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Besatzungskind: Kinder- und Jugendjahre – Erinnerungen
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Besatzungskind: Kinder- und Jugendjahre – Erinnerungen
eBook278 Seiten3 Stunden

Besatzungskind: Kinder- und Jugendjahre – Erinnerungen

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Über dieses E-Book

Eigentlich sollte das Baby gleich nach seiner Geburt im Heim für ledige Mütter zur Adoption freigegeben werden, doch die einer christlichen Religionsgemeinschaft angehörende Oma entschied beim Besuch der gestrandeten Tochter überraschend, den Jungen mit nach Hause zu nehmen. So wuchs der kleine Dieter, zwar religiös gefordert, aber doch unbeschwert bei den Großeltern auf.

Das Buch berichtet vom interessanten Wohnungsumfeld in der Stadtmitte, kindlichen Spielen und Hobbys, Eindrücken aus der Schulzeit, der abgebrochenen ersten Lehre, und schließlich dem ansehnlichen beruflichen Aufstieg in jungen Jahren. Schauplätze vieler Handlungen sind die zahlreichen Feste seiner Heimatstadt Schwäbisch Hall.
Auch an erotischen Beschreibungen seines heimlichen Liebeslebens lässt er den Leser teilnehmen. Das "erste Mal" mit 15 erlebte er mit der 32 jährigen R. im Krankenhaus. Weitere Liaisons folgten, bis er mit 23 Gerda begegnete, die er nach drei Monaten heiratete und die ihm zwei Söhne schenkte. Sonnenschein, aber auch immer wieder dunkle Wolken berichten von dieser Zeit.

Der Epilog gibt kurze Einblicke über berufliche Veränderungen, Krankheit, dem Wegzug aus der Heimatstadt und schließlich der Trennung nach siebzehn Jahren Ehe. Inzwischen wurde Dieter Rentner und schrieb, angeregt durch seinen jüngeren Sohn, zunächst nur für die Familie und enge Freunde gedacht, dieses Buch als Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum5. Jan. 2014
ISBN9783847649069
Besatzungskind: Kinder- und Jugendjahre – Erinnerungen

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    Buchvorschau

    Besatzungskind - Dieter Pastula

    Vorwort

    Mein Sohn Werner ermunterte mich im Spätsommer 2007 Erinnerungen aus meiner Kinder- und Jugendzeit aufzuschreiben. Hintergrund war die Erwartung seiner ersten eigenen Vaterschaft, der Rückblick auf seinen Lebenslauf und das Interesse wie ich als Kind der ersten Nachkriegsgeneration aufgewachsen bin. Meine Berichte sollen Empfindungen erkennen lassen und den Zeitgeist spiegeln.

    So sitze ich vor einer leeren Seite, lasse meine Gedanken schweifen und bin gespannt, mit welchen wach gewordenen Erinnerungen sich die Blätter füllen werden.

    Unehelich geboren bin ich, nach anfänglichen Verwirrungen um meinen kindlichen Verbleib, bei meinen Großeltern, mütterlicherseits aufgewachsen. Großvater war bei meiner Geburt bereits Rentner und Großmutter betrieb damals im Hinterhof unseres Wohngebäudes eine Wäscherei.

    Meine Mutter war während des zweiten Weltkriegs als Kindergärtnerin in Landgemeinden tätig. Als das Kriegsgeschehen Deutschland selbst erfasste, wurden die Einrichtungen geschlossen. Von da an arbeitete sie in der elterlichen Wäscherei.

    In meinen Aufzeichnungen nehme ich zeitweise Bezug auf eine christliche, damals sehr dogmatische Religionsgemeinschaft, mit derer Verkündung ich aufgewachsen bin. In einer separaten Betrachtung gehe ich am Ende des Buches darauf etwas näher ein, ebenso auf die Historie unserer nächsten Vorfahren.

    Um den Schutz von Persönlichkeitsrechten zu wahren, habe ich einige Namen der in den Berichten vorkommenden Personen geändert.

    Dieter Pastula

    Besatzungskind

    Freibadbesuch mit Folgen

    Während der Sommerferien 1958 fuhr ich eines Tages, bereits am Vormittag, mit dem Linienbus in unser Freibad „Schenkensee", das von der Innenstadt aus, einige km entfernt, straff bergauf in einem Höhenzug angelegt ist.

