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Auf einer verlorenen Straße: Chroniken der verlorenen Straße, #1
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eBook604 Seiten8 Stunden

Auf einer verlorenen Straße: Chroniken der verlorenen Straße, #1

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Über dieses E-Book

Der Sommer sollte Sonne, Familie und Spaß bedeuten ...

... keine untoten Krieger, mythischen Geschöpfe und Bäume, die leuchten. Aber genau das bekommt die 16-jährige Merelin.

Merelins Familie war schon immer etwas seltsam, aber seit ihr Vater vor vier Jahren verschwand, war das Leben ziemlich langweilig ... bis zu dem Tag, an dem ihre Welt unter ihr weggezogen wurde. Buchstäblich.

Das Aufwachen in der Wüste einer fremden Welt wäre ja schon schlimm genug, aber die einzige Person, die ihre Ankunft bemerkt, ist ein faszinierend-verärgerter Junge, der sich selbst Yatol nennt und ihr sagt, sie trage den Schlüssel, der seine Welt retten oder zerstören könnte.

Kann sie seinem Versprechen trauen, ihr zu helfen zu überleben, oder sollte sie seiner Welt - und der Gefahr, die sie bedroht - für immer den Rücken kehren? Und wenn sie kämpft, welchen Preis muss sie dafür zahlen?

 

übersetzt aus dem amerikanischen Englisch.

SpracheDeutsch
HerausgeberVorona Books
Erscheinungsdatum14. Juni 2024
ISBN9781941108383
Auf einer verlorenen Straße: Chroniken der verlorenen Straße, #1
Autor

J. Leigh Bralick

J. Leigh Bralick was born in Washington, D.C. to a military family. After a childhood spent moving from state to state and taking many exciting and lengthy road trips across the country (accompanied by the requisite quantities of Beethoven, coffee and donuts, without which no road trip is possible), she settled down in Dallas, TX to pursue her education. She received her bachelor’s degree in medieval history and a master’s degree in politics at the University of Dallas before going on to complete her bachelor’s in nursing from Baylor University. She spends most of her non-existent spare time writing fantasy novels. She is also still stuck in Texas, but happily considers it home after years of answering the question, “Where are you from?” with what she considered the very clever response of, “Nowhere.” She is owned by a stubborn mutt named Liberty, a Caique who was a Cirque du Soleil acrobat in a previous life, three immortal hens who are secretly plotting world domination, and two hives of bees that are actually aliens.

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    Buchvorschau

    Auf einer verlorenen Straße - J. Leigh Bralick

    Kapitel 1

    Ich wollte nur mein Rückgeld , aber Mr. Dansy benahm sich, als hätte ich einen Bankraub begangen.

    Ich kannte ihn, so lange ich denken konnte, und hatte ihn noch nie so erlebt. Er war so weiß wie ein Gespenst gewesen, seit ich an die Kasse gekommen war, und seine Hände zitterten so stark, als er die Münzen aus der Kassenschublade nahm, dass ich befürchtete, sie würden ihm aus der Hand fallen. Ich fragte mich, ob er krank war, aber die Art wie seine Augen immer wieder durch den Laden wanderten, deutete eher darauf hin, dass er nach jemandem Ausschau hielt... oder jemanden erwartete. Und als ein Auto auf der Straße vor dem Laden einen Auspuffknall verursachte, zuckte er zusammen und schüttete alle Münzen zurück in die Schublade.

    Da begann ich mir wirklich Sorgen zu machen.

    Ich beugte mich über die Theke, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. »Hey, Mr. Dansy, geht es Ihnen gut?«

    »O-o-oh, ja, Merelin. Danke der Nachfrage, Herzchen.«

    Er schaute nicht einmal zu mir hoch. Sein ganzes Gesicht lag in einer besorgten Miene verzerrt, als hätte er Angst oder etwas Gebrochenes in sich. Mr. Dansy war gar nicht mal so alt. Er war vielleicht sogar jünger als meine Mutter, auch wenn er die Angewohnheit hatte, sich in zerknitterte Anzüge zu kleiden, die etwa sechzig Jahre aus der Mode waren. Doch in jenem Moment, da die Sorgenfalten seine Wangen durchzogen, sah er beinahe uralt aus. Schweiß glänzte auf seiner Glatze und benetzte seine Lippen, obwohl er den Laden eisigkalt hielt.

    »Soll ich jemanden für Sie rufen?«, fragte ich. »Einen Krankenwagen?«

    Er lachte kurz auf, als hätte ich einen Witz gemacht, dann wedelte er abwinkend in meine Richtung. »Nein, nicht das... überhaupt nicht das. Es geht mir gut

    Er betonte die letzten beiden Wörter mit dramatischer Kraft, sodass ich nicht wusste, welches der beiden er stärker betonen wollte.

    Dann starrte er wieder aus dem Fenster, während seine Finger nutzlos über die Münzschalen wanderten, bis ich es aufgab, ihm helfen zu wollen.

    »Weißt du was«, sagte ich und versuchte ein Lächeln und eine Schulterzuckung. »Ich komme einfach später wieder. Als ob die Welt unterginge, weil mir ein paar Chips und Salsa fehlen.«

    Ein paar Sachen für meine Mutter zu besorgen war vor einer halben Stunde noch eine wichtige Ausrede gewesen, um dem Haus zu entkommen, aber jetzt dachte ich, dass Zuhause ein fantastischer Ort war.

    Offenbar dachte Mr. Dansy anders darüber.

    »Nein nein nein, warten Sie«, sagte er und die Wörter purzelten nur so aus ihm heraus. »Sie brauchen das.«

    Er griff nach meiner Hand und, bevor ich sie wegziehen konnte, schüttete er mir eine Handvoll Münzen in die Handfläche und schloss meine Finger darum.

    Sobald er mich losließ, zuckte sein Blick zurück zum Fenster, ein sichtbares Schaudern lief einmal durch seinen ganzen Körper. Ich runzelte die Stirn. Die Straße vor dem Laden war wie eh und je verlassen, an einem Dienstagvormittag zu Beginn des Sommers. Eine winzige Zwergspitzpranke, mit mehr Bling behangen als eigentlich nötig, zerrte an der Hundeleine einer Frau in hautengem Pink, aber sonst war niemand zu sehen. Selbst die allgegenwärtigen Studenten der Universität, die Brewer im Semester noch überquollen, waren fort und hatten uns eine Geisterstadt hinterlassen.

    Aber Mr. Dansy starrte weiter aus dem Fenster, als würde er etwas sehen, das ich nicht sah. Ich hatte ihn nie für paranoid gehalten, doch er fing langsam an, mich zu erschrecken.

