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Beinah eine Familie
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eBook287 Seiten3 Stunden

Beinah eine Familie

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Über dieses E-Book

Eine zweite Chance für die Liebe? Eine herzerwärmende Liebesgeschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberStephanie Bond
Erscheinungsdatum9. Aug. 2016
ISBN9781945002083
Beinah eine Familie
Autor

Stephanie Bond

Stephanie Bond walked away from a corporate career in computer programming to write romantic fiction full time. These days she uses her computer keyboard to produce fast-paced novels with a comedic twist. Stephanie lives with her husband and her laptop in midtown Atlanta.

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    Buchvorschau

    Beinah eine Familie - Stephanie Bond

    information

    Beinah eine Familie

    Von

    Stephanie Bond

    Übersetzt aus dem Amerikanischen von

    Ulrike Wiehr

    Das Leben gab ihnen eine zweite Chance für die Liebe …

    Widmung

    In Erinnerung an meine geliebte Tante

    Fonda Sue Bond,

    eine warmherzige und lustige Dame,

    die meine Liebe zu Büchern

    stets gefördert hat.

    Erstes Kapitel

    „Die Sieben in die Seitentasche", sagte Bailey Kallihan leise. Er spähte mit zusammengekniffenen Augen an seinem Queue entlang und schob den glatten Stock zwischen seinen gespreizten Fingern vor und zurück. Die starren Blicke von einigen Dutzend Gästen des Sage Saloons bohrten sich in seine Haut. Im Hintergrund gab George Jones ein klägliches Heulen von sich. Einige Tropfen Schweiß rannen ihm zwischen den Schulterblättern hinab. Anstatt an die dreihundert Dollar zu denken, die er bei diesem Spiel zu verlieren hatte, konzentrierte sich Bailey auf die dreihundert, die er vorhatte zu gewinnen.

    Er zog den Stock ein letztes Mal zurück und stieß ihn Richtung Kugel.

    „Bailey!"

    Vor Schreck machte er eine ruckartige Bewegung nach vorne und traf die Kugel mit einem dumpfen Klack, woraufhin sie sich kreiselnd in Richtung des Loches bewegte. Einige Zentimeter vom Ziel entfernt drehte die Sieben ab und traf auf die Acht, die nun auf ihrem neugebahnten Weg lag. Bailey zuckte zusammen und fluchte, als die schwarze Kugel ohne Umschweife im Loch verschwand. Die Menge stöhnte vor Bestürzung.

    „Scratch!", schrie sein Gegner über den ausbrechenden Trubel hinweg und griff sich mit einem Grinsen Baileys Geld, das auf der Tischkante lag.

    Mit finsterem Blick richtete sich Bailey auf, wandte sich der Menge zu und fragte drohend: „Wer zur Hölle war das?"

    Die Zuschauer zuckten mit den Schultern und wichen auseinander, Köpfe drehten sich. Bailey warf sein Queue auf den Tisch und ließ den Blick über die Ansammlung von Möchtegerncowboys und ihren Anhängseln schweifen. Die Stimme hatte weiblich geklungen. Er würde niemals eine Frau schlagen, doch falls es Lisa war, die nach ihm gerufen hatte, hatte sie sich wahrscheinlich ein gutes Durchschütteln eingehandelt.

    Ein kleiner Aufruhr weiter hinten schien sich nach vorne zu bewegen. Als Bailey ein paar Pfiffe in die Ohren drangen, reckte er den Hals, um sich eine bessere Sicht auf die auftauchende Frau zu verschaffen. Er hörte gemurmelte Entschuldigungen, bevor sie sich durch die Menge zwängte und etwa drei Meter vor ihm zum Stehen kam.

    Wiedererkennen traf Bailey mit voller Wucht. Er blinzelte heftig, während ihm das Herz tief in die Hose rutschte. Seine Haut kribbelte und seine Kehle schnürte sich zu. Das Kostüm und die Frisur waren ihm fremd, doch diese Augen … Er hatte so viele Male Tränen in diesen karamellfarbenen Augen stehen sehen, dass er sie auch jetzt, wo sie ebenfalls schimmerten, nicht verwechseln konnte.

    „Virginia?", flüsterte er.

