Die blaue Stunde: Wenn der Tag geht
Von Jule Heck
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Über dieses E-Book
Von Hanna, die in kleinbürgerlichen Verhältnissen in einem beschaulichen Städtchen am Chiemsee aufgewachsen ist, wird erwartet, dass sie sich den drei großen K`s Kinder, Küche, Kirche widmet und ihre eigenen Wünsche hintenanstellt. Sie bekommt zwei weitere Kinder mit Stefan, der es mit der ehelichen Treue nicht so genau nimmt.
Obwohl sie finanziell abgesichert ist, versucht sie, sich beruflich auf eigene Füße zu stellen und unabhängig von ihrem Mann zu werden. Plötzlich gerät Hanna in eine Situation, durch die sich ihr ganzes Leben ändert. Endlich kann sie ihren Traum, als Innenarchitektin zu arbeiten, verwirklichen. Auf dem Höhepunkt ihrer beruflichen Karriere nimmt sie eine Auszeit, die sie an der Ostsee verbringt. Bald stellt sie fest, dass sie das ruhige Leben an der Flensburger Förde nicht ausfüllt. Sie stürzt sich in ein neues Betätigungsfeld und lernt dabei einen interessanten, aber geheimnisvollen Mann kennen. Wird sie ein spätes Glück finden?
Jule Heck, die sich mit der Krimiromanreihe „Tod im Schatten der Burg“ einen Namen gemacht hat, legt mit ihrem ersten Gesellschaftsroman ein Werk vor, in dem sie ein Stück Zeitgeschichte ihrer Lebensjahre reflektiert. Treffend beschreibt die Autorin das Leben der Frauen, die sich nach und nach aus dem teilweise engen Korsett der von der Gesellschaft vorgegebenen Rolle befreien.
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Buchvorschau
Die blaue Stunde - Jule Heck
Mein altes Leben
Kapitel 1
Ich werde Großmutter. Nicht zu fassen. Mit 48 Jahren macht mich meine Tochter zur Oma. Wie herrlich! Ein schöneres Geburtstagsgeschenk hätte man mir nicht machen können.
Lisa Marie, meine älteste Tochter, hatte mich beim gemeinsamen Frühstück auf der Seeterrasse mit dieser fantastischen Neuigkeit überrascht. Eigentlich hatte sie das freudige Ereignis erst am Abend auf meiner Geburtstagsparty verkünden wollen. Doch ich hatte sofort bemerkt, dass da was im Busch war, da sie den sonst üblichen Sekt ablehnte. Ich sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie schwanger ist. Einer Mutter kann man eben nichts vormachen.
Hier wiederholte sich gerade mein Schicksal, denn meine Mutter hatte auch mir meine Schwangerschaft schon angesehen, bevor ich sie selbst so richtig realisiert hatte.
Ein Kind zu bekommen, war für mich damals mit gerade 18 Jahren genauso weit weg wie eine Reise zum Mond. Ich stand kurz vor dem Abitur, wollte danach eigentlich studieren, vielleicht auch als Au-Pair-Mädchen ein Jahr ins Ausland gehen, bevor ich mal an die Familienplanung denken würde.
Doch meine Mutter bestand darauf, dass ich Stefan heiraten müsse. Es ginge ja wohl nicht an, dass ich das Kind alleine großziehe. Außerdem war es gesellschaftlich in Oberbayern immer noch nicht en vogue, wie sie sich auszudrücken pflegte, dass man ein uneheliches Kind in die Welt setzte.
Sie selbst hatte es als Kind 1944 mit meiner Großmutter in den Chiemgau geschafft. Als Flüchtlinge aus Böhmen waren sie damals bei einer entfernten Verwandten in Prien untergekommen.