    »Nun denn«, sagte er und warf mir einen seltsam ergebenen Blick zu. »So ist das eben. Ich hoffe...« Seine Stimme verebbte, dann beendete er den Satz: »Pass einfach auf. Verlier es auf keinen Fall, Herzchen.«

    Es?, dachte ich verwirrt. Was soll ich nicht verlieren?

    »Geht es dir...dir auch gut, Merelin?«

    Ich schluckte und sah zur Seite, denn von allen Dingen, die er hätte fragen können, war das das Letzte, was ich erwartet hatte.

    »Es ist der Geburtstag deines Vaters, nicht wahr?«

    »Ja«, sagte ich und schnappte mir die Tüte von der Theke. »War es.«

    »Merelin...« Seine Stimme verebbte kurz, dann wandte er sich wieder dem Fenster zu. »Es tut mir leid.«

    Ich zuckte mit den Schultern, weil ich irgendwie nicht sicher war, ob ich schreien oder weinen wollte oder Mr. Dansy direkt ansprechen und fragen, wie zur Hölle er so etwas über meinen Dad wissen könnte.

    Wenn Mr. Dansy bemerkte, dass er mich gerade zu einem erbärmlichen, zitternden Wrack gemacht hatte, zeigte er es nicht. Sein Kopf machte nur eine nervöse Art Zucken in Richtung der Tür und seine Hand schoss zu seinem Mund.

    Er nagte an einer ramponierten Fingernagel und starrte mich mit diesen großen, braunen Augen an, so weit wie möglich aufgerissen, und sagte: »Na los, geh jetzt. Und... hab einen schönen Tag.«

    Ich schätze, er hätte einfach sagen können: »Verschwinde aus meinem Laden«, aber zumindest war er höflich.

    »Sie auch, Mr. Dansy.« Ich zögerte an der Tür. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Ich kann jemanden anrufen. Das ist kein Problem.«

    »Geh, geh! Mir geht’s gut. Pass auf dich auf und verlier das nicht.«

    Schon gut, schon gut. Ich werde die neunundvierzig Cent nicht verlieren.

    Ich nickte nur als Antwort, als ich aus dem Laden schlüpfte. Als ich auf den Bürgersteig hinaustrat, schlug mir die Hitze des frühen texanischen Sommers entgegen, dick mit dem honigsüßen Duft von Magnolienblüten. Plötzlich fing alles um mich herum an zu schimmern, grell wie eine Fata Morgana, dann machte mein Magen einen Salto. Ich taumelte zwei Schritte in den Schatten des alten Baumes, schnappte nach dem rauen, dunklen Stamm, um mich zu stützen, und schluckte immer wieder, um die Übelkeit zu bekämpfen. Und dann wurde eine grobe Münze in meiner anderen Hand so eiskalt, dass sie brannte.

    Meine Finger zuckten und ich hätte die ganze Handvoll beinahe fallen lassen.

    Um mich herum nahm der Wind auf, heiß und trocken wie in der Wüste, und irgendwo aus den Schatten erhob sich ein schreckliches Geräusch, als würde der ganze Lärm der Stadt in einem Vakuum direkt über meinem Kopf aufgesogen. Ich krümmte mich, bedeckte mit meinen Unterarmen unbeholfen meine Ohren.

    Das Geräusch wurde lauter... und lauter. Ohrenbetäubend.

    Dann war es vorbei. Die Stille fiel wie der Winter. Fast zur selben Zeit fühlte es sich an, als würde jemand meinen Magen packen und ihn mir geradwegs herausreißen. Das ganze Blut schoss mir in die Füße und hinterließ ein Schaudern des Schreckens. Ich hätte schwören können, die ganze Welt erbebte.

    War das, was Mr. Dansy gespürt hatte? Was war das?

    Ich taumelte vom Baum weg und blickte zurück zum Laden. Durch die getönte Scheibe konnte ich gerade noch Mr. Dansys Gesicht ausmachen, das sich nahe dem Fenster aufhielt und mich beobachtete. Hatte er das Geräusch auch gehört? Es war schwer zu sagen - er sah genauso erschrocken aus wie zuvor, mit dem Ärmel an der Stirn, immer noch schwitzend. Dann verdunkelten sich die Schatten um mich herum unter dem wolkenlosen Himmel und ich taumelte hart, als hätte mich jemand in den Rücken geschlagen. Für den Bruchteil eines Moments traf ich Mr. Dansys Blick durch das dunkle Glas, dann drehte ich mich um und rannte davon.

    Es war mir egal, ob mich die ganze Stadt sah - die Einkaufstüte wild schwingend, Füße hämmerten auf dem rissigen Pflaster, mein unordentlicher Pferdeschwanz halb aufgelöst. Ich schäme mich nicht für mein Rennen. Darin bin ich gut. Aber Laufbahn rennen und vor Angst rennen sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich würde jedenfalls nicht anhalten, um die Idee zu analysieren.

    Mit klopfendem Kopf und Herzen, durchgeschwitzt, schaffte ich es endlich nach Hause und sprang mit zwei Sätzen die Vorderstufen hoch. Sobald die Tür einen Spalt offen war, war ich durch, warf mein Gewicht zurück, um sie zu zuschlagen, als hätte mich etwas nach Hause verfolgt. Ich warf sogar einen Blick durchs Gucklo ch, um sicherzugehen, dass nichts gekommen war.

    »Mer, knall nicht die Tür zu!«

    Ich funkelte in Richtung des Wohnzimmers, wo meine ältere Schwester Maggie las - wo sie immer noch las. Sie hatte sich den ganzen Morgen nicht bewegt. Ich konnte mir nicht vorstellen, ihr meinen Schrecken zu erklären, sie war achtzehn und herrisch, zu alt, um sich mit so albernen Dingen wie der Frage zu beschäftigen, warum die ganze Stadt sich gerade völlig verrückt anfühlte. Ich konnte es mir selbst nicht einmal erklären, weil ich genauso paranoid war wie Mr. Dansy ausgesehen hatte.

    Meine Finger schlossen sich fester um die Münzen und ich lehnte noch ein paar Augenblicke gegen die Tür, atmete tief durch, um den Herzschlag zu beruhigen. Nach und nach klärte sich mein Kopf und die Angst begann zu verfliegen, aber so sehr ich es auch versuchte, ich konnte nicht aufhören, an Mr. Dansy zu denken. Vielleicht brauchte er tatsächlich einen Arzt und ich war einfach gegangen und hatte ihn dort gelassen. Vielleicht war ich die einzige Person, die ihn für Stunden sehen würde. Vielleicht hatte er es endgültig und vollkommen verloren.