    Sie umklammerte ihre Handtasche mit so festem Griff, dass sich das Weiß ihrer Fingerknöchel abzeichnete. „Bailey", sagte sie schlicht. Ihr schönes Gesicht war passiv, ihre Stimme ein ungleichmäßiges Krächzen.

    Jahre lösten sich in Luft auf … Sie hätte das gleiche Mädchen sein können wie vor acht Jahren, das ihm unter sorgenvollen Tränen von dem Baby erzählte, das sie gezeugt hatten, … oder das Mädchen, das später unter Tränen des Glücks ihr Ehegelübde abgelegt hatte, … oder das Mädchen, das unter untröstlichen Tränen bekanntgegeben hatte, dass ihr zwei Monate alter Sohn gekidnappt worden war, … oder das Mädchen, das ihm unter wütenden Tränen offenbart hatte, dass sie die Scheidung wollte.

    Nun, Virginia Catron war kein Mädchen mehr, doch dem Ausdruck in ihren Augen nach zu schließen beutelte sie das Leben noch immer kräftig. Er war nicht stolz darauf, dass zum größten Teil er es gewesen war, der ihren früheren Herzschmerz verursacht hatte. Doch was war nun? Ein Todesfall? Einer ihrer Eltern?

    Er ging mit etwas zittrigen Beinen auf sie zu. Sie holte scharf Luft und ihre Brust hob sich, so als ob sie all ihre Kräfte zusammennähme. Als er sich ihr näherte, wich die Menge zurück, doch blieb weiterhin gespannt, als ob sie irgendeinen Höhepunkt erwartete. Einen halben Meter vor ihr blieb er stehen, streckte ihr ungeschickt die Hand hin und schob sie in letzter Sekunde in seine Jeanstasche. „Virginia, was ist l–"

    „Sie haben unseren Sohn gefunden."

    Die Worte hallten in seinem vom Bier vernebelten Kopf wieder. Sie haben unseren Sohn gefunden. Fünf Worte, für die er anfangs gebetet hatte. Sie haben unseren Sohn gefunden. Dann, nachdem Monate vergangen waren, Worte, vor welchen es ihm gegraut hatte. Sie haben unseren Sohn gefunden. Letztendlich Worte, mit denen er sich abgefunden hatte, dass er sie niemals hören würde. Sie haben unseren Sohn gefunden.

    „Hast du mich gehört, Bailey?" Ihre Stimme zitterte. Sie stand völlig starr und hatte ihre Hände zu festen kleinen Fäusten zusammengeballt. Ein zerknittertes weißes Tempotaschentuch lugte aus einer hervor. Die Tränen hatten ihr das Make-up vom Gesicht gewaschen und ihre Lippen waren zusammengepresst.

    Es war zu viel, das Wiedersehen mit Virginia und dann die Vorstellung von den Überresten ihres kleinen Sohnes, Bailey Junior. Jahrelang hatte er nicht schlafen können, während er sich gefragt hatte, welche Torturen sein Kind wohl hatte aushalten müssen. Erinnerungen daran, wie er an der Seite von Freiwilligen die Gegend durchkämmt hatte, wo die Decke ihres Babys gefunden worden war, schossen ihm wie Blitze durch den Kopf. War er vielleicht direkt an der kleinen Leiche vorübergegangen? Hatten Jäger nun das winzige Skelett gefunden? Schmerz glühte in seinem Magen und verbrannte ihm die Brust.

    Er starrte Virginia an, seine Zunge war dick und schwerfällig. Sie erwartete, dass er irgendetwas Tiefgründiges von sich gab, doch er brachte bloß ein Nicken hervor. „Ich hab‘ dich gehört." In seinen Ohren klang er wie ein verletztes Tier und er sah, wie sie zur Antwort zurückwich.

    Zum ersten Mal erinnerte er sich an ihr Publikum. Alte Freunde, bloße Bekanntschaften und völlig Fremde begafften sie – sie konnten ihre Unterhaltung zwar nicht mithören, doch sahen nichtsdestotrotz ungemein neugierig aus. Der feuchtwarme Biergeruch und der dichte Zigarettenqualm schnürten ihm plötzlich die Luft ab. Er streckte die Hand aus und fasste sie am Ellenbogen, drehte sie sanft um. „Lass uns woanders hingehen zum Reden", sagte er nah an ihrem Ohr. Sie nickte knapp und zog sich einige Zentimeter von ihm zurück.