Eine Hochzeit mit Stefan kam meiner Mutter, dem Sohn aus einem reichen, urbayrischen Elternhaus, gerade recht. Auf der einen Seite kämen meine Eltern um die Finanzierung eines langjährigen Studiums herum, auf der anderen Seite würde das ihre eigene gesellschaftliche Stellung enorm aufwerten, wenn ich, Tochter eines Finanzbeamten und einer Hausfrau, die sich nebenbei mit Näharbeiten etwas hinzuverdiente, in eine Familie einheiratete, die bei den oberen Zehntausend in der Stadt mitmischte.
Meine Mutter hatte schon immer ein enormes Geltungsbedürfnis und einen mächtigen Standesdünkel. Als Flüchtlingskind, ohne Vater aufgewachsen, er blieb auf einem der Schlachtfelder im 2. Weltkrieg verschollen, hatte sie es anfangs in der neuen Heimat schwer gehabt. Durch die Heirat mit Ludwig Seidl aus einer Beamtenfamilie, die schon seit Generationen hier im Chiemgau beheimatet war, hatte sie den erhofften Respekt ebenso wenig erreicht, wie das Gefühl der Zugehörigkeit in der Kleinstadt am Chiemsee. Auch nach über 30 Jahren, die sie hier jetzt lebte, hörte man immer noch den böhmischen Dialekt heraus.
Meine Mutter nahm sofort Kontakt zu Auguste Burger, Stefans Mutter, auf und machte ihr klar, dass ihr Sohn, der mich geschwängert hatte, nun auch Verantwortung übernehmen und mich heiraten müsste.
Frau Burger, eine strenge Katholikin, gab meiner Mutter recht, wenn auch ungern. Sie hätte sicherlich eine Schwiegertochter rein bayrischen Ursprungs aus ihren eigenen Kreisen lieber gesehen, aber sie war sich der Verantwortung bewusst und stimmte einer Hochzeit zu.
Stefan und ich wurden gar nicht gefragt, ob wir überhaupt heiraten wollten. Die Mütter legten einfach einen Hochzeitstermin fest und begannen mit der Planung. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Denn wenn ich im Juni 76, da wäre mein Babybauch ja schon deutlich zu sehen, an einer katholischen Mädchenschule das Abitur ablegen wollte, könnte ich dies in meinem Zustand nur als verheiratete Frau tun. Die Nonnen erklärten sich auch nur deshalb damit einverstanden, weil Stefans Vater, ein Bauunternehmer, der Schule eine großzügige finanzielle Spende versprach.
Stefan wurde ebenso vor vollendete Tatsachen gestellt wie ich. Ihn lernte ich im Reitstall kennen. Adelgunde, meine Freundin aus Kindertagen, hatte dort ihr Pferd stehen. Ich half ihr beim Füttern und ausmisten und durfte auch auf Jupiter, einem braunen Wallach, reiten.
Die Mädels aus dem Reitstall waren alle in Stefan verknallt. Er machte eine tolle Figur auf seinem schwarzen Hengst und jede von ihnen hätte sich sofort mit ihm eingelassen. Er war unglaublich gutaussehend und erinnerte mich immer an ein Bildnis, das König Ludwig II, den imposanten Bayernkönig zeigte. Seine Wahl fiel ausgerechnet auf mich, als ich ihn 1975 in Rosenheim beim Herbstfest traf. Ich hielt mich für ein unscheinbares, schüchternes Wesen. Doch die Blicke der Jungs verrieten mir, dass ich mit meinen dunklen Locken, den großen braunen Augen und dem leicht getönten Teint nicht so hässlich sein konnte.
Vor dem Zelt stieß ich mit Stefan zusammen. Er nahm mich einfach bei der Hand und führte mich zur Tanzfläche. Vor lauter Aufregung trat ich auf den langen Rock meines Dirndls, was einen Riss im Stoff zur Folge hatte. Meine Mutter hatte es mir eigens für diesen Anlass genäht. Das Tanzen konnten wir vergessen.
Stefan lachte und bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Unterwegs hielt er in einem Waldweg an. Mir war etwas mulmig zumute, als er mich an sich drückte und mir feuchte Küsse auf den Hals und mein Dekolleté drückte. Natürlich hatte ich schon mal einen Jungen geküsst, war also nicht ganz unerfahren, aber mir war nicht klar, was der acht Jahre ältere Stefan ausgerechnet von mir wollte.