    Im großen Schwimmbecken wollte ich in Ruhe für die bevorstehende Prüfung zum Jugendschwimmabzeichen trainieren. Bei meiner Ankunft gegen 10.00 Uhr war die Besucherzahl noch übersichtlich. Auf den Wiesen im Gelände gab es ausreichend freie Liegeplätze. Um schnell im Wasser zu sein, entschied ich mich für einen Platz unweit des Sportbeckens. Wiederholt wechselte ich zwischen dem Wasser und meinem Liegeplatz. Es war ein heißer Sommertag und das Freibad füllte sich zunehmend. Die Sonne ließ die Lufttemperatur auf über 30° ansteigen.

    Als ich gegen Mittag vom Becken zu meinem Platz kam, gab es im Liegebereich immer weniger Lücken. Neben mir hatte sich unterdessen eine Familie niedergelassen, die ich flüchtig kannte. Der Mann war Schneider in der US Kaserne und brachte zuweilen Kleidung der Soldaten zum Waschen in Großmutters Wäscherei. Seiner Frau ging ich gern aus dem Weg. Mit ihrer schrillen lauten Stimme tratschte sie bekannter Weise gern allseitig herum und fragte neugierig Leute aus.

    Schweigend setzte ich mich auf meine Decke, packte mein mitgebrachtes Vesper aus und spähte rundum blickend nach einem anderen Platz. Die neuen Nachbarn hatten mich anscheinend noch nicht bemerkt. Die Frau war mit der Ausgabe von belegten Broten, Obst und Getränken an ihre Familie beschäftigt. Zuerst entdeckte mich der Schneider, er nickte mir freundlich zu. Dann geriet ich ins Visier seiner Frau, die mich sofort in ein Frage- und Antwortspiel verwickelte:

    „Wohnst du noch bei deinen Großeltern? In welche Schule gehst du? Alleine hier? Was macht deine Mutter, die hat doch noch zwei Kinder...?" und so weiter.

    Mehr, eher weniger begeistert beantwortete ich artig ihre neugierigen Fragen, so gut es ging. Dann stellte sie eine Frage bei der mir fast der Bissen im Hals stecken blieb:

    „Besuchst du auch manchmal deine Mutter und deinen „Stiefvater"

    Sie musste meine Irritation bemerkt haben und setzte nach:

    „Du weißt doch, dass der Pastula „nicht dein Vater ist. Deshalb wohnst du bei der Oma und hast einen anderen Namen.

    Nein, verdammt! Das wusste ich nicht! Das hörte ich zum ersten Mal. Und einen anderen Namen hatte ich nicht. Ich heiße Pastula, so wie mein Vater! Was soll das Gerede? Meine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Trotzdem antwortete ich spontan:

    „Selbstverständlich weiß ich das, allerdings hab ich denselben Namen und verbringe die Wochenenden oft bei meinen Eltern."

    Jetzt wollte ich nur noch nach Hause zu Opa und Oma. Es gab viele Fragen. War an dem, was die tratschende Frau von sich gab etwas dran oder nur dummes Geschwätz? Ich packte eilig meine Sachen und rannte zur Bushaltestelle. Gegen 14.00 Uhr kam ich in unserer Wohnung an und konfrontierte umgehend die Großeltern mit dem Gehörten. Oma bekam feuchte Augen und Opa schwieg. Schließlich sagte Oma:

    „Wenn du was Genaueres wissen willst, frag deine Mutter."

    Ich wollte nicht nur Genaueres wissen, sondern Alles. Lebte ich deswegen bei den Großeltern? Behandelte mich mein vermeintlicher Vater darum anders als meine Brüder? Musste aus diesem Grund meine Mutter von ihrem Haushaltsgeld meine Schuhe bezahlen, obwohl „Papa einen eigenen Schuhladen hatte? Hörte ich deswegen bei den häufigen Ehe Streitereien, während meiner Besuche, immer mal wieder die Worte „Bastard und „Hurensohn"? Worte, mit denen ich im Grund nichts anfangen konnte, auch nicht ahnte, wer damit gemeint war. Wer bin ich? Wo komme ich her? Mit 12 Jahren wusste auch ich, dass nicht der Storch die Kinder bringt! Hilfe! Was ist da eigentlich los? Oma hüllte sich in verlegenes Schweigen. Opa schlug vor:

    „Geh zu deiner Mutter, und frag sie selbst".