    Bailey runzelte die Stirn, doch seine kurzzeitige Enttäuschung über ihren Reflex verflüchtigte sich, als er an die düstere Unterhaltung dachte, die ihnen bevorstand. Während er sie durch die Menge hindurch und zum Vordereingang schleuste, wurden die Musik und das Gelächter noch lauter. Ein Wet-T-Shirt-Contest war in vollem Gange und Männer standen Schlange, um eimerweise eisiges Wasser über die willigen Kandidatinnen zu schütten. Virginia wandte den Blick ab, und er gestattete sich einen Anflug von Beschämung darüber, dass sie ihn in einem seiner geschmacklosen Stammlokale hatte aufsuchen müssen, um ihm ihre ernüchternde Nachricht mitzuteilen.

    In ihrem maßgeschneiderten schiefergrauen Blazer und enganliegenden Rock, ihrer transparenten Strumpfhose und den Lederpumps hätte sie nicht mehr fehl am Platze aussehen können. Sie hatte ihr honigfarbenes Haar zu einem engen Knoten gewunden, der hoch auf ihrem Hinterkopf saß, und nur der Pony, der ihr Gesicht umrahmte, nahm ihrem Aussehen ein wenig die Strenge. Seine unverschämte, spaßliebende Kommilitonin war zu einer eleganten Geschäftsfrau mit Klasse herangereift. Sie ernteten mehr als nur ein paar Blicke, während sie sich ihren Weg zur Tür bahnten.

    Bailey verbiss sich ein bitteres Lachen. Die Schöne und der Vagabund. Ihre Scheidung war schlecht verlaufen, doch es schien, als wäre es ihr ohne ihn besser ergangen.

    Virginia blickte starr geradeaus und ihr Mund war eine harte, schmale Linie. Ihr Rücken blieb steif, und Bailey empfand plötzlich den Drang, sie in die Arme zu schließen, zu spüren, wie sie sich an ihn schmiegte und an seiner Brust weinte. Bevor ihr Baby geboren worden war, hatte sie viele Male genau das getan, und er war froh gewesen, ihr seine Stärke anbieten zu können, während er selbst verzweifelt versuchte, seine eigenen Ängste davor zu verbergen, plötzlich Ehemann und Vater zu werden. Doch in seiner Trauer nach der Entführung war er auf sie losgegangen, hatte unverzeihliche Dinge gesagt. Seit diesem schrecklichen Tag hatte er sie nicht mehr in den Armen gehalten.

    Ohne sich dessen bewusst zu sein, festigte er durch den weichen Stoff hindurch seinen Griff um ihren Arm, und sie verkrampfte sich noch mehr.

    Er konnte ihr nicht verdenken, dass sie ihn hasste. Wie hätte er das auch tun können, wo er sich doch selbst hasste?

    „Bailey?", sagte eine affektierte weibliche Stimme hinter ihm.

    Bailey zuckte zusammen. Er hatte Lisa vergessen. Er wollte erst gar nicht anhalten, doch Virginia wurde langsamer und sagte: „Ich glaube, da will jemand mit dir sprechen."

    Bailey ließ Virginias Arm los und wandte sich schnell zu Lisa um. Die Augen der Blondine waren weit und fragend, als sie Virginia von Kopf bis Fuß musterte. Ihre Haltung mit den auf die Hüften gestützten Händen betonte ihre üppigen Brüste, die von einem durchsichtigen, nassen Trägertop bedeckt waren, welches nichts der Fantasie überließ. Sie feixte. „Wohin soll‘s denn gehen, Bailey Boy?"

    Hitze stieg in Baileys Gesicht auf. Er mied Virginias Blick. Er zog seinen Geldbeutel aus der Tasche, nahm einen Zwanziger heraus und steckte ihn der jungen Frau in die Hand. „Planänderung, hier ist Geld für ein Taxi." Dann ergriff er wieder Virginias Ellenbogen und führte sie hinaus auf den Gehsteig, in die milde Luft des Hochsommers.

    Das Nachtleben in Columbus, Ohio, kam normalerweise erst gegen Mitternacht so richtig in Schwung, und so waren die schlimmsten Menschenansammlungen und der Verkehr noch einige Stunden entfernt. Doch die Straßenverkäufer und Straßenkünstler waren noch mit den späten Käufern beschäftigt, die sich noch nicht auf den Heimweg gemacht hatten.