Naja, das stellte sich schnell heraus. Er wollte Sex. Und ich wollte es auch. Der Sex mit ihm war gut, leidenschaftlich, wild, ekstatisch. Von Liebe war keine Rede und ehrlich gesagt, ich war auch nicht wirklich verliebt in ihn, fühlte keine Schmetterlinge im Bauch.
Kapitel 2
Ich fühlte mich durchaus stark zu Stefan hingezogen. Er beherrschte mich, machte mich gefügig. Ich war ihm verfallen und genoss die leidenschaftlichen Stunden mit ihm. Wir trafen uns oft und taten es überall, wo sich eine Möglichkeit bot. Nicht nur im Reitstall oder in seinem Auto, nein, wir fuhren auch oft in die Berge, wo seine Familie eine Hütte besaß, die man beheizen konnte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Ausblick auf die bergige Landschaft, in deren Mitte das Blau des Chiemsees schimmerte. Den herrlichen Ausblick genossen wir jedoch selten.
Stefan versicherte mir immer wieder, dass er ganz verrückt sei nach meinen Brüsten. Er könne gar nicht genug davon kriegen, sie zu berühren und sein Gesicht zwischen meinen Rundungen zu versenken. Für meine damals 17 Jahre hatte ich tatsächlich eine sehr frauliche Figur, an der ich mich störte. Mein zwei Jahre älterer Bruder Harald zog mich immer damit auf.
Ich besorgte mir heimlich die Pille. Meine Mutter hätte mir das nie erlaubt. Für sie galt Jungfräulichkeit bis zum Eintritt in die Ehe.
Eine Magen- und Darmgrippe wurde mir schließlich zum Verhängnis. Die ganze Familie litt daran, einschließlich meiner Wenigkeit. Mir war nicht klar, dass sich dadurch die Wirkung des Verhütungsmittels verflüchtigen würde. Das war es dann. Ich wurde schwanger. Zunächst merkte ich es nicht einmal. Ich dachte, dass meine anschwellenden Brüste und meine Gewichtszunahme von der Einnahme der Pille kämen. Meiner Mutter fiel meine plötzliche Blässe und ständige Übelkeit auf. Die Frauenärztin, zu der sie mich brachte, bestätigte die Vermutung meiner Mutter.
Bevor ich Stefan von dem Kind erzählen konnte, hatte meine Mutter bereits alles in die Wege geleitet. In einer überwiegend katholischen Gegend kam es nicht in Frage, dass ich ein uneheliches Kind zur Welt bringen würde. Das sah nicht nur meine Mutter so, sondern auch Stefans Mutter.
Stefan war genauso wenig begeistert wie ich, aber er sagte nur, es hätte ja auch schlimmer kommen können.
Stefan hatte mittlerweile sein Studium beendet und konnte sich als angehender Architekt durchaus eine Familie leisten. An Ostern wurden wir quasi verlobt und Ende Mai, genau an meinem 18.Geburtstag, wurden wir verheiratet. Ich konzentrierte mich auf die Schule und die bevorstehenden Abiturprüfungen, während unsere Mütter munter drauflos planten. Adelgunde war mein einziger Trost in dieser Zeit. Sie schaffte es immer wieder, mich aufzumuntern. Aber das Reiten wurde mir strengstens untersagt. Das könnte die Schwangerschaft gefährden, sagte meine Mutter, deren einzige Sorge darin bestand, dass irgendetwas meine Vermählung mit Stefan verhindern könnte.
Zum Polterabend erschienen zweihundert Gäste. Davon kannte ich, abgesehen von meinen Schulfreundinnen, nur die wenigsten. Auch an der Hochzeit am übernächsten Tag kamen Leute, mit denen ich noch nie etwas zu tun gehabt hatte.
