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1. April, 13.10 Uhr: Erinnerungen an (m)eine Kindheit in den 60er und 70er Jahren
1. April, 13.10 Uhr: Erinnerungen an (m)eine Kindheit in den 60er und 70er Jahren
1. April, 13.10 Uhr: Erinnerungen an (m)eine Kindheit in den 60er und 70er Jahren
eBook564 Seiten7 Stunden

1. April, 13.10 Uhr: Erinnerungen an (m)eine Kindheit in den 60er und 70er Jahren

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Über dieses E-Book

Launige Kindheitserinnerungen an die 60er und 70er Jahre, verbracht in einem kleinen Dorf in einem deutschen Mittelgebirge.
Mit einem Augenzwinkern wird das Werden und Wachsen im alten Wohnhaus der Großeltern beschrieben, angesiedelt auf einem kleinen Pachthof, der schon bessere Zeiten gesehen hat.

Eine Begegnung mit liebgewonnenen Gewohnheiten und Gebräuchen, dem Leben auf dem Land und den damit verbundenen Einschränkungen, wie sie in vielen Familien gang und gäbe waren.

Einladung zu einer unterhaltsamen Rückschau - für die, die zu spät geboren wurden, um sie miterlebt zu haben und die, die sich ihrer gern und mit ein wenig Wehmut erinnern.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Juli 2019
ISBN9783748255529
1. April, 13.10 Uhr: Erinnerungen an (m)eine Kindheit in den 60er und 70er Jahren

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    Buchvorschau

    1. April, 13.10 Uhr - Sylvia Harrison Rebolledo

    1. April, 13.10 Uhr

    Nein, wir sprechen hier nicht vom ersten Sendetermin der ARD, obwohl auch die an diesem Tag sozusagen das Licht der Welt erblickte und umgekehrt.

    Hier ging es um einen durchaus ernstgemeinten Aprilscherz, den man der Verwandtschaft allerdings bereits als lebendigen Osterhasen angekündigt hatte, um ihn am 14. April, dem Ostersonntag, bei einem Besuch bestaunen zu lassen.

    Und lebendiger Osterhase hörte sich doch ungleich putziger an, als plötzlich verlauten zu lassen, dass es sich in Wahrheit um ein Baby handelte, das da angekommen war, zumindest vor dem Hintergrund, dass man keinen entsprechenden Vater dazu präsentieren konnte.

    Anfang der sechziger Jahre schickte es sich einfach nicht, als unverheiratete Frau ein Kind zu bekommen; die sogenannte Pille war noch relativ neu auf dem Markt, wurde außerdem mit etwas Skepsis angesehen, und längst noch nicht jede Frau kannte und ließ sie sich verschreiben. Außerdem war sie auch Anfang der sechziger Jahre nicht dazu erdacht, spontanen Ein- und Hingebungen etwas entgegen zu setzen.

    Und so sollte ich an diesem Montag, pünktlich zum Mittagessen, das Licht der Welt erblicken.

    Natürlich gab es Eingeweihte, die um den Zustand guter Hoffnung meiner Mutter gewusst hatten, nicht zuletzt ihre Eltern, die spontan entschieden Das Kind kommt zu uns! während meine Mutter noch überlegte, wie sie Arbeit und Kind unter einen Hut bringen sollte, da es einen offiziellen Ernährer, der ihr diese Entscheidung abgenommen hätte, ja nicht gab.

    Es war also beschlossene Sache, dass es direkt im Anschluss an das Krankenhaus zu Oma und Opa ging, in ein kleines Dörfchen in einem deutschen Mittelgebirge, in dem noch so mancher sich - und weniger zurückhaltende auch besagte Großeltern - fragen sollte, was es denn mit dem Vater dieses Babys wohl auf sich habe.

    Aber zunächst einmal war ja viel wichtiger, in was für eine Umgebung es käme, das kleine Wesen, das noch auf Fotos aus der Silvesternacht so verborgen gewesen war, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, seine Mutter bereits Ende des sechsten Monats zu vermuten.

    Ein Wohnhaus aus dem Jahr 1880 auf einem ziemlich heruntergewirtschafteten Bauernhof sollte sein erstes Zuhause werden. Ein riesiger Garten von 1000 qm schloss sich an, wie geschaffen für Kinderlachen, und so entstand das Umfeld, in dem es willkommen war und mit Liebe und Fürsorge aufgezogen werden sollte.

    Viel zu puppenhaft nahm es sich zunächst noch in dem neuen Paidi-Kinderbettchen aus; selbst die winzigsten Strampelanzüge waren an Armen und Beinen noch unendlich lang, aber nicht nur die Spielzeugabteilung von Karstadt, sondern auch eine Oma, die ja bereits zwei Kinder großgezogen hatte, wussten da Abhilfe zu schaffen.

    Schnell vergingen die ersten Tage der Umgewöhnung für alle, und schon nahte der Ostersonntag mit der großen Überraschung.

    Die bereits auserkorene Patentante, die auch im Krankenhaus schon zu Besuch gekommen war, kam pünktlich zum Mittagessen, der stolze Patenonkel lebte ohnehin im selben Haushalt, da es sich um den Bruder der jungen Mutter handelte; fehlten nur noch die frischgebackenen Urgroßtante und -onkel, die ganz unbedarft mit dem Zug aus Braunschweig anreisten.

    Na, da wurden aber Augen gemacht! Ein Baby! Wie war es denn dazu gekommen…? Nein, die Phantasie reichte schon, um sich eine Vorstellung vom wie zu machen, aber gar zu gern hätte man auch nach dem dazugehörigen Vater gefragt, aber das verbot sich unter solchen Umständen wohl von selbst. Also begnügte man sich mit dem Anblick der neuen Erdenbürgerin, und ließ sie sich auch einmal in den Arm legen, um sich diese kleinen Ohren, das winzige Näschen und die meist geschlossenen Augen aus der Nähe ansehen zu können.