    Inzwischen war es etwa 15.00 Uhr. Mit einer Mischung aus Wut, Verzweiflung und Neugier entschloss ich mich umgehend meine Mutter in der außerhalb gelegener Siedlung, die gut 5 km bergauf von unserer Wohnung entfernt war, aufzusuchen. Kurz überlegte ich, ob ich mein Fahrrad nehme, oder wegen der brütenden Hitze den Weg lieber „per pedes" gehe, zumal ich das Rad bergauf nur schieben konnte.

    Wie ich es schaffte, bereits nach 20 Minuten zu Fuß in der Siedlung anzukommen, ist mir noch heute ein Rätsel, mich mussten fast Flügel getragen haben. Das Haus betrat ich durch den Hintereingang, dem Zugang zur Werkstatt und dem kleinen Schuhladen. Mutter bediente eine Kundin und wunderte sich über meinen Besuch. Papa war nicht zu sehen. Das Herz klopfte mir bis zu den Schläfen. Nachdem wir alleine waren, fragte ich forsch:

    „Ist Josef mein Vater?"

    Stockend erklärte ich den Grund meines Besuchs mit dem Gehörten im Freibad. Mutter war den Tränen nah, vor allem wurde sie unruhig, denn „Papa" konnte jeden Moment die Werkstatt betreten. Der hatte mal wieder bis zum frühen Morgen mit seinen Freunden Karten gespielt, viel getrunken und schlief sich aus.

    Nach kurzem Schweigen sagte Mutter, ich solle kurz warten und mir nichts anmerken lassen, falls der Hausherr inzwischen kommt. Sie ging nach oben, in die Wohnung, kam nach ein paar Minuten zurück, hielt ein altes Schulheft in den Händen und sagte:

    „Es stimmt, Josef ist nicht dein leiblicher Vater, er hat dir zwar seinen Namen gegeben, aber dich nicht adoptiert. Nimm das Heft, es ist das einzige was ich von deinem leiblichen Vater besitze. Über alles andere sprechen wir in den nächsten Tagen."

    Josef nicht mein Vater! Das empfand ich nach dem ersten Schock fast wie eine Befreiung. Der Mann zu dem ich seit meiner denkbaren Kindheit betont „Papa sagen musste, mit dem ich nie richtig warm wurde, den ich nur zögernd, wenn es unbedingt sein musste, umarmen oder gar auf die Wange küssen konnte. Der von den Großeltern stets abfällig redete und meine Mutter, besonders wenn sie sonntags aus der Kirche kam ein „Kirchenschwein nannte. Auf wen bei den Streitigkeiten Hurensohn und Bastard abzielte, war nun klar. Kurz nach dem mir Mutter das alte Schulheft reichte, stand der Mann im Türrahmen, der den Laden von der Werkstatt trennte, wunderte sich über meine Anwesenheit und fragte, was hier los wäre. Ich hob das Schulheft etwas empor und sagte schnippisch:

    „Grüß Gott Herr Pastula."

    Mutter klärte ihn kurz auf:

    „Dieter hat erfahren, dass du nicht sein Vater bist."

    Da schubste er meine Mutter zur Seite, ging auf mich zu und haute mir mit seiner großen Schusterhand eine gewaltige links und rechts auf die Wangen mit den Worten:

    „Das war für den Herrn Pastula."

    Heulen konnte und wollte ich nicht. Ich drückte das Schulheft, in das ich noch nicht reingeschaut hatte, fest an mich, verließ auf dem Absatz das Haus und rannte, trotz den Backpfeifen und der sich bildenden Röte des Handabdrucks, wesentlich erleichtert zur Wohnung der Großeltern zurück. Dort konnte ich mich erst einmal mit dem alten Schulheft beschäftigen und von meinem Umfeld nach und nach dem Geheimnis meiner Abstammung näher kommen. 

    Schwanger

    Schwäbisch Hall war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg Garnisonsstadt mit Kaserne und Militärflugplatz im Teilort Hessental. Das Gelände konfiszierte nach dem Krieg die amerikanische Besatzung und hieß fortan „Dolan Baracks". Die meisten Soldaten, vorwiegend junge Männer, hatten am Krieg selbst nicht teilgenommen. Ihre Aufgabe war es, in Deutschland wieder die Infrastruktur und Demokratie herzustellen und für die Entnazifizierung zu sorgen.

    In der Kaserne arbeitete jener Deutsche Schneider, welchen ich bereits erwähnte, der ab und zu Wäsche von US Soldaten in Omas Wäscherei brachte. Das sprach sich herum. Etliche der Uniformierten kamen im Laufe der Zeit selbst vorbei. Als kleine Aufmerksamkeit spendierten sie Schokolade, Kaugummi, Kaffee und andere Genussmittel, die im Land noch knapp waren.