Ich fragte mich, wie sich meine Eltern das finanziell leisten sollten, doch meine Mutter beruhigte mich. Stefans Eltern würden für alles aufkommen. Es war ihnen wichtig, ihre Geschäftspartner und Honoratioren aus dem öffentlichen Leben einzuladen. Unter den vielen Gesichtern, immerhin waren 100 Gäste zugegen, entdeckte ich sogar den Bürgermeister der Stadt, den ich bisher nur von Wahlplakaten kannte.
Von meiner Familie waren meine Eltern, mein Bruder Harald und meine zwei Jahre jüngere Schwester Ulla sowie meine Patentante Helene, die Schwester meines Vaters und deren Tochter, meine Cousine Anneliese anwesend. Meine böhmische Großmutter und die Eltern meines Vaters waren bereits verstorben. Außer ein paar Cousins meines Vaters hatten wir keine Verwandten. Der Krieg und seine Folgen hatte viele Opfer gefordert und ganze Familien vernichtet.
Das Brautkleid und die ganze Ausstattung, einschließlich der Unterwäsche und der Schuhe wurde von den künftigen Schwiegereltern bezahlt. Zur standesamtlichen Trauung musste ich ein Dirndl tragen, das meine Mutter genäht hatte. Zugegeben, es war wunderschön. Ich gefiel mir darin. Das Brautkleid durfte ich selbst wählen. Es war ein Traum aus cremefarbener Spitze, die den kleinen Babybauch geschickt verdeckte. Bei der Anprobe des Kleides bekam ich einen Vorgeschmack von der Bekanntheit und dem Reichtum meiner neuen Familie.
Die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, mitten in Prien, war wunderschön geschmückt. Kleine Sträuße aus Maiglöckchen, zierten den Eingang jeder Kirchenbankreihe und verströmten einen herrlichen Duft. Als mein Vater mich zum Hochzeitsmarsch zum Altar führte, war ich aufgeregt wie ein kleines Kind. Stefan sah in seinem extra angefertigten Anzug aus feinstem Lodenstoff äußerst stattlich aus und reichte mir lächelnd den Arm.
So weit so gut. Nach den Feierlichkeiten traten Stefan und ich die Flitterwochen an. Die Schule hatte mich für eine Woche vom Unterricht befreit. Bis dahin hatten wir beide eigentlich gar keine Möglichkeit mehr gehabt, alleine zu sein. Bis zur Trauung drehte sich alles um die Einladung der Gäste, die Kleiderauswahl und die Tischordnung.
Eigentlich hätten wir froh sein können, dem ganzen Trubel zu entkommen. Erst jetzt würden wir uns richtig kennenlernen. Aber wenn wir ehrlich waren, hatten wir uns gar nicht viel zu sagen, und mit dem Sex war es auch nicht mehr so toll. Stefan störte sich an meinem Babybauch, erklärte mir, er wolle dem Kind nicht schaden.
Wir waren in eine Ehe hineingedrängt worden, die wir beide nie angestrebt hatten. Nun mussten wir sehen, wie wir das Beste daraus machen konnten, zwei Fremde, die nichts anderes kannten als Sex.
Stefan versprach mir, dass er mich nicht im Stich lassen würde, erklärte, dass wir das Beste aus der Situation machen sollten. Wir nutzten diese eine gemeinsame Woche in den Tiroler Bergen, um uns besser kennenzulernen, unsere Ideen auszutauschen, über unsere Wünsche zu sprechen und uns kleine Geheimnisse anzuvertrauen. Eigentlich war es eine ganz angenehme Woche, aber auch danach empfand ich nicht mehr als Freundschaft für ihn.
Kapitel 3
Stefan machte es mir leicht. Er behandelte mich wie eine gute Freundin. Das Schlimme war nur, dass ich mir ein Studium nach dem Abitur abschminken konnte. Meine Mutter weigerte sich, mein Kind zu beaufsichtigen, während ich an der Uni wäre. Aus und vorbei war es mit Partys oder unbeschwerten Stunden mit meinen Freundinnen und erst recht mit einem Auslandsaufenthalt. Das Reiten musste ich ganz an den Nagel hängen. Ich war verheiratet und gebunden an einen Mann, den ich nicht liebte.