    Möglich immerhin, man konnte doch bekannte Züge in diesem kleinen Gesicht ausmachen…

    Und ein so gänzlich unbekanntes Wesen war er ja auch nicht gewesen für die meisten, die da am Tisch saßen, schließlich waren meine Mutter und er seit den letzten Schuljahren befreundet gewesen und er war als regelmäßiger und gern gesehener Gast im Haus ein- und ausgegangen. Aber was mit einer Verlobung beginnen sollte kam dann doch zu keiner Hochzeit. Dramatische Umstände, ausgelöst von der zukünftigen Schwiegermutter, die sich standhaft weigerte, das Stammbuch herauszurücken, ehe das junge Paar sich nicht bereiterklärt hätte, sie unter ihrem Dach wohnen zu lassen, vereitelten die Entscheidung zu einem gemeinsamen Leben. Bei meiner Mutter schrillten noch rechtzeitig sämtliche Alarmglocken, auch wenn diese eher nicht mehr vernehmbar waren, als der beinahe Ehemann sie später in ihrer kleinen Wohnung besuchte.

    Er war zu dem Zeitpunkt ein aufstrebender Polizist, der noch die Polizeischule in Hannoversch Münden besuchte. Meine Mutter hatte ihre Arbeit in einer zu der Zeit noch kleinen Firma für Friseurbedarf, und so sahen sie sich nur am Wochenende.

    Nachdem die Trennung jedoch beschlossene Sache war, konnte man auch diese Besuche einstellen. Umso überraschter war meine Mutter, ihn eines Abends dennoch vor ihrer Tür zu sehen.

    Er teilte ihr mit, dass er in seinem Leben nach der Trennung keinen Sinn mehr sehen würde, zog zur Bekräftigung dieser Worte seine Dienstwaffe aus der Tasche und war viel zu bereit, ihrer entsetzten Einladung nachzukommen, doch erst mal reinzukommen, damit man über alles reden können.

    Es wurde ein insgesamt sehr fruchtbares Gespräch, das zwar an der Entscheidung selbst nichts änderte, ihn jedoch von seinem Entschluss abbrachte und damit mich auf die erste Umlaufbahn meines späteren Lebens.

    Viel bedeutete es meiner Mutter stets, durchblicken zu lassen, wie sie eine Zeitlang in dem Krankenhaus ausgeholfen hatte, in dem eine ihrer Tanten Oberschwester war. Das war damals auch möglich, wenn man keine examinierte Schwester war oder über eine ähnliche Vorbildung verfügte. Sie schwärmte noch ein halbes Jahrhundert später von den Nachtschichten, die sie machen musste und ließ zu gern durchblicken, wie wir das damals im Krankenhaus gehandhabt hätten.

    Aber scheinbar nicht einmal der Dienst im Krankenhaus hatte ihr eine Idee davon vermitteln können, wie das mit dem Kinderkriegen so funktioniert. Sollte sie, wie ich meine halbe Kindheit über, auch der Meinung gewesen sein, dass nur Verheiratete Kinder bekommen können? Oder ging es ihr so, wie mir in der zweiten Hälfte meiner Kindheit, in der ich davon überzeugt war, dass ein Kuss zu einem Kind führen würde?

    Dieses Rätsel wird sich wohl nicht mehr lösen lassen, sie von sich selbst behauptete jedenfalls, dass sie vollkommen ohne jedes Arg gewesen wäre.

    Stichelnde Fragen seitens des abgewiesenen Bräutigams ließen sie die Stirn in nachdenkliche Falten ziehen: Wartest Du nicht auf etwas? denn worauf schon hätte sie warten sollen?

    Er hatte sich scheint's hoffnungsvoll des ältesten Tricks bedienen wollen, den normalerweise eigentlich Frauen anwenden, wenn es darum geht, eine Beziehung retten zu wollen: Ein Kind muss gezeugt werden, und es hatte funktioniert!

    Nur ließ sich aus diesem Kind nicht das erwünschte Druckmittel machen, zeigte doch die werdende Mutter, nachdem auch ihr schließlich klar geworden war, auf welche Fährte sie gelockt worden war, keinerlei Anzeichen, ihre einmal getroffene Entscheidung rückgängig zu machen.

    Sicher, die Zukunft sah nun ganz anders aus, so war sie nicht geplant gewesen!

    Und wie sollte man das den Eltern sagen, nachdem sie gerade erst die Hochzeit verkraftet hatten, zu der es nicht gekommen war.

    Aber eine Lösung musste her, und zwei immerhin gab es…

    Nachdem die zweite von allen Seiten wieder und wieder abgewägt und aus jedem Blickwinkel als nicht infrage kommend ausgeschlossen worden war, blieb nur, den Stier bei den Hörnern zu packen und die Eltern mit ins Boot zu bekommen.

    Und die versuchten, sich ihren Schock nicht anmerken zu lassen. Wichtig war nur, wie es weitergehen sollte, Vorhaltungen und Tiraden waren dabei nicht hilfreich. Zeit und Stunde sind nicht immer gleich! pflegte meine Oma zu sagen, wenn jemand in Schwierigkeiten geraten war, anstatt mit Vorwürfen aufzuwarten; ich habe oft gedacht, dass sie diesen Satz sicher auch zu ihrer Tochter gesagt hatte, als diese weinend am Küchentisch saß, um ihr damit zu verstehen zu geben wir verurteilen dich nicht, denn was dir passiert ist, ist auch schon anderen vor dir widerfahren.

    Und so gab es natürlich Eingeweihte an diesem Ostersonntag, denn auch die Patentante war eine Freundin, die man schon aus der Schule kannte, und hatte der eigene Bruder nicht oft genug bereits Schwager zum mutmaßlichen späteren Familienmitglied gesagt, weil allen klar gewesen war, wie diese Freundschaft weitergehen würde?

