöcke wären unverändert liegengeblieben. Sie gaben überhaupt nicht den Anschein, als wollten sie uns Menschen den Weg räumen. Da sie also nicht auf mich hörten, musste ich wohl oder übel darübersteigen oder um sie herumgehen. Sogar die felsenlosen Stellen waren unwegsam, denn der Pfad war tief eingegraben, mit hohen Wänden zu beiden Seiten. Im Querschnitt glich er, so könnte man sagen, einem umgekehrten Dreieck, dessen Spitze unten auf der Mittellinie lag, und das ungefähr sechs Meter lange Schenkel hatte. Es schien mir, als bewegte ich mich am Grunde eines Flusses fort, anstatt auf einem Weg. Da ich von Anfang an nicht die Absicht gehabt hatte, mich auf dieser Reise zu beeilen, nahm ich die vielen Windungen des Pfades gemächlich in Angriff.

    Plötzlich ertönte unter meinen Füßen Lerchengesang. Ich blickte ins Tal, konnte jedoch weder den Vogel noch seinen Schatten erkennen. Nur die Stimme war deutlich zu hören: ein geschäftiges, pausenloses Zwitschern. Es wirkte so, als werde die Luft im Umkreis mehrerer Meilen so heftig von Flöhen gebissen, dass sie es nicht mehr aushielt. Dieser Gesang hatte keinen freien Moment zu vergeben. Man merkte, dass der Vogel keine Ruhe fand, bis er den milden Frühlingstag ganz und gar ausgefüllt und bis zur äußersten Klarheit, zum wahren Leben gebracht hatte. Höher, immer höher empor stieg der Gesang. Bestimmt stirbt die Lerche mitten in den Wolken. Vielleicht treibt sie, wenn sie ihren absoluten Höhepunkt erreicht hat, einfach in die Wolken hinein und schwebt dahin, bis sie entschwindet und nur noch ihr Gesang vom weiten Himmel erschallt.

    An einer Stelle mit winkligen Felsen, bei der ein Blinder wohl kopfüber in die Tiefe gestürzt wäre, musste ich scharf nach rechts biegen. Ich blickte seitlich hinunter. Ein weites Feld von blühendem Raps tat sich vor mir auf. Vielleicht ließ sich die Lerche dort irgendwo nieder? Nein, dachte ich, eher ist sie von der goldenen Fläche aufgestiegen! Oder kreuzten sich eine steigende und eine sinkende Lerche im Flug? Schließlich dünkte es mich, die Lerche müsse wohl immerfort fröhlich singen, ob sie nun steige, sinke oder sich mit einer anderen kreuze.

    Im Frühjahr wird alles schläfrig. Die Katzen vergessen, auf Mäusejagd zu gehen. Wir Menschen vergessen, dass wir Schulden haben. Manchmal vergessen wir sogar, an welchem Ort sich unsere eigene Seele befindet, und verlieren fast unser Selbstbewusstsein. Aber wenn wir von ferne ein blühendes Rapsfeld sehen, wachen wir auf. Und wenn wir eine Lerche zwitschern hören, wissen wir plötzlich wieder ganz genau, wo sich unsere Seele befindet. Die Lerche singt nämlich nicht nur mit dem Schnabel, sie jubiliert mit ihrem ganzen Sein. Unter allen Wesen, deren Seele sich in der Stimme äußert, ist sie wohl das lebensfrohste. Plötzlich fiel mir das Lerchengedicht von Shelley ein, und ich murmelte die paar Zeilen, die ich auswendig wusste, vor mich hin:

    We look before and after

    And pine for what is not

    Our sincerest laughter

    With some pain is fraught

    Our sweetest songs are those

    That tell of saddest thought[1]

    (Wir schauen vorwärts und zurück/ Sehnen uns nach dem, was nicht ist/ Unser Lachen, und sei es noch so ehrlich/ Ist immer auch von Leid durchwirkt/ Unsere lieblichsten Lieder/ Enthalten die traurigsten Gedanken.)[2]

    Ich begriff, dass ein Dichter, und wäre er noch so glücklich, sich nie wie jene Lerche voll darauf konzentrieren könnte, seine Freude hinauszusingen, ohne an Vergangenes oder Zukünftiges zu denken. Ganz zu schweigen von der europäischen Poesie – auch in der chinesischen erscheinen oft Ausdrücke wie tausend Tonnen Trauer. Wo es bei den Dichtern abertausend Tonnen sind, reicht bei den Durchschnittsmenschen schon etwa ein Pfund. Die Dichter neigen eben mehr als andere Leute dazu, sich abzuquälen, denn sie haben wohl doppelt so empfindliche Nerven wie jene. Wenn sie zeitweise überirdisches Glück erleben dürfen, so leiden sie doch auch an abgrundtiefer Trauer. Man muss es sich also gut überlegen, ob man Dichter sein will!