    Zu diesen Soldaten gehörte ein gewisser John, genannt „Johnny. Meine Mutter und der junge Mann empfanden Zuneigung und verliebten sich. Sehr zum Leidwesen der Großeltern, denn deutsche Frauen, die sich mit amerikanischen Soldaten einließen, wurden sehr schnell zur „Aminutte deklariert. Trotzdem trafen sich beide weiterhin.

    Johnny wurde eines Tages in eine andere Stadt versetzt, gut 150 km entfernt. Dies tat der Liebe keinen Abbruch. Jedes freie Wochenende kam der Soldat mit dem Jeep zum Besuch angefahren. Meistens zusammen mit einem Kollegen, der in unserer Stadt auch eine deutsche Freundin hatte.

    Die Großeltern duldeten die Besuche mit Unbehagen. Bei allem Respekt vor dem amerikanischen Soldaten erlaubten sie keine Übernachtungen in der elterlichen Wohnung. Deshalb schlief Johnny bei seinen Wochenendbesuchen in der US Kaserne bei Kameraden.

    Drei Monate später bekam er den Einsatzbefehl nach Japan, das unterdessen kapituliert hatte. Eine schmerzhafte Botschaft für meine Mutter, zumal sie inzwischen von ihrem amerikanischen Freund schwanger war. Der Abschied war tränenreich. Johnny blieb verschollen, fünfzig Jahre lang.*)

    Die Schwangerschaft war nicht lange zu verbergen. Mutter offenbarte sich ihren Eltern. Das war eine Schande für die gut bürgerliche Familie und musste geheim bleiben, noch besser verhindert werden. Was tun? Eine Schwester der Großmutter wurde eingeweiht und hatte eine Idee.

    Um eine Abtreibung zu ermöglichen sollte die Schwangere bei den Behörden eine Vergewaltigung angeben. Wohl war es meiner Mutter dabei nicht. Die Geschichte wurde erfolglos inszeniert, den Behörden erschien der Fall nicht glaubhaft. Auf Anraten des Amtes zog sie den Antrag alsbald wieder zurück.

    Mutters im Krieg gefallener Bruder hinterließ ein paar Jahre zuvor seine schwangere Freundin Emma. Sie hatte in einem Heim für ledige Mütter ihre Schwangerschaft verbracht, dort entbunden und mit ihrem Sohn bis zu seinem sechsten Lebensjahr in der Anstalt gelebt. Die Familie drängte meine Mutter nun auch diesen Weg zu gehen. Das Heim war gut 100 km entfernt am Rande der Schwäbischen Alb.

    Die Frauen konnten dort ihre Schwangerschaft austragen und versorgten unterdessen den bereits geborenen Nachwuchs der Mütter, die ihre Kinder zur Adoption zurückgelassen hatten.

    Bereits kurz nach der Geburt konnten die Babys adoptiert werden. Bis zum Schulalter der Kinder war der Aufenthalt in der Einrichtung möglich. Wurden bis dahin keine Adoptionsfamilien gefunden oder die Mütter konnten sich ihrer Kinder nicht selbst annehmen, kamen die Kleinen ins Waisenhaus.

    Mutter ging den Weg ins Heim und die Angehörigen waren erleichtert. In den kommenden Monaten bestand der Kontakt zum Elternhaus nur durch Briefe. Besuche gab es keine.

    So kam ich als uneheliches Kind am 07. April 1946 in Kirchheim unter Teck auf die Welt. Mir wurde berichtet, es war ein sonniger Sonntag um die Mittagszeit. Nachdem sich das ganze Leben meiner Mutter und ihrer Eltern in Schwäbisch Hall abgespielt hat, ist somit erklärt, warum ich in einer anderen Stadt geboren bin.

    Entgegen ihrem ursprünglichen Vorhaben entschloss sich meine Großmutter, bevor der Junge, wie bereits verfügt, zu Adoptiveltern kommt, Tochter und den Nachwuchs im Heim zu besuchen. Als sie den süßen, blauäugigen Knirps mit den tiefschwarzen Haaren sah, kam die große Wende, vielleicht auch das Gewissen. Der Tochter wurde alles verziehen und Oma entschied, dass der Knabe bei der eigenen Familie aufwächst. Die entscheidenden Worte, die meine Mutter nie vergessen hat:

    „Ihr kommt beide mit nach Hause, mit den Heimlichkeiten ist jetzt Schluss, wir werden zu dem Kind stehen und gemeinsam für den Jungen sorgen."