    Ich rieb mir übers Gesicht. Meine Mutter würde definitiv wissen, was zu tun ist. Aber sie schien Mr. Dansy nie besonders gemocht zu haben, oder zumindest tolerierte sie ihn kaum. Ich glaube, sie dachte, er wäre schon verrückt. Vielleicht war er das auch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er jemals einen Moment der Aufregung in seinem Leben gehabt hätte, aber was auch immer das vorhin war, es hatte mich definitiv erfolgreich gruselig gestimmt.

    So viel dazu. Ich begann gerade, meine Sommerferien zu genießen. Skurriles und überwältigende, irrationale Ängste waren nicht meine Vorstellung von erholsamen Ferien. Und seit wann passierte schon Aufregendes im Lebensmittelladen? Brewer mag ein kleines Kaff sein, aber so sehr nun auch wieder nicht.

    Die Spitze meines Fingers strich über die raue, kalte Münze, die in meiner Handfläche geklemmt war, und wieder spürte ich dieses seltsame, ziehende Gefühl, das meinen Magen verdrehte. Ich schauderte und machte mich auf den Weg in die Küche.

    »Was auch immer«, murmelte ich. »Das ist episch falsch.«

    Es kam lauter heraus, als ich beabsichtigt hatte, und natürlich war meine Mom direkt an der Küchentheke, um es zu hören. Sie blickte von ihrem Laptop auf und betrachtete mich mit leichter Überraschung.

    »Was ist denn los?«, fragte sie.

    Ich biss mir auf die Lippe und überlegte krampfhaft, was ich darauf antworten sollte.

    »Ähm, nur Maggie. Sie meckert immer an mir rum. Und ich schwöre, dieses Mal habe ich gar nichts getan.« Mom warf mir einen skeptischen Blick zu und ich knurrte, während ich ihr die Einkaufstüte hinhielt. »Hier ist dein Zeug.«

    »Merelin...«

    »Was denn?«, blaffte ich.

    Und das ärgerte mich noch mehr, zusätzlich zu all dem anderen. Warum war ich so unverschämt? Normalerweise ging ich nicht in diesem Ton mit meiner Mom um.

    »Tut mir leid«, sagte ich. »Mir geht’s gut. Bin nur müde.«

    Mom beobachtete mich still, so wie sie es immer tat, wenn sie wusste, dass etwas nicht stimmte, es mir aber nicht entlocken wollte. Manchmal dachte ich, ihre blauen Augen würden in solchen Momenten tatsächlich eine silbrige, graue Farbe annehmen. Als ich klein war, konnte ich daran erkennen, ob sie meine Ängste oder die Wahrheit von dem, was ich ihr nicht erzählen wollte, verstand.

    »Du bist nach Hause gerannt«, bemerkte sie. »Ist alles okay bei dir? Ist etwas passiert?«

    Ich steckte meine Hände samt Münzen in die Taschen und kaute auf meiner Unterlippe.

    »Nö, nur... Mr. Dansy war einfach total seltsam drauf«, sagte ich schließlich, nuschelte dabei. »Denkst du, ich hätte für ihn den Notarzt rufen sollen?«

    Ihre Augenbrauen schossen überrascht in die Höhe. »Was für eine Art von Seltsam braucht denn einen Krankenwagen?«

    »Er hat irgendwas gefaselt von... ich weiß auch nicht. Aber er sah richtig blass und verschwitzt aus. Ist das nicht ein Anzeichen für einen Herzinfarkt oder so?«

    Sie schenkte mir ein beruhigendes Lächeln. »Du weißt doch, dass Mr. Dansy nicht gerade der Stabilste auf diesem Planeten ist. Wenn du dir aber wirklich Sorgen machst, ruf ich in einer Minute dort an und vergewissere mich, dass alles in Ordnung ist.«

    »Danke«, sagte ich und ließ mit diesem einen Wort all meine Luft entweichen. Ich drehte mich zum Gehen um, zögerte aber bei den Treppen. »Er hat nach Dad gefragt«, sagte ich. Es kam als kaum mehr als ein Flüstern heraus. »Er hat sich daran erinnert, dass heute sein Geburtstag ist.«

    Meine Mom biss sich auf die Lippe und sah zur Seite, antwortete aber nicht.

    Kapitel 2

    I ch ging nach oben in mein Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter mir, damit Maggie mich nicht wieder anschreien würde. Meine Hand war noch fest zu einer Faust geballt, feucht von Schweiß und taub an einigen Stellen von den Kanten der Münzen. Ich konnte den Geruch des Metalls riechen, diesen aufdringlichen, scharfen Geruch, der meinen Magen beben ließ. Mein Herz raste, nervös und aufgeregt zugleich, aber ein Teil meines Gehirns – der Teil, der viel zu schnell erwachsen wurde – beharrte darauf, dass ich völlig umsonst aufgeregt war und mich wie ein Kind benahm.

    Ich blendete alles aus. Ich glättete das zerknitterte grüne Laken auf meinem alten Eisenbett, setzte mich zeremoniell an dessen Fußende und kippte die Münzen aus meiner Hand.

    Irgendwo in einer Ecke meines Verstandes glaubte ich, eine Tür zuknallen und Schritte auf dem Flur zu hören. Ich zuckte zusammen, mein Herz machte einen Satz, und ich schlug die Hand über die Münzen, doch genauso schnell wie das Geräusch gekommen war, war es auch wieder weg … falls es jemals da gewesen war.

    Toll. Jetzt hörte ich auch schon Dinge. Es wurde Zeit, wieder ins Bett zu gehen und noch einmal aufzuwachen.

    Ich wandte mich dem ordentlichen Häufchen Münzen vor mir zu und seufzte. Ich kam mir wie der größte Idiot des Jahres vor. War das alles? Ein Haufen ganz normaler Münzen – ein ziemlich vergilbter Vierteldollar, bei dem man George’s Kopf kaum noch erkennen konnte, zwei Zehncent-Stücke und vier ramponierte Pennys. Dafür war ich in Panik nach Hause gelaufen?

    Ich runzelte die Stirn. Nein. Ich konnte das grob ausgehöhlte und eiskalt anzufühlende Gesicht der einen Münze unmöglich verwechselt haben.

    Also, wo war sie?

    Ich schluckte, als ich mich an Mr. Dansys panische und wiederholte Warnung erinnerte: »Verlier sie nicht

    Und was machte ich als Erstes, als ich nach Hause kam? Ich verlor sie. Fantastisch.

    »Was soll ich denn nicht verlieren, Mr. Dansy?«, murmelte ich vor mich hin. »Sie hätten etwas spezifischer sein können.«

    Ich starrte finster auf den Münzhaufen. Bei der Kraft, mit der ich sie gehalten hatte, hätte ich bemerken müssen, wenn eine heruntergefallen wäre. Und wenn ich sie hatte fallen lassen, musste sie irgendwo im Haus sein, denn ich hatte das Ding mit Sicherheit noch in der Hand gehabt, als ich an der Tür stand.