Das konnte ich nur meiner besten Freundin Adelgunde anvertrauen. Denn alle anderen beneideten mich um den schwarz gelockten Stefan, der nicht nur umwerfend gut aussah, sondern mittlerweile auch einen tollen Job in der Firma seines Vaters hatte, dazu das nötige Kleingeld, um mir in Zukunft ein schönes Leben zu ermöglichen.
Wir bezogen eine Dreizimmerwohnung, die sich in einem der vielen Mietshäuser meiner Schwiegereltern befand. Unsere Eltern hatten das so entschieden. Meine Schwiegermutter hatte mir eine Zugehfrau besorgt, die sich um den Haushalt kümmerte, damit ich mich in Ruhe auf mein Abitur vorbereiten konnte.
Ich bestand es trotz der Umstände recht gut. Die Direktorin der katholischen Mädchenschule überreichte mir im Juli mein Zeugnis mit spitzen Fingern und meinte konsterniert, dass es schade um so ein begabtes Mädchen wie mich sei. Sie sah mich immer noch als Mädchen an und ihre Aussage machte mir nicht gerade Mut. Es klang fast wie ein Urteil: Lebenslang an einen Mann gekettet.
Ich konnte nicht einmal mit meinen Mitschülerinnen feiern. Obwohl es noch vier Monate bis zur Geburt meines Kindes waren, trug ich bereits jetzt meinen Bauch wie einen Ballon vor mir her. Alkohol durfte ich nicht trinken, geschweige denn auf einem Anhänger sitzend von einem Traktor durchs Feld gezogen zu werden, wie das damals üblich war.
Traurig ging ich nach Hause und war ratlos, was ich mit meiner Zukunft anfangen sollte, außer mich um mein Kind zu kümmern und Windeln zu wechseln. Zu Hause wartete eine Überraschung auf mich. Meine Schwiegereltern hatten eine kleine Feier im Kreis der Familie für mich vorbereitet. Meine Familie war dabei, auch Stefans Bruder Paul, den ich sehr mochte.
Die Großeltern meines Mannes überreichten uns den Schlüssel ihres Häuschens. Sie selbst wollten auf den Hof ihres zweiten Sohnes Gustav ziehen, dem Bruder meines Schwiegervaters Leopold.
Der Aufenthalt in der Dreizimmerwohnung war also nur vorübergehend und bevor ich es mich versah, war ich damit beschäftigt, unser neues Heim zu renovieren und einzurichten. Ich sah eine große Chance in dieser Beschäftigung. Schon immer hatte es mir Freude gemacht, Räume zu gestalten, ich suchte also in den nächsten Monaten sämtliche Möbelhäuser in der Umgebung auf, wälzte Magazine für Einrichtungen, machte Pläne für ein perfektes, gemütliches und kindgerechtes Heim.
Zunächst begleitete mich Adelgunde. Ende September verabschiedete sie sich nach Bamberg, wo sie sich für ihr Psychologie-Studium immatrikuliert hatte.
Daraufhin bot meine Schwiegermutter Auguste mir ihre Hilfe an. Sie begleitete mich und unterstützte mich finanziell und zwar überaus großzügig. Sie schlug mir keinen Wunsch ab. Sie war mir eine große Hilfe. Vor allem besaß sie ein Auto, mit dem sie mich überall hinfuhr und wenn wir die Geschäfte verließen, füllte sich ganz schnell der Kofferraum und die hintere Sitzbank ihres Golfs.
Den Standesunterschied ließ sie mich nie spüren. Sie behandelte mich wie eine Tochter, obwohl ich sie nicht mit Mutter ansprechen sollte, sondern mit Gustl, wie alle anderen das auch taten. Einmal sagte sie zu mir: „Ich habe nicht einen Sohn verloren, sondern eine Tochter dazu bekommen." Ich war total gerührt.