    Die bereits erfolgte Adoptionsfreigabe wurde rückgängig gemacht. Irgendwie konnte das noch geregelt werden. Das war der Beginn meiner unbeschwerten Kindheit mit zwei für mich sorgenden Müttern.

    Schwester Babette

    Schwester Babette, ehemals Diakonisse in Omas Alter, wurde von ihrem Verband einem Altersheim als Pflegerin zugeteilt. Diese Arbeit gefiel ihr nicht besonders. Eines Tages riss sie sich aus Wut über ein Ärgernis die Schwesternhaube vom Kopf und warf sie auf den Boden. Damit war sie als Diakonisse disqualifiziert. Kleid und Schürze durfte sie weiterhin tragen, die symbolische Diakonissenhaube fortan nicht mehr.

    Babette fand Anfang 1940 in unserem Haus eine neue Bleibe. Sie bezog die zwei Zimmer im Zwischengeschoss, direkt über der Wäscherei unterhalb einer Veranda.

    Diakonissen leben ähnlich wie katholische Ordensschwestern ledig, karg und keusch. Nach der aktiven Arbeitszeit wechselten die Schwestern ins „Feierabendheim". Wenn es ihre Kräfte erlaubten, konnten sie sich von dort aus weiterhin in Diakonischen Einrichtungen nützlich machen.

    Die einheitliche Kleidung, die Schwesterntracht wurde bei der Arbeit, Freizeit und nach dem aktiven Dienst getragen. An der Faltung und Schleife der Schwesternhaube war schon damals der Dienstgrad zu erkennen.

    Babette kam eines Tages in Großmutters Wäscherei und bewunderte Oma, wie sie fleißig arbeitend an der Wäscheschleuder stand. Sie fragte, ob sie sich ein wenig nützlich machen könnte. Sie konnte und stand von nun an selbst an der Schleuder. Aus der Mitarbeit entwickelte sich Freundschaft, mit erweitertem Familienanschluss.

    Babette hatte mitunter starke Stimmungsschwankungen. Mal wirkte sie himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Je nach ihrem Zustand bezeichneten wir das innerhalb der Familie als ihren „Guten- oder „Schlechten Tag.

    Einfluss auf die Depressionen hatte sicher ihr gelebtes Leben, das seine Spuren hinterlassen hatte: Als junges Mädchen, zur Diakonisse geweiht, verließ sie das Elternhaus, verzichtete auf alle Freuden des Lebens und widmete sich dem Dienst an Menschen. Als Lohn gab es Unterkunft, Verpflegung sowie ein kleines Taschengeld. Im Alter brach alles zusammen. Geblieben war ihr letztlich nur die Kleidung.

    Da Schwester Babette ihre weiterhin zustehende Versorgung im Feierabendheim nicht in Anspruch nahm, setzten sich meine Großmutter und unsere Vermieterin beim zuständigen Pfarramt dafür ein, dass sie ersatzweise eine kleine Rente bekommt. Anfangs abgelehnt, wurde dies schließlich nach mehrmaligen Interventionen bewilligt.

    Wann immer es möglich war, kümmerte sich Babette um mich. Anfangs fuhr sie mich im Kinderwagen spazieren, später bummelten wir durch die Stadt und die Parks. Hatte sie ihren „Guten Tag" sprang immer eine Kleinigkeit für mich heraus, mal etwas aus dem Spielwarengeschäft, mal eine Nascherei beim Kaufmann oder Bäcker, meistens beides.

    Mitte der 1950er Jahre entschloss sich Babette ihren Lebensabend in einem Altersheim zu verbringen. Zunächst bezog sie ein Heim in einer kleinen Nachbarstadt. In dem umgebauten mittelalterlichen Schloss fühlte sie sich auf Dauer nicht wohl und wechselte in ein neuerbautes Seniorenheim des Roten Kreuzes, ein paar Kilometer von unserer Stadt entfernt.

    Nach dem Umzug besuchte uns Babette hin und wieder mit dem Linienbus, der fast vor unserer Haustüre hielt. Dann wurde sie kränklich und ihre Visiten seltener. Kurz vor Weihnachten, am 23. Dezember 1956 starb Schwester Babette. Noch am selben Tag erhielten wir die Nachricht von ihrem Tod.