    Ich rutschte vom Bett, sammelte die Münzen auf und warf sie zur Aufbewahrung in eine alte Blechdose auf meiner Kommode. Draußen frischte der Wind auf und ließ einen trockenen Ast kratzig an mein Fenster schlagen, als ich gerade die Tür erreichte – es klang wie Fingernägel auf einer Tafel, was mich wieder zusammenzucken ließ. Normalerweise bin ich keine ängstliche Person. Trotzdem starrte ich gut zwei Minuten lang auf das Fenster, bis ich mir sicher war, dass es wirklich nur ein Ast war, dann drehte ich mich um, um zu gehen.

    Aus den Augenwinkeln sah ich es für eine Sekunde.

    Einen Schatten, dunkler als Pech. Eine rote Glut, wie zwei Augen, die mich anstarrten.

    Mein Herz klopfte vor Aufregung, als ich über die Schulter blickte, aber da war nichts. Nur leere Baumäste und die Weiße der Magnolienblüten.

    Du bildest dir schon wieder Sachen ein.

    Ich biss die Zähne zusammen und rannte aus meinem Zimmer, polterte die Treppe hinunter und sprang die letzten drei Stufen auf einmal.

    »Merry!«

    Maggie und Tony diesmal. Sie nannten mich nur Merry, wenn ich mal wieder etwas angestellt hatte, weshalb sie sauer auf mich waren. Ich streckte den Kopf ins Wohnzimmer.

    »Was ist?«

    »Musst du denn immer so stampfen, wenn du die Treppe runterkommst?«, fragte Tony, ohne von seinem Physikbuch aufzusehen.

    Keine Überraschung. Tony hörte nie auf zu lernen. Ich glaube, er wusste gar nicht, was Sommerferien bedeuten.

    »Wenigstens bin ich keine Krustenassel«, erwiderte ich.

    Maggie sah über ihre Zeitschrift hinweg. »Und was soll das heißen?«

    Ich schüttelte den Kopf und ließ die beiden mit ihrer Langweiligkeit allein. Manchmal kam es mir vor, als wären mein Zwillingsbruder Damian und ich die einzigen Vernünftigen in der Familie, wobei Maggie und Tony das sicher lebhaft bestritten hätten.

    Ich schlenderte zurück in die Küche und wühlte in der leeren Einkaufstüte herum. Nichts. Und so leise ich auch versuchte zu sein, Mom hörte doch das Rascheln des Plastiks und drehte sich um zu sehen, was ich da tat.

    »Suchst du etwas?«

    Ich zuckte die Achseln. »Nichts Wichtiges. Nur so eine kleine Münze oder Tändelei, die ich unterwegs aufgehoben hab. Scheint, als hätte ich sie verlegt.«

    Auf ihrem Gesicht breitete sich eine Stille aus und als sie sprach, klang ihre Stimme betont neutral. »Eine Tändelei, eine Münze? Und du hast sie verlegt?«

    »Äh, ja«, sagte ich. »Wieso? Was ist los?«

    Sie musterte mich einen Moment lang, dann lächelte sie strahlend und drehte sich wieder um. »Tut mir leid, davon habe ich nichts gesehen.«

    »Du hast irgendwie ... komisch reagiert.«

    »Mir geht’s gut.«

    Ich verschränkte die Arme und verzog das Gesicht. Jetzt verhielt sich auch noch meine Mom seltsam und ich bezweifelte, dass dieser Tag noch viel merkwürdiger werden könnte. Ich war mir sicher, dass ich das nicht verkraften würde, falls doch.

    »Mom, du darfst nicht einfach sagen, dir geht’s gut. Das ist so eine Sache, die nur genervte Teenager sagen«, erwiderte ich, doch sie lachte nur. »Sag mir einfach Bescheid, wenn du sie siehst, okay?«

    »Wie sieht sie denn aus?«

    Ich öffnete den Mund, schloss ihn dann aber gleich wieder. Gute Frage. »Wie ... eine Münze«, sagte ich hilflos. »Ist schon gut, lass stecken.«

    Ohne auf ihre Antwort zu warten, ergriff ich die Flucht. Ich durchsuchte die Diele erneut, öffnete und schloss die Haustür und löste den Sicherheitspiepser so oft aus, dass Maggie wieder nach mir rief. Ich suchte zweimal den Treppenaufgang auf und ab, sogar die Ritzen im Teppich, wo die Stufen auf die Wand trafen. Ohne Erfolg.

    Gerade hatte ich beschlossen, wieder nach oben zu gehen, als ich meine Mutter hörte, wie sie den Hörer abnahm. Neugierig setzte ich mich auf eine der unteren Stufen und schlang meine Arme über das Geländer, um mitzuhören.

    »Charles?«, fragte meine Mutter. Sie war in die hintere Küche gegangen, sodass ich mich anstrengen musste, um ihre Worte zu verstehen. »Ja, ja, sie ist es. Sie ist vor ein paar Minuten wohlbehalten nach Hause gekommen. Ich weiß. Deswegen rufe ich an. Ist alles in Ordnung? Merelin hat sich Sorgen gemacht. Ja, ich weiß.« Eine lange Pause, dann: »Nein, Charles. Hören Sie mir zu. Sie haben kein Recht – nein, genug. Ich will es nicht hören.«

    Sie legte den Hörer auf, ohne ein Wort des Abschieds zu sagen, und knallte ihn unsanft auf die Anrichte. Ich lehnte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen auf meinen Händen zurück und blickte in Richtung Küche.

    Seltsam. Was war das denn?

    Ich überlegte, sie zur Rede zu stellen, als ich sie hörte, wie sie sich dem Flur näherte. Da ich nicht wollte, dass sie mich beim Lauschen erwischte, drehte ich mich um und rannte die Treppe hoch – und rannte voll in Damian hinein.

    Er taumelte nur einen Schritt zurück, doch ich spürte, wie mir schwindelig wurde, und wusste mit Sicherheit, dass ich Kopf über die Treppe stürzen würde. Kurz bevor ich in mein Verderben stürzte, packte Damians Hand meinen Arm und riss mich nach oben. Er beugte sich zu mir herunter – er war so groß, und dass ich auf einer Stufe höher stand, half auch nicht.

    »Uh, Mer, was ist denn die Eile?«, fragte er gelassen.