Vielleicht lag es aber auch daran, dass sie selbst zwar aus einem reichen Elternhaus stammte, mein Schwiegervater Leopold aber eher aus kleinen Verhältnissen kam. Sein Vater war Maurermeister gewesen und hatte sich 1946 nach dem Krieg getraut, ein eigenes Bauunternehmen aufzubauen, was den Grundstock für den heutigen Reichtum der Familie Burger legte. Er hatte es gewagt, sich zu einer Zeit selbständig zu machen, als Deutschland nach der vernichtenden Weltkriegsniederlage in Schutt und Asche lag. Anfangs ging es nur langsam voran. Es fehlten gesunde, junge Männer, denen die Maurerarbeit nicht zu schwerfiel, und vor allem mangelte es an Material. Aber Leopolds Vater gab nicht auf. Er hatte früh begriffen, dass er mit der Stadt Prien zusammenarbeiten musste, um bezahlbaren Wohnraum für die vielen Flüchtlinge zu schaffen.
Auguste, die von ihrem Mann liebevoll Gustl genannt wurde, hatte 1947 gegen den Willen ihrer Eltern ihren Leopold geheiratet. Er stand damals kurz vor der Beendigung seines Studiums als Bauingenieur. 1948 wurde Paul geboren und 1950 erblickte Stefan das Licht der Welt.
Leopold und sein Vater waren mit ihrem Baugeschäft aktiv am Wiederaufbau der Bundesrepublik beteiligt. Beide Söhne stiegen nach einem erfolgreichen Architekturstudium in das Baugeschäft Burger ein, das mittlerweile zu einem beachtlichen Unternehmen herangewachsen war und schließlich als Burger und Söhne firmierte.
Kapitel 4
Es gelang mir tatsächlich, unser neues Heim schön und modern zu gestalten. Stefan war begeistert und sparte nicht mit Lob. Kurz vor der Geburt unseres ersten Kindes zogen wir aus der Dreizimmerwohnung in ein komfortables Haus mit fünf Zimmern, einer Küche, zwei Bädern und einem großen Garten.
Mitte Oktober kam Lisa Marie zwei Woche zu früh auf die Welt. Stefan war bei einem wichtigen Kunden und konnte mich nicht ins Krankenhaus begleiten. Wieder war es Gustl, die mir zur Seite stand.
Lisa Marie war ein hübsches Baby und vollkommen unkompliziert. Sie schlief viel und entwickelte sich prächtig. Als mich meine Freundinnen nach der Geburt von Lisa Marie besuchten, staunten sie nicht schlecht, was ich aus dem alten Kasten der Großeltern gemacht hatte. Sie versprachen mir, mich auf alle Fälle bei der Einrichtung ihrer Wohnungen oder Häuser in ferner Zukunft um Rat zu bitten. Doch das würde noch dauern, denn die meisten machten erst einmal eine Ausbildung oder studierten.
Meine Schwiegermutter schleppte ihre sämtlichen Freundinnen an, um ihnen das wunderschöne Haus und meine Tochter zu präsentieren. Ich war in ihrer Achtung enorm gestiegen. Zum einen, weil ich Leopolds Elternhaus so geschmackvoll umgestaltet hatte und zum anderen, weil ich unsere Erstgeborene den Namen ihrer Mutter Lisa und den Namen ihrer Großmutter Marie gegeben hatte. Ich verstand mich mit ihr mittlerweile besser als mit meiner eigenen Mutter, die es sich nicht nehmen ließ, ebenfalls mit ihren Freundinnen, meistens unangemeldet, aufzutauchen und mit unserem Häuschen im Grünen anzugeben.
Alle waren so angetan von meinen Gestaltungsideen, dass mich die eine oder andere fragte, ob ich bei der Einrichtung ihrer eigenen Räume behilflich sein könnte. Ich nahm die Angebote an und kniete mich in die Arbeit. Dabei half mir, dass ich mir das Nähen bei meiner Mutter abgeschaut hatte. Gustl schenkte mir eine elektrische Nähmaschine und so konnte ich selbst Gardinen und Kissenhüllen, Tagesdecken und Tischdecken nähen.