    Das Weihnachtsfest und den Jahreswechsel wollten wir in diesem Jahr beim ältesten Sohn der Großeltern in Heilbronn verbringen. Warum auch immer, war das meiner Oma sehr wichtig und so saßen wir am Heiligen Abend schweigend im Zug. Ich war sehr traurig, dass Babette nicht mehr lebte und sehr enttäuscht, dass wir nicht einmal an ihrer Beerdigung am 27. Dezember teilnehmen würden. Für Oma war der Besuch in Heilbronn ausgerechnet auch an diesem Tag wichtiger.

    Als ich später, erst mit dem Moped, dann mit einem Auto unabhängig mobil war, fuhr ich immer mal wieder zum örtlichen Friedhof um an Babettes Grab zu verweilen. Einmal mit Oma, die dann auffallend nachdenklich an Babettes letzter Ruhestätte stand. Vermutlich bedauerte sie im Nachhinein ihr damaliges Handeln.

    Papa Josef

    Im März 1949 heiratete meine Mutter den Schuhmacher Josef Pastula. Er begegnete ihr als Kunde in Omas Wäscherei, warb um sie und meinte das Kind brauche einen Vater. Ich war knapp drei Jahre alt und meine Geburtsurkunde erhielt den Zusatz:

    „… mit Erklärung vom 17. März 1949 hat als Ehemann der Kindsmutter der Schuhmachermeister Josef Pastula dem Kind seinen Familiennamen Pastula erteilt ..." Durch früheres Annektieren gehörte seine Heimatstadt Czernowitz in der Bukowina eine Zeitlang zur Österreich-Ungarischen Monarchie. Die ehemals dort angesiedelten Immigranten wurden durch den Anschluss Österreichs an Deutschland nun Volksdeutsche.

    Josef folgte während dem zweiten Weltkrieg dem Ruf des Dritten Reiches „Heim ins Reich" und schloss sich der Deutschen Wehrmacht an. Da er durch die multikulturelle Bevölkerung in seiner Geburtsstadt mehrere Sprachen in Wort und Schrift beherrschte, setzte ihn das Heer als Dolmetscher ein. Nach dem Krieg verschlug es ihn zunächst nach Österreich, wo er kurz verheiratet war.

    Nach einigen Umwegen und Lagerleben kam Josef schließlich in unserer Stadt. In einem örtlichen Schuhladen mit Reparaturwerkstatt fand er bald eine Anstellung als Schuhmacher. Nach der Heirat bewohnte die neu gegründete Familie zunächst ein Zimmer in der Wohnung meiner Großeltern.

    Eigenheim

    Nahe einem Teilort wurde 1949 ein neues Bauland erschlossen. Dort entstanden zweckmäßige Einfamilienhäuser mit ausgebautem Dachgeschoss. Drei voll unterkellerte Kellerräume waren sowohl vom Haus, als auch über einen Hintereingang zugänglich. Der Außenbereich konnte je nach Lage unterschiedlich gestaltet werden. Einen Nutzgarten hatte jedes Haus, einzelne darüber hinaus Vorgärten oder Abstellplätze. Andere obendrein ein massiv gebautes Nebengebäude, das innen individuell ausgebaut werden konnte.

    Vor allem die vielen Heimkehrer, Vertriebenen und Flüchtlinge sollten in den Bauten eine neue Bleibe finden. Viele dieser Menschen lebten bis dahin in Notunterkünften oder bei Verwandten. Dies war für Mutters neue Familie, bei der sich inzwischen eigener Nachwuchs ankündigte, die Chance fürs Eigenheim.

    Für Bauwillige gab es so genannte LAKRA Gelder, günstige und langfristige Kredite der Landeskreditanstalt Baden-Württemberg, im Rahmen eines Wiederaufbauprogramms. Als Auflage mussten Eigenleistungen in Form von 600 Arbeitsstunden am Bau der Häuser erbracht werden.

    Die Entscheidung fiel für ein Grundstück am Straßenanfang, mit großem Nutzgarten, Vorgarten und dem Anbau. Die erforderlichen Arbeitsstunden leistete vorwiegend mein Großvater. Bereits im April 1950 konnte die Familie ins neuerbaute eigene Heim einziehen. Bald darauf machte sich mein Stiefvater selbstständig und richtete in den vorderen Kellerräumen seine eigene Schuhmacher Werkstatt ein.

    Veränderungen

    Das bedeutete eine bittere Veränderung in meinem jungen Leben. Seither umsorgt und verwöhnt von Mutter, Oma und Schwester Babette, war der neue Vater, den ich erst Onkel Josef und nun Papa nennen sollte, für mich

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