    Ich klopfte Staub von mir ab und versuchte, meine verlorene Würde wiederherzustellen. »Danke.«

    »Ich hab immer dein’ Rücken frei.«

    »Wo kommst du überhaupt her? Ich dachte, du wärst auf der Eisbahn. Oder war heute das Dojo ...?«

    Damian grinste nur. »Nee. Bahn war zu. Zam kaputt, jemand hat sein’ Kram in der Umkleide liegen lassen, ‘n Tornado hat die Tribüne abgerissen, weißt schon. Sowas passiert halt.«

    Ich zwang mir ein Lächeln auf und versuchte, mich aus seinem Griff zu winden, doch er spiegelte meine Bewegung, sah mir weiterhin intensiv in die Augen.

    »Mer?«

    »Lass gut sein. Ich geh nur in mein Zimmer.«

    »Ganz schön ruhelos.«

    Mein Herz raste. So sehr ich bleiben und mit ihm reden wollte, verspürte ich in diesem Moment nichts als eine nie gekannte Furcht wie einen nagendern Schmerz im Hinterkopf. Ich musste diese Münze finden. Jetzt.

    »Komm schon, D«, sagte ich. »Ich muss einfach ‘ne Weile allein sein, okay? Ich bin müde.«

    Er ließ mich abrupt los, doch ich konnte spüren, dass sein Blick mir folgte, als ich in mein Zimmer lief.

    »Sag mal«, rief er mir hinterher, »hast du etwa ‘n Chat-Date mit irgendeinem Typen, von dem ich wissen sollte?«

    Ich streckte ihm die Zunge raus. »Wenn dem so wäre, wüsstest du es sowieso schon. Die Jungs stehen Schlange bei mir, aber sie müssen warten.«

    Damian schnaubte. Es half nicht, dass er besser als jeder andere wusste, wie schüchtern ich war. Ich hatte noch nie einen richtigen Freund gehabt – keinen, den Damian gebilligt hätte – daher musste ich mir sein Aufziehen natürlich ständig anhören.

    Ich schlüpfte in mein Zimmer und schloss die Tür vor Damians besorgtem Blick, verriegelte sie hinter mir. Einen Augenblick zögerte mein Herz, von einer Schuldbeugung überrollt – ich hatte Damian noch nie ausgeschlossen. Nie. Und irgendwie verübelte ich es dieser Münzen-Sache mehr als alles andere, dass ich mich dazu gezwungen fühlte.

    Von der Tür aus suchte ich Stück für Stück den Boden meines Zimmers nach der Münze ab. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, nicht fündig zu werden, als ich sie endlich glitzern sah, kalt und grimmig zwischen den Falten der Tuchdecke, die auf dem Boden vor meinem Bett lag. Meine anfängliche Erleichterung wandelte sich in genervtes Gemurmel. All die Zeit, in der ich nach diesem Ding gesucht hatte, und es lag die ganze Zeit dort.

    Damian klopfte leise an meine Tür.

    Schuldbewusst, weil ich ihn ausgeschlossen hatte, hob ich die Münze vom Boden auf, steckte sie in meine Gesäßtasche und ging dann hin, um die Tür zu öffnen.

    »‘Tschuldige, D«, sagte ich, als ich sie öffnete, und stockte.

    Er war nicht da. Es war niemand da. Der Flur erstreckte sich dunkel und leer, aber ich hätte schwören können ...

    »Damian?«, flüsterte ich.

    Hinter mir kratzte und knarrte der Ast erneut an meinem Fenster, sodass mir eine Gänsehaut überlief. Ich schlich lautlos hinaus auf den Flur und tapste zu Damians Zimmer. Seine Tür stand einen Spalt breit offen, aber vom Flur aus konnte ich nicht sehen, ob er drinnen war.

    »Damian!«

    Ich hämmerte an seine Tür, die aufschwang, und atmete erleichtert auf, als ich ihn auf seinem Drehstuhl sitzen sah. Seine Beine lagen auf dem Reißbrett, und er bastelte an irgendeinem mechanischen Ding herum, mit dem er sich seit mindestens einem Monat schon beschäftigte. Anscheinend nahm er es überhaupt nicht krumm, dass ich beinahe seine Tür eingetreten hatte.

    »Du bist hier!«, rief ich aus.

    Es war halb Frage, halb Ausruf, und er sah mich nur mit zusammengezogenen Brauen an, während ihm einige goldene Haarsträhnen ins Gesicht fielen. Von dem Flur drang erneut ein Knarren, und ich sprang in sein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und warf mich aufs Kissen auf seinem Bett.

    »Was zum – Mer, ist alles okay bei dir? Was ist denn los?«

    Atme, Merelin. Du bist lächerlich.

    »Das Haus ist besessen«, brummte ich gedämpft ins Kissen.

    »Besessen.«

    Ich warf ihm einen schrägen Blick zu. »Es wird mich fressen.«

    »Das Haus?«

    Ich nickte ernst. Nach einem Moment setzte ich mich auf und stellte fest, dass Damian mich weiterhin neugierig musterte.

    »Ehrlich, D, du hast nicht an meine Tür geklopft? Sag mir bitte, dass du an meine Tür geklopft hast.«

    »Ähm, nein. Du wolltest deine Ruhe haben, erinnerst du dich? Seit wann nerve ich dich, wenn du in Ruhe gelassen werden willst?«

    »Ständig«, sagte ich mit einem Lächeln.

    »Touché. Aber diesmal nicht.« Er legte das Gerät auf seinen Schreibtisch. »Also, was ist los, du hast ein Klopfen gehört und keiner war da?«

    »Ich weiß, es klingt verrückt, aber ich bin nicht verrückt! Und dann ist da noch der Ast und die Türen knarren und ... ich warne dich, wenn ich verschwinde, schau in den Schränken nach. Die sind wie große Mäuler.«

    Ich imitierte den Tod-durch-Schrank mit Handgesten. Damian lachte und warf einen Knäuel Papier nach mir.

    »Du bist verrückt.«

    »Na gut.«

    Ich stieß mich vom Bett ab und ging zur Tür, meine Finger spielten an der Kante meiner Gesäßtasche.

    »Damian ...«

    »Ja?«

    Er sah mich nicht mehr an, was irgendwie eine Erleichterung war. Ich fragte mich, was er gesagt hätte, wenn er mich dort wie eine Idiotin stehen gesehen hätte. Ich hätte die Münze hervorholen und ihm zeigen können. Ich wollte es mehr als alles andere, aber irgendwie... konnte ich es einfach nicht übers Herz bringen. Vielleicht konnte ich später mit ihm reden. In diesem Moment schien ich meine Stimme nicht finden zu können.

    Schließlich wanderte ich aus seinem Zimmer und schlüpfte in das meiner Mutter. Bei all den zugezogenen Vorhängen war das Zimmer dunkel und kühl, genau so wie ich es mochte. Aber ich konnte bei den ausgeschalteten Lichtern nichts sehen, also schaltete ich die Nachttischlampe ein und setzte mich ans Kopfkissen. Einen Moment lang starrte ich nur auf das Gesicht, das mir vom Foto auf Mamas Nachttisch entgegenblickte – das Gesicht, das ich mehr liebte und vermisste als jedes andere.