Kapitel 5
Lisa Maria wuchs und gedieh. Meine Schwiegermutter war ganz vernarrt in sie und nahm sie mir oft ab, wenn ich mit meinen Auftraggeberinnen zusammentraf und neue Möbel, Tapeten und Wohnaccessoires mit ihnen aussuchte oder Näharbeiten erledigte.
Die Einrichtungsmagazine, Tapetenbücher und Kataloge von Einrichtungshäusern stapelten sich in meinem Arbeitszimmer, das ich mir unter dem Dach eingerichtet hatte. Die Arbeit machte mir richtig Spaß und ich trauerte nicht länger meinem entgangenen Studium nach.
Ich nahm mir vor, eine Lehre als Dekorateurin zu machen, sobald Lisa Marie den Kindergarten besuchen würde. Die Idee behielt ich jedoch zunächst für mich. Denn ich merkte alsbald, dass mein Mann von meiner neuen Tätigkeit nicht so angetan war, auch wenn sie nicht mehr als ein schönes Hobby war.
Ihm wäre es lieber, ich würde mich mehr um unser Kind und die Küche kümmern. Denn meine Kochkünste ließen immer noch zu wünschen übrig, trotz der vielen Kochbücher, die ich nach und nach geschenkt bekam. Mal war es der Spargel, den ich ungeschält ins kochende Wasser warf, mal war es der Schnellkochtopf, der auf dem Herd explodierte und das Sauerkraut an der Küchendecke verteilte.
Meine Mutter jammerte ständig, dass ich noch nicht einmal kochen könnte, geschweige denn in der Lage war, ein Hemd zu bügeln. Ich rief sie öfter an und bat um ihren Rat.
Schließlich besuchte ich einen Kochkurs und eignete mir ein paar Grundkenntnisse an. So langsam fand ich Spaß am Kochen und probierte alle möglichen Gerichte aus. Leider kam Stefan nur am Wochenende in den Genuss meiner neuen, abwechslungsreichen Kochkünste, da er unter der Woche immer erst sehr spät heimkehrte.
Mein Schwager Paul, der mich oft besuchte, ließ sich gern bekochen. Er spielte auch geduldig mit Lisa Marie und kümmerte sich so um das Kind, wie ihr Vater das eigentlich hätte tun sollen.
Stefan bemerkte meine Ausgeglichenheit und fand mich abends glücklich und zufrieden vor. Als er dahinterkam, dass oft sein Bruder Paul zu Besuch kam, verspürte er sogar etwas wie Eifersucht und plötzlich interessierte er sich wieder für mich. Wir hatten wieder Sex, stürmisch und leidenschaftlich wie in unserer ersten Zeit. Im Sommer saßen wir abends gemeinsam auf der Terrasse, ich trank ein Glas Wein, Stefan eine Maß Bier von seiner Lieblingsbrauerei und wir genossen die blaue Stunde, die Zeit, wenn sich das Tageslicht langsam verabschiedet und die Nacht hereinbricht.
Kapitel 6
Nun schien ich doch noch in meiner Ehe angekommen zu sein. Lisa Marie machte mir großen Spaß. Mein Mann hatte Erfolg im Beruf und ich hatte Spaß an meinem Hobby. Meine Kochkünste wurden immer besser und gemeinsam streiften wir samstags über den Markt, um die benötigten Zutaten frisch einzukaufen.
Gern besuchten wir eines der großen Volksfeste in der Umgebung und trafen uns dort mit Freunden. Stefan war ein guter Tänzer. Es machte Spaß, mit ihm über die Holzböden der Tanzdielen zu schweben und ich genoss die neidischen Blicke der anderen Frauen.