    Eine Weile verlief der Weg eben. Rechts von mir setzten sich die bewaldeten Berge fort, links die Rapsfelder. Ab und zu trat ich unabsichtlich auf Löwenzahnpflanzen, die ihre gezackten Blätter zuversichtlich in alle Richtungen streckten, um die goldgelben Scheiben in ihrer Mitte zu schützen. Es tat mir leid, dass ich sie zertreten hatte, als ich mich von den Rapsfeldern hatte in Bann schlagen lassen. Aber als ich zurückschaute, thronten die gelben Blüten wie zuvor gelassen zwischen ihren zackigen Blättern. So unbekümmert! Ich hing weiter meinen Gedanken nach.

    Während das Leid also vielleicht der unvermeidliche Begleiter eines jeden Dichters ist, war im Gefühl, das ich hegte, als ich jener Lerche zuhörte, nicht das kleinste Quäntchen Trauer enthalten. Und auch beim Anblick der Rapsfelder erfüllte meine Brust nichts als tanzende Freude. Beim Löwenzahn war es genauso, und auch die Kirschblüten … doch die waren in der Zwischenzeit nirgends mehr zu sehen. Alles was ich sah und hörte, wenn ich in die Berge stieg und direkt mit der Natur in Berührung kam, war für mich interessant. Es war reiner Genuss, ohne dass daneben irgendein besonderes Leid aufkam. Mir schmerzten höchstens einmal die Füße, oder ich konnte gerade nichts Gutes zum Essen auftreiben.

    Aber wieso empfand ich denn überhaupt kein Leid? Wohl deshalb, weil ich meine Umgebung wie ein Bild betrachtete, wie ein Gedicht las. Wenn ich das tat, kam in mir nicht die Absicht auf, hier ein Grundstück zu kaufen und urbar zu machen, oder dort eine Eisenbahnlinie hindurchzuführen. Diese Landschaft an sich – nur diese Landschaft, die mich weder ernähren noch mein Monatsgehalt vergrößern konnte – erfüllte mich mit reiner Freude, der weder Leid noch Sorgen beigemischt waren. In dieser Hinsicht ist die Kraft der Natur bewundernswert: Sie vermag unser Wesen unmittelbar zu bilden, zu klären, und ist fähig, uns augenblicklich in das reine Land der Poesie zu entführen.

    Die Liebe zwischen Mann und Frau, die Verehrung der Kinder für ihre Eltern sind wohl schön, und es mag auch recht sein, wenn ein Ritter seinem Fürsten Loyalität beweist,[3] doch wenn man all diese Pflichten auf sich nimmt, gerät man in den Sog des Eigeninteresses, so dass es einem schließlich vor lauter »schönen« und »guten« Dingen ganz schwarz vor den Augen wird. In diesem Zustand kann man nicht mehr entscheiden, ob etwas poetisch ist oder nicht.

    Um dies zu tun, muss man sich in die Position eines Dritten versetzen, der genug Abstand hat. Gerade in einer solchen Sichtweise liegt der Reiz beim Drama oder beim Roman: Leute, die es genießen, ein Theaterstück zu sehen oder einen Roman zu lesen, stellen ihr Eigeninteresse für eine Weile hintan. Solange sie zuschauen oder lesen, sind sie Dichter.

    Dennoch entziehen sich die meisten Schauspiele und Erzählungen nicht den Verwicklungen der menschlichen Gefühle. In ihnen kommen bald Leid und Zorn vor, bald Lärmen und Weinen. Und irgendwann wird der Zuschauer mit hineingezogen, leidet, wird zornig, lärmt und weint mit. Vielleicht ist der einzige Vorteil dieser Werke, dass in ihnen zumindest Gier und Habsucht keine Rolle spielen. Dafür sind allerdings die anderen Leidenschaften in noch höherem Maße als im Alltagsleben vorhanden. Das ist mir zuwider!

    Leiden, Zornigwerden, Lärmen und Weinen gehören unabdingbar zur Menschenwelt. Auch ich habe sie dreißig Jahre lang bis zum Überdruss ausgekostet. Es ist mir zu viel, diese Erregungen auch noch in Theaterstücken und Romanen immer wieder über mich ergehen zu lassen. Poesie, wie ich sie mir vorstelle, reitet nicht ständig auf solchen weltlichen Gefühlen herum. Im Gegenteil: Sie gestattet mir, die gemeinen Gedanken abzuschütteln und mich von der staubigen Wirklichkeit zurückzuziehen, wenn auch nur für beschränkte Zeit. Bisher haben sich auch die besten Dramen nicht von den menschlichen Leidenschaften lösen können, und nur ganz wenige Erzählungen bewegen sich außerhalb der gängigen Moral. Es ist ein Kennzeichen dieser Werke, dass sie sich nicht aus dieser Welt wegheben können. In der Literatur des Westens tritt diese Eigenschaft besonders deutlich zutage. Hier ist auch die sogenannte »reine Poesie« unfähig, die Grenzen dieser Welt zu sprengen, da sie nur das Menschliche zur Grundlage hat. Sie besteht aus nichts als Mitgefühl, Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit und beschränkt sich auf dasjenige, womit wir auf dem Markt unseres vergänglichen Lebens handeln. Wie poetisch sie auch sein mag, sie strampelt sich auf dem Erdboden ab und zählt immer nur einzelne Cent. Es ist kein Zufall, dass Shelley geseufzt hat, als er die Lerche singen hörte.

