Der Großvater meiner Mutter
Von Reinhold Seitl
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Über dieses E-Book
Josef Lehrl wurde in eine Welt geboren, die für uns Menschen des dritten Jahrtausends nicht vorstellbar ist. Schon die triviale Tatsache, dass elektrischer Strom für Menschen damals praktisch nicht existierte, entrückt diese Zeit gar zu weit. Und wem heute der technische Fortschritt manchmal als unglückselige Entwicklung erscheinen mag, der bedenke auch, dass es die selbe Zeitspanne war, die auch gewaltigen sozialen Fortschritt brachte. Gerade davon zeugt der Text in beredter Weise.
Betrachtet man den geschichtlichen Hintergrund dieses Lebens, so ist man überrascht, wie sich das Große im Kleinen spiegeln kann. Der Geist der Zeit durchdringt uns alle. Um das individuelle Schicksal eingebettet in den rasenden Fortschritt jener Zeit zu zeigen, befinden sich im Anhang drei Zeittafeln.
Josef Lehrls Autobiographie ist kein Sprachkunstwerk, und doch lohnt es, auch auf die Sprache zu achten. Ohne Schnörksel erzählt sie, und rasch hat sich der Leser in Rhythmus und Melodie eingestimmt.
Reinhold Seitl
Seitl, Reinhold; * 1951
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Buchvorschau
Der Großvater meiner Mutter - Reinhold Seitl
Kapitel 1: 1862 – 1872
Zu Ostern des Jahres 1867 begann für mich die Schulzeit.
Geboren wurde ich am 3. Februar 1862 im Kleinhause Tiefengraben, Rotte Distelberg, Pfarre Zeillern. Der Besitzer des Häusl¹ war Leopold Jordan, der mit einer Schwester der Mutter verheiratet war mit Namen Barbara Lehrl. Die hatten das Häusl von meinen Großeltern Josef und Anna Lehrl, geborene Zaritzer, übernommen.
Ich bin ein uneheliches Kind der Katharina Lehrl, Taufpatin war eine Schwester der Mutter, verheiratete Rosenfellner. Diese hatten ein Häusl in der Pfarre Stefanshart. Zur Taufe trug mich eine Schwester meines mir unbekannten Vaters, eine geborene Ortner, verheiratete Schausberger. In Zeillern wurde ich getauft.
Meine Kindheit verbrachte ich in dem genannten Häusl bei meiner Mutter und Großmutter. Der Großvater war vor meiner Geburt gestorben. Die Mutter mußte in dieser Zeit zu den Bauern arbeiten gehen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die Großmutter sorgte um mich während des Tages. Gleichzeitig hatte die Großmutter noch einen zwei Jahre älteren Knaben, der Findelkind war, zur Aufziehung übernommen.
An diesem hatte ich einen Ziehbruder, Spielgefährten und in späteren Jahren einen lieben Kameraden. Benannter Ziehbruder hatte den Namen Johann Dörfler, seine Mutter war ledig und hatte sechs uneheliche Kinder.
Wie ich drei Jahre alt war, wurde die Schwester Maria geboren. Wir zwei haben den gleichen Vater. Der bezahlte dann der Mutter für uns beide je 50 Gulden und kümmerte sich nicht mehr weiter um unsere Mutter und uns Kinder. Ich kann mich nur erinnern, daß ich ihn, wie ich neun Jahre alt war, einmal gesehen habe und die Mutter zu mir sagte, daß es mein Vater ist.
Wie ich noch bei der Großmutter war, hat sie einmal gesagt, ich kann mit dem Hansl nach Hickersberg (das sind drei Bauernhäuser in nächster Umgebung), Neujahrwünschen mitgehen. Dahin haben wir über einen schmalen Steg des Baches gehen müssen in der Nähe eines damals bestandenen Wehres². Das Wasser war ziemlich tief. Der Steg war eisig, ich rutschte aus und fiel in den Wassertümpfel³. Mein Ziehbruder hat geschrien, aber konnte mir nicht helfen. Circa 100 Schritte vor uns ging die Schausberger, die Schwester meines Vaters, hörte das Schreien, lief zurück und zog mich aus dem Wasser und trug mich heim zur Großmutter.