    „Mein Auto steht gleich hier um die Ecke, erklärte Bailey. „Es gibt ein Café einen Block weiter.

    „Lass uns laufen", schlug Virginia vor und starrte weiterhin geradeaus.

    Er nickte und übernahm ihren Gehrhythmus, passte die Länge seiner Schritte an ihre an. Nach einigen Sekunden der Stille fragte er: „Willst du später darüber reden?"

    Sie schüttelte den Kopf und schniefte. „Nein. Ihre Stimme klang nun stärker, dafür jedoch gezwungen. „Ich habe heute bis spät gearbeitet und als ich heimkam, wartete eine Nachricht von Detective Lance auf mich. Erinnerst du dich an ihn?

    Bailey nickte – der Mann war der Leiter der örtlichen Ermittlungen nach der Entführung ihres Sohnes gewesen, war hartnäckig geblieben, selbst als das FBI schon aufgegeben hatte.

    „Jedenfalls sagte er in seiner Nachricht, dass er Neuigkeiten hätte und so bald wie möglich mit uns sprechen muss. Er hat dir auch eine Nachricht hinterlassen, aber da er zu dem Zeitpunkt, als ich ihn zurückrief, noch nichts von dir gehört hatte, nahm ich an, dass du noch nicht nach Hause gekommen warst."

    Eine nette Art zu sagen, dass er von der Arbeit aus direkt in die Bar gegangen war, dachte sich Bailey.

    Diesmal suchte sie seinen Blick und er sah, dass wieder Tränen in ihren Augen standen. Während sie sich mit dem zerfledderten Tempotaschentuch darüberwischte, sagte sie: „Es tut mir leid, Bailey. Ich hätte auf dich warten sollen, aber ich konnte einfach nicht –"

    Ihre Stimme stockte. „Ich konnte es einfach nicht ertragen, noch eine einzige Minute länger darauf zu warten, die Wahrheit zu erfahren."

    Er wünschte sich, dass er dabei gewesen wäre, doch er verstand ihre Ungeduld. Seine Kehle schmerzte, während er krampfhaft versuchte, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten.

    Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und räusperte sich. „Dann ist er zu mir gekommen, und als er mir erzählte, sie hätten Bailey Junior gefunden –, ihre Stimme überschlug sich, „wusste ich nicht, was ich sagen soll. Sie schenkte ihm ein feuchtes Lächeln und sein Herz machte einen Sprung. „Acht lange Jahre habe ich darauf gewartet, diese Worte zu hören, und ich wusste nicht, was ich sagen soll."

    Bailey knirschte mit den Zähnen. Er hätte dabei sein sollen, und sei es nur, um Virginia zu trösten, wie er es schon vor acht Jahren hätte tun sollen. „Es tut mir leid, Ginny, sagte er, wobei ihm sein Kosename für sie herausrutschte. „Es tut mir so leid. Er verlangsamte seine Schritte und griff nach ihrer Hand, um sie zu drücken.

    Sie hielt abrupt an und starrte auf ihre Hände. „Bitte, was? Ihre Stirn legte sich in Falten. „Es tut dir leid, dass sie unser Kind gefunden haben?

    Bailey suchte nach den richtigen Worten. „Nein, es tut mir nicht leid, dass dieser Albtraum endlich ein Ende hat. Es tut mir nur so leid, dass du die schlechten Nachrichten alleine hören musstest."

    „Schlechten Nachrichten? Ginny sah einige Sekunden lang verwirrt aus, dann wurden ihre Augen vor Verblüffung ganz rund. „Oh, Bailey, ich … ich meine, du … Ich dachte, du hättest verstanden …

    Nun war er an der Reihe, verwirrt zu sein. „Was verstanden?"

    „Bailey." Sie blickte ihm forschend in die Augen, die Stimme voller Verwunderung. „Unser Sohn ist am Leben."

    Zweites Kapitel

    Bailey stand stocksteif da. Seine Stimme schien wie gelähmt. Er fühlte, wie sich sein Mund öffnete und schloss, doch es kam kein Laut heraus. Ginnys Gesicht wurde abwechselnd scharf und verblasste wieder, und einige Sekunden lang dachte er, er würde vielleicht ohnmächtig werden. Ihre Worte waren zu unglaublich, als dass sie wahr sein konnten. „Was … Wie …" Ein Passant rempelte gegen seinen Arm, was ihn aufschrecken ließ. Der Mann entschuldigte sich und ging weiter.