    Aber davon wusste die Verwandtschaft aus Braunschweig natürlich kaum etwas, ein gern gesehenes Manko, denn mit allzu großem Vergnügen hätten sie das gut gehütete Geheimnis mit nach Haus genommen, um es dort an die eigene vielköpfige Familie weiterzugeben und im Geiste mit dem Finger auf diese gefallene junge Frau zu zeigen.

    So begann die erste Zeit für mich, und eine Feier jagte sozusagen die nächste. Kaum war Ostern vorüber, fand am fünften Mai die Taufe statt. Ein feines Taufkleid wurde für mich gekauft, das mit dreiunddreißig Mark schon einen stolzen Preis hatte.

    Es fanden sich in etwa die gleichen Gäste zusammen, die auch zu Ostern bei uns gewesen waren, und in der kleinen Holzkirche des Nachbardorfes, in der auch schon meine Mutter konfirmiert worden war, taufte mich dann auch der selbe Pastor.

    Zum Essen ging man natürlich nicht ins Restaurant, das fand Zuhause statt! Und da bekanntlich nichts schwerer zu ertragen ist, als eine Reihe von guten Tagen, kehrte danach auch erst mal Ruhe ein, bis wieder eine Feier mit mir zu tun haben würde.

    Schließlich gab es auch ohne Feiern genug für mich zu tun, denn Gesichter wollten erkannt und zugeordnet werden, zum Glück sah man manche davon öfter, Gewohnheiten bekam man antrainiert und wieder andere trainierte man selbst der Familie an. Die Rollen waren ziemlich schnell festgelegt, auch wenn nach außen hin natürlich niemand zugegeben hätte, welches gekrönte Haupt hier jetzt das Sagen hatte:

    Nach den neuesten Erkenntnissen der Wissenschaft war es nicht ratsam, Babys bei jedem Weinen sofort hochzunehmen, sie sollten vielmehr ruhig ihre Lungen erproben und lernen, dass nicht immer direkt jemand gelaufen kam, wenn ihnen - wortwörtlich - ein Pups quer saß.

    Und das galt erst recht für lange Nächte! Schließlich hatten alle ihr Recht aufs Durchschlafen, und so brauchte es nur eine gute Woche, bis das neue Familienmitglied daran gewöhnt war, dass es nicht von Erfolg gekrönt war, sich nachts mit Lappalien wie einem leeren Bauch oder einer vollen Windel Gehör verschaffen zu wollen. Dafür wurde es im Gegenzug immer zu seiner gewohnten Zeit hingelegt und hochgenommen und hatte bald verstanden, dass eine Nacht nicht ausreichend lang ist, um in ihr verhungern zu können.

    Ein Blick ins Bettchen genügte, ein Blick, der sofort erwidert wurde, denn wann ich erwachte war fester Bestandteil im Programm, so dass ich gar nicht erst auf die Idee kam, nach Personal zu schreien, weil es ohnehin schon im Anmarsch war.

    So wie man mir später erzählte, habe man eine Nachbarin dabei erwischt, wie sie das Ohr an unsere Stubentür gelegt hatte. Es war ihr keineswegs peinlich, sie fragte vielmehr, ob denn mit mir auch alles in Ordnung wäre, schließlich höre man mich nie weinen.

    Unzählige Fläschchen säumten meinen Weg, Berge von Windeln, die ausgekocht, getrocknet, gebügelt und wieder verwendet wurden, wo schon zehn Jahre später die erste Pampers-Generation Einzug halten sollte. Ja, auch 1963 gab es schon Vorläufer dieser Wegwerf-Windeln, aber die Mutter, die etwas auf sich und ihre Sparsamkeit hielt, die griff nach dem Altbewährten und verschloss die Stoffbahnen noch mit Sicherheitsnadeln.

    3,75 DM kostete das Penatenöl, um damit und der Watte für 85 Pfennig das kleine Popöchen zu reinigen. Für 1,20 DM war die Penatenseife zu haben, im Anschluss folgten die Penatencreme für 1,80 DM und der Puder der gleichen Marke - 1,50 DM kostete er 1963!

    Sechs Windeln für 7,80 DM, so steht es auf der Liste der durchgeführten Einkäufe zu lesen, die meine Mutter angelegt hatte, vier Moltontücher für 9,40 DM dazu, und die Vorstellung konnte beginnen!

    Dick gepolsterte Wickeltisch-Auflagen gab es nicht; meine Wickeltisch-Auflage war eher eine Küchentisch-Auflage und bestand aus einem Kopfkissen mit einem Badelaken darauf. Dann kam die gelbe Plastik-Waschschüssel (2,75 DM, falls das jemand wissen möchte) zum Einsatz, in der sonst das Penaten-Gestell thronte, das mit all diesen nützlichen Dingen bestückt war und auch noch Platz für die Q-Tips zu 1,65 DM bot, das Set aus Kamm und weicher Babybürste für 1,50 DM und das Badethermometer für 1,25 DM, das natürlich verwendet wurde, wenn die nächst größere Schale für solche Minis wie mich zur Badewanne umfunktioniert wurde.

    Abwechselnd schaute ich zur Pendelleuchte über mir und zu denen, die sich das Wickeln nicht entgehen lassen wollten und sich eifrig bemühten, mich von diesem notwendigen Übel abzulenken. Kuckuck-bah wurde dabei gespielt, was mir so manchen Lacher entlockte, wenn mein Gegenüber sich beide Hände vors Gesicht hielt und so lange Kuckuck! rief, bis die Hände wieder heruntergenommen wurden und es „Bah!" hieß. Ja, das war ein tolles Spiel, das mochte ich, und im Tagebuch meiner Mutter wurde stolz vermerkt, dass ich exakt fünf Monate nach meiner Geburt Kuckuck-bah mit meiner Fangemeinde spielte, indem ich mir die Hände vor die Augen hielt und ein bah! losließ, wenn ich sie runternahm.