    Mein Vater.

    Ich streckte die Hand aus und ließ meine Fingerspitzen auf dem Glasrahmen ruhen, ein brennender Kloß im Hals.

    »Alles Gute zum Geburtstag, Papi«, flüsterte ich.

    Bilder von ihm schmückten jede Wand im Schlafzimmer. Mir gegenüber hing ein Foto, das ich selbst bei unserem letzten Familientreffen vor vier Jahren mit einer dieser billigen Einwegkameras aufgenommen hatte, die die Erwachsenen uns gegeben hatten. Vater lehnte an unserer alten Magnolie und nippte an einem Mint Julep. Durch die Art, wie das Licht durch die Blätter hinter seiner Schulter fiel, hatte ich mir immer vorgestellt, dass hinter ihm eine Art ätherische Gestalt stand, kaum umrissen von diesem schimmernden Licht. Ich hatte früher Geschichten darüber erfunden, wer oder was diese Gestalt war. Engel, Elfe, Gespenst, die spirituelle Präsenz einer anderen Welt, die unterschiedlichsten verrückten Ideen. Diese Geschichten erfand ich nicht mehr.

    Drei Monate nach dem Familientreffen war Vater verschwunden.

    Er hatte das Haus spät am Abend verlassen, als er sonst immer ruhig in seinem überdimensionalen Sessel saß, zweimal aufgewärmten Kaffee trank und die Sonntagszeitung der Vorwoche las. Ich erinnere mich an das Rasseln des Regens gegen die Fenster. Es goss in Strömen, ein kalter, ungemütlicher Herbststurm. Und da war mein Vater, der seinen Mantel überwarf und immer wieder aus dem Fenster spähte.

    Er sagte, er müsse auf die Universität in sein Büro, um eine Hausarbeit eines Studenten zu holen, aber das erklärte seine Panik nicht. Ich folgte ihm zur Tür und fragte, warum er gehen würde. Doch bevor er aus dem Licht der Verandatür verschwand, drehte er sich um und sagte etwas zu mir. Ich kam gar nicht dazu, ihn zu fragen, was er gesagt hatte. Nur das Grollen seiner sanften Stimme drang durch den krachenden Regen, seine dunklen Augen traurig und reumütig, und dann war er weg. Komischerweise, je öfter ich diese Erinnerung durchging, desto sicherer war ich mir, dass er gar nicht Englisch gesprochen hatte.

    Es waren die letzten Worte, die er je zu mir gesagt hatte, und ich wusste nicht einmal, was es war.

    Ich hatte nie damit aufgehört zu warten, dass er zurückkehrte. Es war egal, was die Polizei sagte oder wie sie die Suchen und Ermittlungen auf einmal einstellten, als hätten sie ein Stichwort bekommen. Ich erinnere mich an den Tag, als Officer Jankins meine Mutter beiseitenahm. Die Entschuldigungen, die Tränen. Die Reporter mit klobigen Kameras, die versuchten, den Schmerz in unserem Haus zu stören, die Nachbarn, die Kekse schickten, die Beileidsbekundungen der Universität.

    Niemand flüsterte, niemand verbreitete Gerüchte – zumindest hörte ich keine. Sie gaben einfach auf. Jeder gab auf, außer Damian und mir. Wir hatten geschworen, nie die Hoffnung aufzugeben, und wir hielten uns daran, auch wenn die Jahre den Schmerz abgemildert hatten. Manchmal denke ich, dass meine Mutter es auch nicht tat. Für die Außenwelt trug sie eine Maske der Akzeptanz, aber ich habe sie in Momenten erwischt, in denen sie dachte, sie wäre allein, und mit ihm durch ihre Tränen redete.

    Mein Herz schmerzte und der Raum verschwamm, aber ich blinzelte den Schmerz weg und holte die Münze aus der Tasche. Ich starrte weiter auf das Foto meines Vaters, weil ein Teil von mir die Münze gar nicht sehen wollte. Was, wenn es nichts Besonderes war? Vielleicht hatte Mr. Dansy mir einen alten Spielhallentoken oder etwas anderes Lahmes als Scherz gegeben, auch wenn Mr. Dansy so etwas noch nie getan hatte. Und mein ganzer Morgen voller sinnloser Angst wäre genau das gewesen – sinnlos. Völlig umsonst aufgeregt.

    Ich wollte so sehr, dass es etwas Spannendes war. Wäre ich etwas jünger gewesen, hätte es keine Rolle gespielt, ob das Ding nur Schrott war. Ich hätte trotzdem so getan, als hätte es seltsame magische Kräfte – etwas, das die Betrachter hypnotisierte und seltsame Flüstertöne aus dunklen Ecken des Raumes hervorrief. Ich hatte immer eine zu lebhafte Fantasie gehabt. Aber hier war ich, sechzehn, zu alt für Puppenspiele und zu jung, um gelangweilt zu sein von der öden Gleichförmigkeit des Lebens, Tag für Tag.

    Ich fürchtete die Enttäuschung.

    Schließlich seufzte ich und streckte meine Handfläche unter den Pool aus warmem, goldenem Licht.

    Eine ganze Minute saß ich da und starrte darauf. Das Objekt war ein kleiner Kreis, ungefähr so groß wie ein Silberdollar, aus einem schweren, matten Metall gegossen, das ein wenig wie Bronze aussah. Es gab einen Außenring und auf der Innenseite wand sich das Metall in einem komplizierten Knotengeflecht, so ähnlich wie Maggies keltische Halskette.

    Entlang des Knotens befanden sich die winzigsten, seltsamsten Buchstaben, die ich je gesehen hatte, aber das endlose Geflecht machte es unmöglich, zu erkennen, wo die Wörter anfingen und wo sie aufhörten.

    Vielleicht, dachte ich, waren es gar keine normalen Wörter, die man auf normale Weise lesen sollte. Vielleicht konnte man die Bedeutung einfach erfassen, so wie man manchmal etwas einfach weiß.

    Ich presste meine Finger darauf und glaubte, das Metall zwischen meinen Fingern pulsieren zu spüren, so wie der Boden es unter meinen nackten Füßen vor einem Gewitter tut. Ich erwartete fast, die Sache zu sehen aufleuchten, als ich meine Hand öffnete. Aber sie funkelte nur kalt weiter, das sanfte Lampenlicht schimmerte ein wenig auf den Erhebungen, wurde aber in den Vertiefungen von tiefen Schatten verschluckt. Sie wirkte so unspektakulär, aber sie war das Kurioseste, Wunderbarste und Erschreckendste, was ich je in der Hand gehalten hatte.