    Glücklicherweise gibt es im Osten Gedichte, die sich davon haben lösen können.

    Ich pflücke Chrysanthemen am östlichen Hag, betrachte gelassen die südlichen Berge.[4]

    Mit wenigen Worten wird hier eine Szenerie beschrieben, die uns das hitzige Leben völlig vergessen lässt. Kein Nachbarsmädchen guckt schelmisch über den östlichen Hag, kein vertrauter Freund lebt in den südlichen Bergen. Es entsteht ein Gefühl, als sei man der Welt enthoben und könne sich endlich den Schweiß des Eigeninteresses, der Vor- und Nachteile, abwischen.

    Allein sitze ich, verborgen inmitten eines Bambusdickichts

    Zupfe Saiten, pfeife mir etwas vor

    Tiefe Wälder, den Menschen unbekannt

    Nur der Mond kommt und scheint mir ins Gesicht[5]

    Diese vier Zeilen genügen dem Dichter, ein ganzes Universum zu erschaffen, dessen Qualität nichts gemeinsam hat mit derjenigen von Romanen wie Hototogisu[6] oder Konjiki yasha[7]. Sie ist vielmehr von einer Art, die uns, wenn wir von Dampfschiffen, Eisenbahnzügen, Macht, Pflicht, Tugend und Anstand völlig erschöpft sind, alles vergessen und ruhig schlafen lässt.

    Wenn nun im zwanzigsten Jahrhundert Schlaf vonnöten ist, dann ist eine solche »weltenthobene Poesie« wichtig. Leider sind die heutigen Dichter, und mit ihnen auch die Leser, von den Europäern angesteckt, und es scheint unter ihnen nur sehr wenige zu geben, die bereit sind, frisch drauflos einen sorgenfreien, leichten Nachen[8] zu besteigen und zum Pfirsichblütenquell[9] hinaufzufahren. Ich selbst bin nie professioneller Dichter gewesen, habe also eigentlich nicht die Neigung, die Poesie eines Tao Yuanming oder Wang Wei in unsere heutige Welt zu verpflanzen. Ich meine nur, dass ihre Inspiration für uns eine bessere Medizin darstellt als Theaterabende und Bälle, vortrefflicher ist als Faust oder Hamlet.

    Solche Gedanken waren es, die bewirkten, dass ich jetzt im Frühjahr, mit den Malutensilien in der Schachtel und dem dreibeinigen Klappsessel bewaffnet, gemächlich den Gebirgspfad entlangwanderte. Ich wollte die Poesie von Tao Yuanming und Wang Wei direkt aus der Natur saugen und – sei es auch nur für kurze Zeit – ziellos durch eine Welt streifen, die frei ist von menschlichen Leidenschaften. Das war eine Schrulle von mir, ein Rausch.

    Da auch ich Teil der Menschheit bin, konnte ich freilich meine »Weltabgeschiedenheit« unmöglich ewig beibehalten, so sehr ich sie auch liebte. Schon Tao Yuanming starrte vermutlich nicht jahrelang auf die südlichen Berge, und Wang Wei mochte es wohl nicht besonders, ohne Moskitonetz in seinem Bambusdickicht zu schlafen. Wahrscheinlich verhökerte der eine seine überzähligen Chrysanthemen an einen Blumenladen, während der andere seine Bambussprossen einem Gemüsehändler verkaufte. Bei mir war es nicht anders. Zwar gefielen mir die Lerche und die Rapsblüten überaus, doch wollte ich meine »Weltabgewandtheit« nicht so weit treiben, dass ich in den Bergen im Freien übernachtete. Sogar hier traf ich übrigens auf Menschen: ländliche Gestalten, die ihre Kimonos in die Gürtel hochgesteckt hatten und Kopftücher trugen, Frauen, deren rote Unterröcke sichtbar waren, und hie und da auch ein Pferd, dessen Gesicht länger war als das der Menschen. Selbst hier, wo ich, umringt von Millionen Zypressen, einige hundert Fuß über dem Meeresspiegel die Luft ein- und ausatmete, konnte ich den Geruch der Menschheit nicht abstreifen. Doch wie dem auch sei, mein Ziel, an dem ich nach der Überquerung des Berges zur Ruhe kommen wollte, war das Dörfchen Nakoi mit seinen Thermalquellen. Dort würde ich die Nacht verbringen.

    Es gibt unzählige Arten, ein Ding zu sehen. Leonardo da

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1