    Und umflutet von so viel Kurzweil wurde ich auf meinem Wickel-(Küchen-)Tisch von Kopf bis Fuß gewaschen und umge(strampel)host, bevor die nächsten Punkte meiner winzigen Agenda abgearbeitet werden konnten.

    Zu Anfang freilich hießen die noch fast ausnahmslos schlafen oder Fläschchen; zwei Stück für zusammen 1,62 DM hatte meine Mutter davon gekauft, und seltsamer Weise waren die zwei Sauger mit 2,40 DM sogar noch teurer. Dazu gehörten natürlich auch die ersten drei Lätzchen für 1,95 DM (alle drei, versteht sich!) und - schließlich sollten die Früchte all dieser Bemühungen auch sichtbar gemacht werden - die mit 18,75 DM heftig zu Buche schlagende Babywaage, deren Waagschale mit 6,75 DM auch noch extra bezahlt werden musste!

    Damit sich die freundlichen Fläschchengeber auch richtig reinknien konnten, waren die 55 Pfennig durchaus gerechtfertigt, die für ein Paar Ärmelhalter notiert wurden.

    Wer im Anschluss den Beruhigungstee für 1,50 DM nötiger hatte, ist aus dieser Aufstellung leider nicht erkennbar…

    Aber irgendwann hieß das Angebot nicht mehr nur Fläschchen, sondern es kamen frisch gekochte Mohrrübchen aus dem Garten mit dazu, Spinat, Kohlrabi, zerdrückte Kartoffeln, die meinen Speiseplan bereichern sollten. Gläschen? Nein, natürlich keine Gläschen! Wo hätte man denn sowas wohl schon gesehen! Man überließ doch die Ernährung des kleinsten Familienmitgliedes nicht einem unbekannten Herrn namens Hipp, auch wenn er jede Menge Abwechslung versprach. So eilig konnte man es gar nicht haben, dass es nicht zum Kochen von frischem Gemüse gereicht hätte, ein selbstgekochtes Apfelmus, Birnenkompott; sobald ich dafür geeignet war, vergrößerte sich das Angebot stetig.

    Zum Abendessen gab es dann winzige Brotstückchen, die meine Oma Reiter nannte. Lange ging ich davon aus, dass dieses Wort die offizielle Bezeichnung für kleine Brotstückchen war, ohne sie auch nur im Entferntesten mit dem Bild von einem Mann auf einem Pferd in Verbindung zu bringen. Viel später hörte ich, dass auch in anderen Familien Reiter und Soldaten an kleine Kinder verfüttert wurden, aber eine Oma, die zwei Kriege hinter sich hatte, verzichtete gern auf den zweiten Teil dieser Bezeichnungen.

    Und nicht nur das Angebot von Essen und Trinken hielt stets Neuerungen bereit. Alles, was um mich herum geschah, wurde von Tag zu Tag spannender, und ich fühlte mich eingeladen, ständig neue Erfahrungen zu machen, auch wenn diese nicht immer positiver Natur waren.

    Der Drang zur Freiheit, der sich in einem Sturz vom Küchentisch manifestierte, als Mutti sich nur mal einen Augenblick zur Seite drehte, gehörte genauso dazu wie der Biss in eine rohe Zwiebel, wobei dieser vom Patenonkel unkommentiert blieb, während die Nachlässigkeit seiner Schwester ihn, als pflichtbewussten Patenonkel dazu trieb, sie scharf zu maßregeln.

    Meine Welt begann sich allmählich zu runden, als ich ziemlich genau zu meinem ersten Geburtstag zu laufen begann. Und nicht nur das ist den Überlieferungen zu diesem Geburtstag zu entnehmen, denn auch ein wirklich erbaulicher Wortschatz war bereits abrufbar!

    Hatte man besonders auf das Wort Mama hingearbeitet, um damit meiner Mutter eine Freude zu machen, lieferte ich dies bereits nach einem halben Jahr, exakt am 18.10., ihrem Geburtstag, in meiner eigenen Version Mamama?, die ich fragenden Gesichts unterbreitete, um mich im Lichte anerkennenden Beifalls zu sonnen.

    Aber zu meinem eigenen Geburtstag, da kamen noch jede Menge Zwei-Komponenten-Worte dazu, die Kindern in dieser Zeit ja bereits mit der Muttermilch eingetrichtert wurden. Mal ehrlich, wer hat den Hund denn nicht als Wau-Wau kennengelernt, die Kuh als Muh-Kuh und den Vogel als Piep-Vogel? Meist wurden den Tieren die von ihnen produzierten Laute sozusagen als Vornamen mitgegeben, was natürlich den Vorteil bot, dass man so gleich beides lernte, wie heißt das Tier und wie macht es.

    Zu meinem ersten Geburtstag hatte ich mir daraus meine persönliche Hitliste zusammengestellt, die sicher in Zusammenhang mit den täglich gehörten Worten und vielleicht auch mit meinem Spielzeug stand: Da gab's das Mäh-Mäh, das als Wort für Schäfchen durchging, Happa-Happa war das anerkannte Wort für Essen, heia-heia bedeutete, das - mal wieder – ein Schläfchen anstand, ei-ei war das, was man den weichen Plüschtieren angedeihen ließ, wenn man sie liebevoll streichelte, und schlug man die kleinen Hände mit einem fröhlichen ba-ba zusammen, wussten alle, dass man backe-backe Kuchen spielte! Ama und Apa hatten ihre Namen bekommen, auch die Tante ging mit Teita nicht leer aus, und endlich konnte man selbst nach Teddy mit einem entsprechenden Ted verlangen.

    Aber nun, da man laufen konnte, war das ja ohnehin eine ganz andere Perspektive! Man war nicht länger auf die Gutmütigkeit anderer angewiesen, um das zu bekommen, was man sehen, jedoch nicht erreichen konnte, man ging einfach los und schnappte es sich!