    Und plötzlich wurde mir klar, dass ich sie schon einmal gesehen hatte.

    Kapitel 3

    Ich starrte auf die Münze und grübelte verzweifelt, ob mir irgendeine Erinnerung daran einfiel. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass ich das Ding hier schon irgendwo in Mamas Zimmer gesehen hatte, das für mich sowieso immer ein Schatz voller Geheimnisse gewesen war. Zuerst durchsuchte ich ihre Schmuckkästchen, dann das Bücherregal und die ordentlichen Schubladen ihres Nachttischchens. Kein Erfolg.

    Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein.

    Vielleicht wurde ich tatsächlich verrückt.

    Ich seufzte und wandte mich den Fotos an der Wand zu, machte wie immer meine Pilgerreise durch den Raum, bevor ich ging. Ich konnte Mamas Schlafzimmer nie betreten, ohne all die verschiedenen Bilder anzuschauen und die kostbaren Erinnerungen in meinem Herzen wachzuhalten. Aber es tat immer weh. Manchmal tat es unerträglich weh. Manchmal mied ich deshalb sogar ihr Zimmer.

    Mein erster Halt war das Foto, auf dem Dad über mich und Damian gebeugt war, kurz nachdem wir geboren wurden. Ich hatte den Ausdruck auf seinem Gesicht auf diesem Bild schon immer geliebt – so ruhig und fürsorglich, mit einem Blitzen von Sanftmut in einem Gesicht, das sonst immer so ernst wirkte. Das gleiche Bild war auch in meinem Babyalbum, aber dort hatte Dad es mit seiner kleinen, sorgfältigen Handschrift unterschrieben: »Iell egledhruir.«

    Er hatte mir nie gesagt, was es bedeutet. Ich glaube, er erwartete, dass ich es selbst herausfinden würde, oder vielleicht verschwand er einfach, bevor er die Chance dazu hatte, es zu erklären. Ich hatte immer angenommen, es wäre etwas aus einer von J.R.R. Tolkiens Sprachen, die mein Dad angeblich besser gekannt hatte als fast alle anderen. Aber das war auch schon alles. Nur noch ein weiteres Rätsel in meinem Leben. Ich hatte diese Geheimnisse ohne Hinweise und Antworten langsam satt.

    Ich ging weiter zu einem Foto unserer ganzen Familie an dem Tag, als wir unseren Hund Jas bekommen hatten – die Kinder lagen im Gras mit dem Welpen, Dad stand bei der alten Magnolie. Und da war es wieder, dieses Flimmern hinter seiner linken Schulter.

    Ich betrachtete dieses Flimmern für einige Momente, dann wechselte ich zurück zu meinem Babyfoto. Plötzlich beugte ich mich nach vorne und blinzelte, um das Bild genauer zu mustern. Ein eiskalter Schauer jagte durch mich hindurch. Kaum wagend zu atmen, hielt ich die Münze hoch. Hielt sie so, dass sie deren Abbild auf dem Bild verdeckte, wo sie an einer Kette um Dads Hals hing und aus seinem Hemd hervorlugte, als er sich über meine Krippe beugte. Jedes scharfe Detail stimmte, und ich hatte es nie zuvor bemerkt.

    »Oh, Merelin. Du bist... schon wieder zurück?«

    Ich blieb atemlos in Mr. Dansys Ladentür stehen. Ich wusste nicht einmal, warum ich beschlossen hatte, den ganzen Weg zurück zum Laden zu rennen oder was ich zu Mr. Dansy sagen wollte, wenn ich dort ankam. Eine halbe Minute lang stand ich einfach nur stumm und gelähmt da, bis mich ein anderer Kunde böse anschaute, als er an mir vorbei aus dem Laden schob. Ich verzog das Gesicht, glättete die wilden Strähnen meiner Haare und betete, dass niemand bemerken würde, wie verschwitzt ich war.

    »Ähm, ich hab vergessen, Batterien zu holen«, murmelte ich und winkte in Richtung des ersten Dings, das mir ins Auge fiel.

    Ich schlich an Mr. Dansy vorbei und starrte teilnahmslos auf die Batterieverpackungen. Meine Gedanken rasten von einem Plan zum nächsten. Vielleicht könnte ich ihn erpressen oder versuchen, Informationen aus ihm herauszutricksen oder zu betteln und zu flehen. Die ganze Zeit über konnte ich seine weit aufgerissenen, ängstlichen Augen spüren, als erwarte er, dass irgendein Monster hinter mir auftauchen würde. Das ließ mich nervös über meine Schulter spähen.

    Mr. Dansy kam dicht neben mich und wischte sich mit dem Manschettenaufschlag übers Gesicht. »Also, Schätzchen, du hast es nicht verloren... oder?«

    Ich zuckte erschrocken zusammen.

    »Das Ding gehörte meinem Vater, Mr. Dansy!«, rief ich und wirbelte zu ihm herum. »Meinem Vater! Dachten Sie etwa, ich würde das nicht herausfinden? Woher haben Sie es? Haben Sie es ihm gestohlen? Es sieht irgendwie... einzigartig aus...«

    »Pssst!«, machte Mr. Dansy und ruderte aufgeregt mit den Armen, die in einer steifen Brise wie Fähnchen flatterten. »Einzigartig! Natürlich ist es das! Deshalb musst du jetzt mal die Klappe halten. Du hast es aber noch, oder? Wo ist es denn?«

    »Es gehörte meinem Vater. Es sieht aus, als wäre es zehn Milliarden Jahre alt. Natürlich hab ich es noch«, sagte ich brummig.

    Falls er erleichtert war, konnte man es ihm nicht ansehen. Sein Gesicht war so bleich geworden, dass es fast grau aussah, und kleine Schweißperlen rannen seine Schläfen hinunter. Er wischte sie immer wieder weg, aber sie kamen wie von selbst nach.

    »Bitte, Merelin, sprich leiser!«, zischte er.

    Ich öffnete schon den Mund, aber dann sah ich den Alarm auf seinem Gesicht, und es unterdrückte meinen Impuls, mit einer flapsigen Bemerkung zu kontern.

    Plötzlich erstarrte er, den Kopf leicht zur Seite geneigt, als lausche er auf etwas. Wachsam wie ein Polizeihund, der einen Geruch aufgenommen hat. Sein Blick wanderte durch den Laden, zu den Fenstern, suchend. Er fixierte etwas – sein ganzer Körper spannte sich an. Ich konnte buchstäblich sehen, wie ihm die Gesichtsfarbe schwand.