    „Ich muss mich hinsetzen", sagte sie mit zitterndem Kinn. Bailey blickte auf und sah, dass sie nur ein paar Schritte von dem Café entfernt waren. Er ergriff ihre Hand und führte sie zur Tür. Eine ganze Minute lang hielt sie seine Hand fest umklammert und Bailey empfand eine seltsame Regung in der Bauchgegend. Genau wie in alten Zeiten.

    Sie nahmen eine Nische für sich in Anspruch, setzten sich einander gegenüber. Nur widerwillig ließ er ihre Hand los. Ginny seufzte, als sie in die weichen Polster sank. Sie sah erschöpft aus. Um ihre Augen, Nase und Lippen herum leuchteten rosarote Ringe. Bailey empfand einen Anflug von Mitleid für sie, doch er konnte nicht länger auf Antworten warten. „Ginny, was ist passiert?"

    Sie holte tief Luft, wobei sie das zerfetzte Taschentuch noch immer fest in ihrer Hand hielt. „Detective Lance bekam heute Morgen einen Anruf aus Fort Lauderdale. Vor ein paar Wochen ist dort eine Frau gestorben, und vor ihrem Ableben erzählte sie einer Krankenschwester, dass sie ihren Sohn als Säugling aus einem Supermarkt in Columbus, Ohio, entführt hatte." Ihre Stimme erstickte und sie biss sich auf die Unterlippe, um sich wieder zu fangen.

    Bailey streckte sich erneut nach ihrer Hand aus, wollte sie trösten, doch sie zog sich zurück und richtete die Schultern auf. „Mir geht’s gut", sagte sie rundheraus.

    Mir nicht. Lass mich dich anfassen, lass mich teilhaben. Er ließ die Hände sinken und hielt sich an den Kanten des kleinen Tisches fest, doch er fühlte sich noch immer aus dem Gleichgewicht. Ginnys Lippen bewegten sich langsam und er konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Worte, die herauskamen.

    „Nachdem die Frau verstarb, meldete die Krankenschwester diese Unterhaltung den Behörden. Als die Polizei von Fort Lauderdale keine Anzeichen finden konnte, dass die Frau ein Kind geboren hatte, suchten sie über das Computersystem nach ungeklärten Entführungsfällen. Als sie Kontakt mit der Polizei von Columbus aufnahmen, nahm Detective Lance die Sache in die Hand. Sie schluckte hörbar. „Er sagte, er wollte sich erst ganz sicher sein, bevor er Hoffnungen in uns weckt, doch offenbar stimmen die Fingerabdrücke des Jungen mit denen unseres Sohnes überein, und die DNA-Probe, die sie damals nach der Entführung genommen haben, passt ebenfalls. Bei den letzten Worten fing ihre Stimme an zu quietschen und sie lächelte Bailey zitternd an.

    Panik verdrehte ihm den Magen, und die eine Frage, die er bis zur völligen Erschöpfung in seinem Kopf hin- und hergewälzt hatte, platzte aus ihm heraus. „Wurde er … misshandelt?"

    Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Gottseidank nicht."

    Er stieß seinen aufgestauten Atem aus und wischte sich mit der Hand über das Gesicht. Nachdem er sich beinahe ein Jahrzehnt lang von allem und jedem in seinem Leben innerlich distanziert hatte, ließen ihn die Ereignisse der vergangenen paar Minuten sich so fühlen, als hätte man ihm die Eingeweide herausgerissen und sein Herz zur Schau gestellt. „Ich kann es nicht glauben … Ich kann es einfach nicht glauben. Er spreizte die Finger, verzweifelt auf der Suche nach festem Halt. „Was geschieht als nächstes?

    Ihre Lippen öffneten sich einen Spalt. „Was geschieht als nächstes? Ihre Stimme klang ungläubig. Sie richtete sich auf, drückte den Rücken an die Sitzlehne. „Ich fahre nach Florida und hole mein Kind. Mom und Dad fliegen morgen Früh mit mir hin. Ich bin hier, um zu sehen, ob du mit uns kommen willst.