    Na ja, ganz so einfach war es oft dann doch nicht, wovon so mancher mehr oder weniger heftige Plumps Zeugnis ablegte, aber der Popo war gut abgepolstert und das Schmerzempfinden noch nicht wirklich ausgebildet, und so ging es häufig ohne Weinen ab, zumindest bis man entdeckt hatte, wie viel Aufmerksamkeit mit einem gut hörbaren Weinen zu gewinnen war! So vergewisserte man sich künftig dann zunächst davon, dass die, die es betreffen könnte, auch wirklich schauten, bevor man den Tränenkanal flutete.

    Und dazu kam dann noch der unbedeutende Rest der Sprache, den man sich in kleinen Schritten eroberte. Dass man mit mir von klein auf viel gesprochen hatte und mir stets vorgelesen wurde, wirkte sich auf meinen Sprachschatz ebenso positiv aus wie unverkennbar blieb, dass ich mehr mit Großen zusammen war als mit den kleinen Krabben meines Alters. So waren meine Aussprüche oft ein Zusammenspiel aus deren Wortschatz und den aus meinen Märchen aufgeschnappten Worten und Redewendungen.

    Was mit Ama und Apa begonnen hatte, wurde schnell zu mehr, und meine Mutter schrieb ganz begeistert in mein Tagebuch, das zu führen sie sich gelegentlich erinnerte, dass ich mit gut achtzehn Monaten meinen ersten Satz gesprochen hatte: Lieber, guter Sonnensein, trällerte ich mitten im Hühnerhof, grüß mich sön von Opa!"

    Und nur ein gutes halbes Jahr später, ich war inzwischen zwei Jahre und knapp drei Monate alt, da mussten wir unsere Wohnung verlassen. Na ja, müssen mussten wir wohl nicht, aber es wurde uns eine Verbindung zu einem weiteren großen Zimmer angeboten, wenn wir dafür unsere kleine, alte Küche auf der anderen Flurseite verlassen würden, damit sie eine andere Wohnung bereichern konnte. Da gab's kein großes Überlegen, denn Platz konnten wir gebrauchen!

    Alle freuten sich und es gab ein geschäftiges Packen und Räumen, nur eine wurde immer stiller und in sich gekehrter: Ich!

    Wie konnte es sein, dass wir jetzt nicht mehr in diese Küche durften? Waren wir nicht glücklich dort gewesen?

    In der Annahme, dass wohl auch Erwachsene sich irren können, zog ich immer an der Hand meiner Oma, wenn wir vor unserer alten Küchentür standen, denn dort mussten wir doch schließlich hinein. Immer wieder wurde ich belehrt, dass das nun nicht mehr unsere Küche wäre. Nach einer Woche ging man davon aus, dass ich es akzeptiert hätte, auch wenn ich noch immer mürrisch war, keine Lust zum Spielen hatte und auch keinen Appetit.

    Über kalte Hände jammerte ich, mein Kopf war heiß, und schließlich bekam ich einen heftigen Durchfall. Als Oma wieder mit mir an der alten Küchentür vorbeiging blieb ich stehen und sagte erklärend: Hier können wir nun nicht mehr rein, wie man es wohl zig Mal zu mir gesagt hatte. Hier haben wir immer unser Brot gegessen!, fügte ich erklärend hinzu; sollten es wirklich schon alle außer mir vergessen haben?

    Heimweh war es, das mich umtrieb, und alle litten mit mir.

    Aber die neue Nachbarin erlaubte, dass ich das Reich betrat, das nun ihres war. Gründlich schaute ich mich um und sagte dann Da stand unser Tisch, da haben wir immer unser Brot gegessen! Und hier stand unser Schrank! Und wo ist nun mein Teller? Und wo werde ich jetzt gebadet? Mit Tränen in den Augen standen sich Oma und die neue Mieterin gegenüber, bevor man mir versicherte, dass wir auch in Zukunft unser Brot essen würden, dass mein Teller auf dem Tisch stehen und ich gebadet würde - nur eben alles in der neuen Küche!

    Es ist erstaunlich, wie sehr selbst kleine Kinder schon unter Heimweh nach Menschen, Orten und vertrauten Dingen leiden, auch wenn wir Großen uns das Ausmaß manchmal kaum vorstellen können.

    Und neben den seelischen Qualen kamen hin und wieder auch ein paar körperliche dazu, auch wenn immer wieder auffiel, wie niedrig das Schmerempfinden in diesem Alter noch ist.

    So berichtete meine Oma davon, dass ich, in meinen neuerworbenen Laufbemühungen noch unsicher, einmal so unglücklich fiel, dass ich mit dem Kopf gegen eine Schrankecke knallte. Alle waren sofort auf den Beinen und rechneten mit einem hässlichen Aua, eingekleidet in ein entsprechendes Konzert, aber ich erhob mich nur, um meinen Weg fortzusetzen.

    Außerdem gibt es ja auch noch den Schutzengel, der mit so kleinen Geistern wie mir allerdings manchmal gehörig aus der Puste kam.

    Es war Herbst und ich fast zweieinhalb Jahre alt. Oma machte den Garten winterfest, was bei der Größenordnung mit viel Arbeit und Lauferei verbunden war. Helfen konnte ich leider kaum, was natürlich schade war, denn in dem Alter möchte man ja möglichst immer eine tragende Rolle bekleiden.

    Vom Kartoffelfeuer musste ich fern bleiben, sehr, sehr schade, denn das hätte ich mir doch zu gern mal von nahem betrachtet, und auch die vielen Horden mit den Blumenzwiebeln für den nächsten Frühling durfte ich nicht mit bestücken, hatte ich doch von Botanik keinen Schimmer.

    Aber Oma vor den Füßen herumlaufen, das immerhin konnte und tat ich ausgiebig!

    Immer wieder musste sie Horden in den Keller heruntertragen, wo sie für den Winter eingelagert wurden, immer wieder durfte ich nur bis zur Kellertreppe mitkommen, denn neben den Horden blieb nicht auch noch die Zeit, jeden meiner Schritte auf der steinernen Treppe zu beaufsichtigen.