    »Sie sind hier«, flüsterte er. Ich hatte das beklemmende Gefühl, dass er gar nicht mit mir sprach. »Wie haben sie das rausgefunden? Diese Biester! Sie müssen ihr gefolgt sein. Müssen sie beobachtet haben.« Er wandte sich so abrupt zu mir um, dass ich instinktiv zurückzuckte, aber seine Hände hielten meine Arme umklammert, sodass ich mich nicht losmachen konnte. »Es tut mir leid, Schätzchen. Es ist ganz allein meine Schuld. Ich dachte... ich dachte, ich hätte ihre Spur verwischt. Du musst jetzt hier verschwinden!«

    »Mr. Dansy, wovon reden Sie denn?«

    »Frag nicht, keine Zeit! Los, beeil dich. Du musst weg, bevor sie dich finden, bevor sie Pyelthan von dir wegnehmen! Hörst du mich? Du bist hier nicht mehr sicher, Schätzchen. Nicht jetzt. Es ist der einzige Weg, vertrau mir!«

    Er schloss die Augen, seine Lippen bewegten sich lautlos. Ich machte einen Schritt zurück, aber weiter konnte ich nicht gehen. Mr. Dansy rüttelte an meinem Arm.

    »Er wartet. Er wird dir alles erklären. Es tut mir leid, dass es so gelaufen ist. Glaub mir, es war nie geplant, dass es so kommt. Aber... vertrau mir, Schätzchen. Geh einfach!«

    Ich wollte protestieren, doch was sich wie eine Ewigkeit anfühlte, stand ich einfach nur wie versteinert da und starrte ihn mit offenem Mund an.

    »Wenn du willst, dass ich gehe, musst du mich loslassen«, sagte ich schließlich und versuchte, meinen Arm aus seinem Griff zu befreien. »Hör mal, du machst überhaupt keinen Sinn! Wo soll ich denn hin? Nach Hause?«

    »Nein!«, rief er und unterbrach mich. »Nein, dort bist du nicht sicher.«

    »Wohin dann? Ich habe nicht mal ein Auto!«, entgegnete ich und biss mir jeden nicht gerade netten Ausdruck zurück, den Damian mich versehentlich gelehrt hatte. »Warte mal ‘ne Sekunde. Wie gut kanntest du eigentlich meinen Vater? Weißt du, wo er ist? Hat das etwas mit ihm zu tun?«

    »Merelin, geh!«

    »Nein«, sagte ich und stellte meine Füße fest auf den Boden. »Nicht bevor du mir die Wahrheit sagst. Wo ist mein Vater?«

    Er schüttelte ein letztes Mal heftig meinen Arm und stieß mich dann zurück. »Geh«, sagte er, und seine Stimme klang plötzlich seltsam, fast unwirklich. »Geh, oder er und du und alle anderen werden in Gefahr sein. Sofort

    Ich hatte keine Chance zu protestieren oder ihm eine der Millionen anderen Fragen zu stellen, die mir durch den Kopf schwirrten. Die Ladentür hinter uns krachte auf und Glas splitterte scharf, und als ich mich umdrehte, stolperte ich über nichts und Schatten wallen um mich herum auf.

    Ich dachte zunächst, ich wäre ohnmächtig geworden, aber... irgendwie wusste ich, dass ich wach war, furchtbar wach. Mein Körper berührte nie den Boden – falls es dort überhaupt Boden gab, fiel ich einfach hindurch. Ich konnte meine Arme nicht bewegen, mich nicht abfangen. Ich fiel einfach weiter. Ich konnte keine Richtung spüren. Oben, unten und zur Seite fühlten sich alle gleich schwindelerregend an. Es ging zu schnell, um Angst zu haben, aber es fühlte sich endlos an. Dann wurde alles still. Ich war still.

    Und es war heiß.

    Nach der Hitze registrierte ich als Nächstes das Licht, das grell gegen meine geschlossenen Augenlider brannte. Ich zwang meine Augen auf und blinzelte gegen den stechenden Schmerz in meinem Kopf. Strahlendes Gold-Weiß und Blau erstreckten sich, so weit ich sehen konnte, das ganze Bild verschwamm durch die Hitzewellen, die über die goldene Fläche schlugen.

    Ich blinzelte ein paarmal, um meine Sicht zu klären, und versuchte, mich auf meine Hand zu konzentrieren, die neben meinem Gesicht auf dem Boden lag.

    Sand polsterte sie, rieselte zwischen meine Finger, heiß und rau.

    Sand.

    Sand? Ich rappelte mich auf die Füße, schwindelig, verängstigt. Mein Gleichgewichtssinn schwankte, als hätte ich plötzlich an Größe und Schlankheit zugenommen... als hätte sich die Schwerkraft der Welt irgendwie verschoben. Ich fing mich und konzentrierte mich auf die Sandmassen, die sich in jede Richtung von mir ausdehnten. Mir wurde schwindelig, das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich dachte, ich müsste mich übergeben.

    Das ist unmöglich. Wie kann ich mitten in einer verdammten Wüste sein?

    Aber es war schwer, die Wüste für unmöglich zu erklären, wenn mir ständig Sand ins Gesicht gepustet wurde. War ich ohnmächtig geworden oder bewusstlos geschlagen worden? Hatte Mr. Dansy mich betäubt? Was auch immer passiert war, ich musste jetzt bewusstlos sein, denn das musste ein Traum sein. Es gab einfach keine Möglichkeit, dass ich hier sein konnte, in einer Wüste, wo ich doch einen Moment zuvor in einem Lebensmittelladen mitten in Nowhere, Texas, gestanden hatte.

    Dann also ein Traum, definitiv. Meine Träume fühlten sich immer so real an und außerdem versuchte ein kleiner Teil meines Geistes, mir einzureden, dass ich diesen Traum schon tausendmal oder öfter geträumt hatte. Ich konnte nicht sagen, ob es stimmte, aber irgendwie... irgendwie kam mir der Anblick der Wüste seltsam vertraut vor.

    Die vernünftige Stimme in meinem Hinterkopf sagte ganz rational: Schließe deine Augen, zähle bis zehn und öffne sie wieder, dann wirst du sehen, dass du dich gar nicht bewegt hast. Wach auf.

    Das tat ich. Ich kniff die Augen fest zu, zählte langsam bis zehn und versuchte, den heißen Wind und das Stechen der winzigen Sandkörner auf meinen Wangen zu ignorieren. Ich zählte noch ein paar Sekunden länger, atmete tief durch und öffnete die Augen.

    Nichts hatte sich verändert.

    Wo war ich?

    Langsam drehte ich mich um, die Hände zur Balance ausgestreckt, und suchte nach irgendetwas oder irgendjemandem, der mir sagen konnte, wo ich war. Es half nichts. Lediglich der weite, kahle Horizont zeichnete sich vor dem Tageslicht am Rande des Nichts ab.

    Ich

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