Gustl passte indessen gern auf unsere Tochter auf, die mein Schwiegervater seine Prinzessin nannte. Leopold hatte mir erst zur Taufe von Lisa Marie das Du angeboten. Ab sofort durfte ich ihn Poldi nennen. Eigentlich passte der Name nicht wirklich zu ihm, denn er war ein großer, stattlicher Mann. Der Name Poldi erinnerte mich eher an einen kleinen Jungen. Aber wenn er es so wollte, sollte es so sein. Ich fühlte mich wohl in meiner neuen Familie.
So langsam empfand ich so etwas wie Liebe für meinen Mann. Ich freute mich, wenn er nach Hause kam und wir gemeinsam den Tag Revue passieren ließen. Stefan hatte zwar immer noch nicht von Liebe gesprochen, aber ich spürte, dass er für mich mehr als freundschaftliche Gefühle hegte.
Das war wohl die schönste Zeit in unserer Ehe. Ich vertraute ihm meinen Wunsch an, eine Ausbildung als Dekorateurin zu machen, doch davon wollte er nichts wissen.
„Du bist doch noch so jung, du hast noch jede Menge Zeit. Vor allem musst du doch gar kein Geld verdienen. Uns geht es so gut." Das waren seine Worte. Mit einem Mal holte er mich aus meinen Träumen wieder auf den Boden der Tatsachen. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu streiten, denn ohne seine Einwilligung wollte ich die Ausbildung nicht machen. Ich hätte seine Erlaubnis nicht mehr gebraucht, seit 1977 durften Frauen auch ohne Billigung ihres Ehemannes oder Erziehungsberechtigten eine Ausbildung machen oder einen Beruf ausüben.
Immerhin bemühte sich Stefan mehr um mich. Er schlug mir vor, in den örtlichen Segelverein einzutreten. Dass er damit auch die Absicht verfolgte, Geschäftskontakte zu wohlhabenden Personen aus der Umgebung zu pflegen, war mir damals nicht klar.
Das Segeln machte mir Spaß, mehr als das Reiten, das ich nicht nur wegen meiner Schwangerschaft aufgab, sondern auch weil Adelgunde ihr Pferd mit nach Bamberg genommen hatte.
So lernte ich neue Leute kennen und knüpfte ebenfalls Kontakte zu wohlhabenden Ehefrauen, die sich von mir gern bei der Ausstattung ihrer Häuser im Landesstil beraten ließen, die zu dieser Zeit an den Hängen rund um den See aus dem Boden schossen.
Kapitel 7
Während die Firma Burger weiter expandierte und unsere Familie sich so langsam zusammenraufte, gab es im September und Oktober 1977 eine Reihe von Anschlägen der 1970 gegründeten Rote-Armee-Fraktion. Diese als „Offensive 77" bezeichnete Serie von Anschlägen sollte dazu dienen, inhaftierte RAF-Mitglieder der ersten Generation freizupressen und führte in eine als – Deutscher Herbst – bezeichnete innenpolitische Krise.
Vor allem Politiker und Personen aus der Deutschen Wirtschaft fielen der RAF zum Opfer und die Familie Burger, war wie viele Großunternehmer nicht nur entsetzt, sondern fürchtete sich ebenfalls vor Angriffen der linksradikalen Gruppierung. Mein Schwiegervater Leopold, der schon früh in die CSU eingetreten war, nahm dies zum Anlass, sich noch mehr für die Politik zu interessieren und Verbindungen zu knüpfen. Die Aktionen der RAF wurden immer mehr zum Mittelpunkt der Gespräche an den Familienfeiern und belasteten damit die Stimmung, bis meine Schwiegermutter die Männer aufforderte, in Gesellschaft darüber zu schweigen oder fernzubleiben. Das half, die Männer der Burgers sprachen ab sofort nur noch sonntags nach der Messe am Stammtisch darüber.
Ich hatte eigentlich ein sehr angenehmes Leben. Meine beste Freundin Adelgunde, die ich nur in den Semesterferien zu sehen bekam, beneidete mich immer noch um mein