    So folgte ich wie ein kleiner Hund und blieb auch immer artig oben an der Treppe stehen. Womit wir allerdings beide nicht gerechnet hatten, war der Durchzug, der sich durch die offenen Türen im Hausflur entwickelt hatte, und so kam mit einem Mal die Kellertür von hinten auf mich zu und stieß mich die Treppe hinab. Bis zur vorletzten Steinstufe sollte ich fallen, während Oma, die das Gepolter mit böser Ahnung gehört hatte, schon an der Treppe erschienen war.

    Vollkommen entsetzt und erschüttert nahm sie mich in den Arm und fragte immer wieder weinend: „Fehlt dir auch wirklich nichts?"

    So weinten wir denn beide, denn ich fürchtete, dass ich ausgeschimpft würde, weil ich nun doch im wahrsten Sinne des Wortes unten aufgeschlagen war, und Oma konnte noch gar nicht glauben, dass ich nicht nur lebend, sondern obendrein auch ohne die kleinste Schramme neben ihr auf der Treppe saß.

    Vielleicht zwei Monate später, Anfang Dezember, baute ich mich vor Oma auf und sagte: Oma, Onkel Jochen macht Pferde! So? Was macht er denn für Pferde? wollte Oma wissen, woraufhin ich Sag es doch mal! antwortete.

    Ich weiß es doch nicht, zuckte Oma die Schultern, hat er ein Pferd gemalt? Nein, Onkel Jochen macht Pferde!

    Wo macht er die Pferde denn? In seinem Zimmer?

    Nein, Oma, sag es doch mal!

    Diese Diskussion ging den Überlieferungen zufolge noch eine Weile so weiter, und während Oma sich den Kopf darüber zerbrach, welches Stichwort von ihr erwartet wurde, quälte ich in einem fort Sag es doch mal!, bis ich endlich auf Omas Was macht er denn für Pferde? mit einem leisen Flüchtig! antwortete. Und das hatte ich garantiert bei ihr aufgeschnappt, denn glaubte sie jemandem die vermeintlichen Flunkereien oder Übertreibungen nicht, sagte sie gern Nun mach mal keine Pferde flüchtig! was wohl irgendwann auch mal an ihren Sohn gerichtet war.

    Doch nicht jeden Tag passierte etwas Erwähnenswertes - manchmal zum Glück - und so gab es auch Fixpunkte in meinem kleinen Leben, und einer davon war ganz unbedingt mein Opa! Dreh- und Angelpunkt war Opa derjenige, der mit mir durchs Dorf spazierte, damit wir beide an die Luft kamen. Opa, mein Fels in der Brandung, dem es nie etwas ausmachte, mit seiner Enkelin ohne Vater einen Spaziergang zu machen und die Leute einfach zu ignorieren, die da hinter vorgehaltener Hand tuschelten.

    Meine Mutter, die in der sicheren Entfernung einer anonymen Großstadt viele Leute unseres Dorfes nicht einmal vom Sehen kannte, tat sich da schon schwerer.

    Auf Opa konnte man auch immer setzen, wenn es langweilig war. Er war mein liebster und geduldigster Spielkamerad, sich stets in die ihm zugedachte Rolle als Einkäufer, Post- oder Bankkunde fügend und später, als ich in die Schule kam, verkörperte er gar sämtliche Schüler meiner imaginären Klasse, denn die Lehrerin war ich natürlich selbst.

    Aber auch andere Kinder begannen ganz allmählich, eine Rolle für mich zu spielen. Und da sich Kinder bekanntlich zu Kindern ziehen, sollte in der Hinsicht noch eine ganze Menge passieren.

    Im Kindergarten zum Beispiel? Nein, natürlich nicht! Doch, es gab sogar einen in unserem Dorf, in dem es auch sonst eine ganze Menge mehr gab, als man sich heute noch vorstellen könnte, aber Erziehung fand Zuhause statt, Sozialverhalten wurde vorgelebt und zum Spielen mit anderen Kindern bedurfte es keiner Anleitung irgendwelcher Tanten.

    Heute gibt es vermutlich auch den Kindergarten nicht mehr in meinem Dörfchen; bis auf einen großen Supermarkt auf der Landstraße, die das Dorf der Länge nach durchquert, ist die breit gefächerte Infrastruktur der Sechziger Jahren verschwunden, und da war es beinahe eine Kleinstadt, in der wir lebten! 1950 gab es immerhin 6.157 Einwohner, und so dürften es Anfang der Sechziger sicher noch knapp 6.000 gewesen sein, denn leider, leider ging die Zahl immer weiter zurück, bis sie sich gut fünfzig Jahre später halbiert haben sollte.

    Aber schauen wir uns doch selbst einmal um:

    Bäckereien gab es eigentlich fast an jeder dritten Ecke, denn wer hätte seine Brötchen zum Frühstück schon am anderen Ende des Dorfes kaufen wollen?! Dazu sollte man vielleicht für die erwähnen, die so was nie kennengelernt haben: Brötchen holte man zu Fuß und nicht mit dem Auto! Dafür waren sie auch noch aus richtigem Teig gebacken und keine vorbereiteten Teigstücke, die einige Stunden vorher ein Kühlwagen zum Fertigbacken angeliefert hatte.

    Auch Schlachtereien gab es mindestens vier oder fünf - jeder hatte so seinen Favoriten, was die Würzmischungen von Wurst und Salaten betraf, und davon wurde nur in Notfällen abgewichen. Aber natürlich ging es nicht nur um die Beschaffung von Grundnahrungsmitteln, die daneben auch noch über ein kleines Lebensmittelgeschäft möglich war und über den Konsum, wobei letzterer ein moderner kleiner Supermarkt war, in dem es sogar drei Einkaufswagen gab, um damit ganz entspannt durch den einen einzigen in U-Form angelegten Gang spazieren zu können!