Wie ich wieder zur Besinnung kam, lag ich auf einem errichteten Lager beim Ofen. Trotzdem ich damals kaum vier Jahre alt war, sehe ich heute noch das Bild des Geschehens vor mir, den Steg und das Wasser. Aber der liebe Gott wollte nicht, daß ich ertrank und fügte es, daß ich gerettet wurde.
Wie ich fünf Jahre alt war, kam meine Mutter zu einem Bauern nach Dürnberg in der Nähe von Öd in Dienst und nahm mich mit, von der Großmutter weg. Mir fiel das sehr schwer. Daher hatte ich jedes Mal eine Freude, wenn ich sie besuchen konnte. Ich kann mir die Großmutter auch heute noch gut vorstellen als ein altes, abgerackertes, runzeliges Weiblein mit mageren Händen und gekrümmtem Rücken, aber für mich war sie schön und liebenswert.
Wie ich das erste Mal mit der Mutter von Dürnberg weg die Großmutter Besuchen ging, das war im Frühjahr, wurden längs des Weges, den wir zu gehen hatten, bei Blindleiten Obstbäume gepflanzt. Dazu waren bereits die Gruben gegraben zum Einsetzen der Bäume, und das weiß ich heute noch, wie es mich schmerzte, als ich in eine Grube fiel, und meine neue Hose und Röckl voll Lehm waren, weil es am Vortag stark geregnet hatte. Heute sind die Bäume schon groß, denn es sind ja seither schon über siebzig Jahre vergangen. Aber sooft ich dort im Laufe der Zeit vorbeigegangen bin, habe ich an das Loch gedacht, das schon längst der Baum ausfüllt.
Zu Ostern des Jahres 1867 begann für mich die Schulzeit, obwohl ich erst fünf Jahre alt war, aber weil ich körperlich gut entwickelt und auch geistig nicht rückständig war, wurde ich aufgenommen.
Die Bauernleute waren gut mit mir, eine alte Auszüglerin⁴ war auch im Haus, die hat mir schon vor dem Schulanfang die Buchstaben der Schulfibel und bis zehn zählen gelernt.
In der Schule fühlte ich mich bald zu Haus. Der Bub, der neben mir gesessen ist, mochte mich nicht leiden, und zerkratzte mir gleich am ersten Tag die Hände. Den zweiten Tag kam ich
daher in eine andere Bank. Wir hatten in der Schule zwei Klassen. Daher einen Schulmeister und einen Schulgehilfen. Zur damaligen Zeit war noch das alte Schulgesetz.
Drei Jahre war die Mutter in Dürnberg, mir ging es dort immer gut. Auch Kameraden habe ich mir gefunden, beim nächsten Nachbar war ein Halbdutzend Kinder im schulpflichtigen Alter. Leider hatte meine Mutter wieder ein Kind zu erwarten und mußte den Dienst verlassen. Mir war sehr leid um mein gutes Platzerl. Wir kamen wieder zum Jordan, wo die Großmutter lebte. Diese zankte wohl die Mutter damals sehr viel aus, hat sich aber doch wieder um uns angenommen.
Das Kind, welches als drittes kam, - der Bruder Johann, geboren am 27.1.1870 -, wurde von seinem Taufpaten, einem Auszügler am Eigenhäusl bei Leutzing, Gemeinde Stefanshart, genommen. Die Schwester Maria nahmen die damaligen Besitzer des genannten Häusl in Pflege und waren auch ihre Taufpaten um Gottes Lohn. Die Mutter man dann wieder zu einem Bauern in Dienst, das Haus nannte man damals Beim Gassner
in Schmerhof. Auch im Schmerhof ging es mir verhältnismäßig gut, die Schule besuchte ich in Öd.