    Ihre Andeutung ließ Ärger in ihm auflodern. Konnte es möglich sein, dass sie dachte, er würde keinen Anspruch auf sein Kind erheben wollen? „Natürlich komme ich mit, polterte er. „Ich bin sein Vater. Ich wollte nicht so klingen, als ob … ach, zur Hölle, ich weiß nicht, wie ich klingen wollte. Er lehnte sich zurück an das Polster und sah sich in dem halb leeren Café um. „Das alles hat mich völlig umgehauen, Ginny. Es tut mir leid, dass ich nicht all die Sachen sage, die du von mir hören willst."

    Sie schürzte die Lippen. „Mit deinen Bewältigungsstrategien bin ich vertraut, Bailey."

    Ihre Bemerkung durchstach seine Brust wie eine scharfe Messerklinge.

    „Was darf ich Ihnen bringen?", fragte ein bebrillter junger Mann.

    „Zwei Tassen Kaffee, schwarz", sagte Bailey in einem harscheren Tonfall, als er beabsichtigt hatte.

    „Entschuldigung, sagte Ginny, als sich der Mann zum Gehen wandte. „Lassen Sie es bei mir einen koffeinfreien mit Milch sein. Der Kellner nickte und verschwand dann. Sie wandte sich Bailey zu und hob leicht das Kinn. „Die Dinge ändern sich, Bailey."

    Er strich sich mit einer Hand durchs Haar und seufzte, seine Schultern sackten nach vorne. „Noch ein Punkt, in dem ich dir recht geben muss. Ich nehme an, wir müssen einander erst einmal auf den neuesten Stand der Dinge in unserem Leben bringen, bevor wir entscheiden können, wie wir umgehen sollen mit dieser, äh – er geriet einige Sekunden lang ins Stocken – „Sorgerechtssituation. Ihm kam ein Gedanke und sein Puls machte einen Sprung, als sein Blick auf ihre rechte Hand fiel. „Bist du verheiratet?"

    „Nein. Bist du?"

    Er redete sich ein, dass ihn die Neuigkeit deswegen erfreute, weil sie weniger Schwierigkeiten bedeutete. „Nein."

    Er wies mit einer Handbewegung auf ihre Kleidung und sagte: „Du scheinst ziemlich erfolgreich zu sein."

    „Ich bin Systemanalytikerin bei einer Brokerfirma."

    „Was genau ist eine Systemanalytikerin?"

    „Ich konzipiere Computersysteme – mein Spezialgebiet ist Aktienanalyse."

    Sie war schon immer schlau und kreativ gewesen, dennoch war er ein wenig überrascht. Er beugte den Kopf in ihre Richtung. Du? Computer?

    Sie reagierte gereizt. „Ich habe nochmal studiert und einen Abschluss in Informatik gemacht."

    Jahren vorher hatte er sich über die zeitlich unpassende Unterbrechung geärgert, zu der ihre spontane Hochzeit geführt hatte – er hatte damals nicht daran gedacht, dass auch Virginia Träume geopfert hatte. „ Es ist toll, dass du deinen Abschluss gemacht hast. Ich dachte nur, dass du immer noch bildhauerst."

    Sie strich sich eine abtrünnige Haarlocke hinters Ohr. „Ich wollte unabhängig sein, also habe ich mir etwas mit ein wenig mehr Stabilität ausgesucht."

    Ginny sah aus wie das Sinnbild der Unabhängigkeit, das musste er zugeben. Er konnte sie sich gut bei der Arbeit vorstellen, ganz Förmlichkeit und Reserviertheit, ohne dass einer ihrer Kollegen auch nur eine Ahnung hatte, dass sich unter dem spießigen Büro-Outfit ein warmer, üppiger Körper verbarg …

    „Bitteschön, sagte der Kellner und stellte zwei dampfende Tassen ab. „Kann ich Ihnen etwas zu essen bringen?

    Bailey sah Ginny an. „Hast du zu Abend gegessen?"

    „Ich hatte keine Zeit."

    „Ich auch nicht. Wie wäre es mit etwas Suppe?"

    Sie schüttelte den Kopf – eine Bewegung, die ihre spitz hervorstehenden Schlüsselbeine betonte. Er empfand einen Anflug von Besorgnis. „Ginny, du siehst fix und fertig aus. Iss was."

    Ihre Schultern wurden etwas runder und sie nickte. „Okay." Der junge Mann eilte davon, um ihnen die Spezialität des Hauses zu bringen.

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