    Wir hatten ein Schmuckgeschäft, bei dem meine Mutter im Laufe meines ersten Lebensjahres Stück für Stück ein Silberbesteck für sechs Personen bestellte, in das sie meine Initialen eingravieren ließ – eines meiner späteren Konfirmationsgeschenke, auch wenn sie eigentlich bis zum 18. Geburtstag hatte warten wollen. Es gab außerdem gleich zwei Gärtnereien, einen Haushaltsladen, der auch eine Spielzeugecke hatte, was ihn umso beliebter machte, eine Eisenwarenhandlung, bei der auch Heizöl bestellt werden konnte, sofern man sich bereits von Holz und Kohle verabschiedet hatte. Eine große Haushaltswarenabteilung war ebenfalls dort zu finden (und groß bezieht sich auf die Gesamtgröße des Geschäftes und nicht auf heutige Kaufhäuser), die über Ersatz für den Tauchsieder oder Mixer verfügte, der den Dienst quittiert hatte, Kochtöpfe, Pfannen, Geschirr und Gläser aller Größen und Couleur anbot und - nicht zuletzt! - im oberen Stockwerk eine Ecke mit Kinderspielzeug hatte, bei der es später auch Kleidung für Barbie- und andere Ankleidepuppen geben sollte.

    Selbstverständlich hatten wir auch eine Apotheke. Ein Hotel war vorhanden, wobei der Deutsche Kaiser wohl eher den Charakter einer Pension hatte; ein Schreibwarenlädchen, klein, dunkel und vollgestopft, da alle Wände und Regale ringsherum mit Zeitungen, Illustrierten, Schulheften, Schreibblöcken und sonstigem täglichen Bedarf so flächendeckend verkleidet waren, dass kein Fenster mehr übrig blieb. Jeden Donnerstag wurde dort auf dem obligatorischen Einkaufsweg die Heim & Welt für Oma gekauft und daneben so manches Bussi Heft und so ziemlich die gesamte damals auf dem Markt befindliche Palette an Pixi-Büchern, die mir die Regentage versüßen sollten, an welchen meine nachhaltige Präsenz als Einkaufsberaterin nicht erwünscht war. Dabei hätte ich den Regen schon gern in Kauf genommen, denn ein Einkauf mit meiner Oma war immer ein lohnendes Unterfangen!

    Im kleinen Lebensmittelgeschäft z. B. wurden oft zwei bis drei schmale Karamellbonbons über die hohe Ladentheke in meine Richtung geschoben - ich wuchs nicht schnell genug, um einmal über sie schauen zu können, bevor das Geschäft schloss.

    Beim Schlachter ließ die obligatorische Scheibe Mortadella meist nicht lange auf sich warten, und vermutlich waren es die größeren Einkäufe in Form von Weihnachtsbraten oder ähnlichem, die gar ein komplettes Wiener Würstchen für mich bedeuteten! Aber dieses wurde mir leider direkt bei Übergabe wieder abgenommen, da meine Oma der Meinung war, sie müsse es Zuhause für mich wärmen, bevor ich es verspeisen konnte; ich war mir schon im Geschäft sicher, dass dies Beigaben wie Gemüse und Kartoffeln bedeuten würde, wo eigentlich an den ausschließlichen Genuss eines kompletten Würstchens gedacht war.

    Bank- und Postbesuche waren in der Regel nur am Weltspartag lohnend, denn dann gab es immer etwas Nettes für uns, die lieben Kleinen! Den Höhepunkt bildete einmal ein bestimmt zehn Zentimeter hoher gelber Briefkasten aus Plastik, der als Spardose gedacht war und eine herrliche Ergänzung meines Postspiels bedeutete.

    Bäckerbesuche waren ebenfalls meist ohne große Bedeutung, es sei denn… Die winzige Bäckerei, die genau gegenüber von unserem Zuhauses lag, gab schon mal einen kleinen Teekuchen rüber, wenn ich als Geschmacksexpertin mitgekommen war.

    Die große Bäckerei, bei der alles gekauft wurde, was nicht Brötchen hieß, war da nicht so spendabel und ich kann mich an keinen Bestechungsversuch seitens des Personals erinnern.

    Im Sommer stellten sie immer eine Eismaschine auf. Man stelle sich vor! Ein riesiges Gerät war das, das geräuschvoll vor sich hin rumpelte und damit schon mal eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich zog. Und wenn dann tatsächlich jemand ein Eis haben wollte, musste sich die gestandene Bäckersfrau mit ihrer weißen Schürze und dem adretten kleinen weißen Häubchen im dunklen Haar um ihren Verkaufstresen herumschieben, eine (höchst simple und keineswegs leckere) Eiswaffel aus dem am Gerät befindlichen Spender ziehen und schließlich den einen oder anderen Zapfhahn zu sich heranziehen - je nachdem, ob man sich für Erdbeer oder Vanille entschieden hatte. Und dann wurde durch eine Spritztülle Eiscreme in und auf dieses Waffelhörnchen gefüllt, bis ein hübsch gerüschter und nur allzu lecker anmutender Berg sich darauf türmte. Wohl dem, der dieses Wunderwerk in Empfang nehmen durfte; man selbst schmeckte förmlich die kühle Süße auf der Zunge und diese cremige Konsistenz des Softeises, für das ich meine Seligkeit verkauft hätte, selbst wenn es kein Waldmeister gab, was nun wirklich den absoluten Geschmacksgipfel verkörpert hätte!

    Aber ich gehörte längst nicht so oft zu diesen Glücklichen, wie ich es mir gewünscht hätte, denn was für mich Minuten vollkommener Wonne bedeutete, entwickelte sich für meine Oma zumeist zu einem Szenarium des Grauens: Nie schaffte ich es, so geschickt um das Eis herum zu lecken, dass es mir nicht über die Finger lief - die Beschreibung der Kleidung erspare ich mir - und nicht auch in meinem Gesicht ausgeprägte Spuren der Wonne hinterließ. Das warme Wetter tat ein Übriges, und so sah das Kind, das man doch sauber und ordentlich von Zuhause mitgenommen hatte, plötzlich wie ein unbekanntes Wesen aus. Es verbot sich, selbst an diesem Eis herumzulecken, denn in unserer Familie wurde nie auch nur ein Löffel von mehreren benutzt.

    Das lag an der strengen Schule, die meine Oma bereits als kleines Mädchen durchlaufen hatte, bevor ihre erste Mutter an Tuberkulose verstarb, einen Ehemann und drei Kinder zurücklassend, von denen meine Oma mit elf Jahren die jüngste war.

    Jede Gabel, jede Tasse, jeder Teller wurden separat und ganz besonders gründlich abgewaschen, denn ein arglos in den Mund geschobener Speiserest vom Teller der Kranken hätte den Tod bedeuten können. Und so hatten sich alle diesem lebenswichtigen Sauber- und Reinlichkeitsdrill unterziehen müssen, den jeder einzelne von ihnen bis an sein Lebensende beibehalten sollte.

    Das, was für heutige Mütter also gang und gäbe ist, ihren Kindern beim Aufessen oder Austrinken - mit Appetit oder zumindest Pflichtgefühl - behilflich zu sein, verbot sich bei uns grundsätzlich.

    Also blieben am Ende der kurzen Eiszeit nur erfolglose Säuberungsaktionen mit trockenen Stofftaschentüchern übrig, die klebrigen Eisfingern wenig entgegenzusetzen hatten und vermutlich der innerlich gefasste Vorsatz, dass sich diese Episode so schnell nicht wiederholen würde.

    Leider bot sich nicht jedes Geschäft für kleine Gaben an zukünftige potentielle Käufer an, aber es gab ja immer noch die sogenannte Quengelware, auch wenn zu der Zeit noch niemand auf die Idee gekommen wäre, sie so zu nennen.

    Viel zu selten nur mussten wir zu Fahrrad Koch, wie das Geschäft an der Ecke genannt wurde, obwohl ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, dass dort tatsächlich Fahrräder verkauft wurden oder es jemanden namens Koch gab. Aber an die Ecke mit den kleinen Püppchen kann ich mich selbst heute noch erinnern!

    So war meine gut gemeinte Erinnerung, ob wir nicht vielleicht auch zu Fahrrad Koch müssten meist ohne Erfolg. Wenn dies für mein Empfinden zu oft der Fall war, gab ich schon mal meine wahren Beweggründe zu erkennen und fragte, ob wir nicht trotzdem mal einen Blick in die Ecke mit den kleinen Puppen werfen könnten…?

    Bei der Gutmütigkeit meiner Oma muss dieser Versuch öfters von Erfolg gekrönt worden sein, denn ich hatte bestimmt ein Dutzend kleiner Püppchen für meine Puppenstube, die dort Stück für Stück und nach reiflicher Überlegung ausgesucht worden waren.

    Monika und Gerda waren die wichtigsten im Bunde. Monika war eine kleine Schildkröt-Puppe, die so klein und knubbelig war, dass sie als Baby eine wichtige Position in der Puppenstube bekleidete, bis eines Tages das Gummi, mit dem ihre beweglichen Beinchen zusammengehalten wurden seinen letzten Seufzer getan hatte und Monika als Invalide zurückließ. Auch wenn Kinder die Welt mit anderen Augen sehen und ihre Herzen groß sind, war doch klar, dass Monika für ihre Rolle als niedliches Baby nun nicht länger infrage kam. Ein Besuch bei Fahrrad Koch würde sicher die Möglichkeit zu einer neuen Adoption bieten…

    Gerda - benannt nach der Puppe von Nesthäkchen, dessen erste Bände mir bereits vorgelesen worden waren - war die größte, weshalb ihr die tragenden Rollen zufielen; die Mutter in der Puppenstube, das Zimmermädchen, wenn die Puppenstube sich gerade in ein Hotel verwandelt hatte, die Krankenschwester, als ich nach einem längeren Krankenhausaufenthalt zu Weihnachten ein Krankenzimmer als kleine Puppenstube unter dem Weihnachtsbaum fand.

    Aber so wie es noch viel mehr Puppen in meiner Spielecke gab, so gab auch noch so viel mehr Geschäfte in unserem kleinen Dorf:

    Die üblichen Wäschereien und Reinigungen plus Heißmangel gab es zum Beispiel; wir benötigten sie weniger, hatten wir doch eine eigene Waschmaschine. Nur besondere Kleidung, von der wir keine größeren Mengen hatten, wurde schon mal zur Reinigung gebracht, wo es immer höchst intensiv nach Chemikalien roch und das Kleider-Rondell erstaunlicher Weise stets genau an der Stelle vor der Dame stoppte, an der hing, was wir vor einer Woche dort abgeliefert hatten.

    Ein kleines Samtkleidchen hatte meine Oma mir geschneidert, das sicher pfleglicher behandelt wurde, wenn man es der Reinigung übergab. Es war elfenbeinfarben und mit durchwirkten Bändern in der Taille und an Halsausschnitt eingefasst - ich habe es heute noch als Glücksbringer in meinem Kleiderschrank hängen.

    Als wir es abholen wollten, war die Inhaberin der Reinigung ganz untröstlich und erklärte, es wäre ihr auch bei wiederholten Versuchen nicht möglich gewesen, dieses Kleid wieder weiß zu bekommen, was ihr wirklich leid täte.

    Meine Oma erklärte ihr mit verkniffenen Mundwinkeln, dass dieses Kleid niemals weiß gewesen sei und von daher auch nicht damit zu rechnen war, dass es jemals weiß werden könnte, bevor sie den Abschnitt dafür aus der Geldbörse nahm, bezahlte und das ruinierte Kleid in ihre Tasche stopfte.

    Dann waren da noch drei Drogerien, bei denen man u. a. seine Filme entwickeln lassen konnte. Meist bedeutete das

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