In der schulfreien Zeit mußte ich zu Haus für die Bäuerin kleine Hausarbeiten verrichten, wurde gut behandelt und bekam auch genug zu essen. Die zweite Magd war auch noch jung, die mochte mich gut leiden, auch durfte ich Sonntag mit ihr gehen. Da war einmal, daß sie an einem Sonntag nach Neuhofen ging, und auch mich mitgehen ließ zur Kirche. Bei der Kirchentür fragten mich dortige Buben, ob ich läuten kann. Ich sagte natürlich ja, und diese nahmen mich dann mit auf den Turm, und ich durfte die zweite Glocke läuten. Das war für mich eine große Freude und ein Erlebnis, das ich bis jetzt noch nicht vergessen habe.
In diese Zeit fiel auch der Krieg Preußen gegen Frankreich. Die Österreicher waren damals den Preußen nicht gut gesinnt wegen des Krieges 1866. Dadurch waren auch wir Buben Feinde Preußens und Freunde Frankreichs, was wir auch bei unseren Kriegsspielen auf dem Schulweg zum Ausdruck brachten durch Freude, wenn die Preußen besiegt wurden.
Zu meinem Leidwesen blieb meine Mutter bei diesem Bauern nur ein Jahr, und kam dann zu einem Bauern gegenüber Schmerhof, der Name ist mir entfallen. Dort hatte ich es auch nicht schlecht, der Bauer mochte mich gut leiden. Dem mußte ich abends oft Geschichten erzählen von Rittern, Räubern, Hexen und verzauberten Mädchen, deren ich damals sehr viele wußte von meiner Großmutter, die mir diese Geschichten nach Feierabend erzählt hatte.
Der Schulweg war auch ein anderer. Ich mußte den Weg zur Schule, eine halbe Gehstunde, größtenteils allein machen, das war langweilig für mich. Daher sind mir verschiedene Streiche eingefallen, und ich habe dann allerlei ausgeführt, um Belustigung zu haben.
Nach dreiviertel Jahren verließ die Mutter diesen Dienst, warum weiß ich nicht, und kam nach Dorf in der Nähe der Großmutter.
--
Ich muß nun etwas zurückgreifen, denn Du wirst ja auch wissen wollen, wie damals die sozialen und Lohnverhältnisse waren. Auch die religiösen und politischen Rechte schauten anders aus, auch wirtschaftlich mußte manches anders werden.
Ich will hier nur über Bauern, Dienstboten am Lande und Landarbeiter einiges sagen. Der damalige Bauer war in der Mehrheit katholisch und verlangte es auch von seinem Gesinde.
Die sozialen Fragen wurden durch christliche Lehre und Handlungen vermittelt. Gesetzliche Vorschriften waren nicht vorhanden, mit Ausnahme weniger Dienstbotengesetze, die aber nur vom Rechte der Dienstgeber und Pflichten der Dienstnehmer voll waren. Um diese Zeit waren ja die Verhältnisse der Zeit vor 1848 noch nicht ganz aus dem Sinn der Besitzenden verschwunden.
In der Schule hatte der Pfarrherr zu schaffen, Schulmeister und Schulgehilfen standen unter seiner Aufsicht. War der Pfarrer gut und einsichtsvoll, war es auch die Schule. Wirtschaftlich war der Bauer abhängig vom Händler, der Händler bestimmte die Preise für ihre Produkte, der Händler bereicherte sich, und der Bauer mußte sich einschränken, um durchzukommen und fleißig arbeiten.
Die politischen Rechte hatten Adelige, Advokaten und Geistliche in den Händen. Der Bauer hatte wenig zu reden. Die ländlichen Dienstboten waren ganz rechtlos und mußten alles nehmen, wie es ist. Tat es einer nicht und räsonierte⁵, so konnte er sich nur schaden aber nicht nützen. Er hatte nur das christliche Empfinden seiner Dienstgeber als Schutz, um nicht als leibeigen oder Sklave behandelt zu werden, und mußte bescheiden und anspruchslos dienen und leben.
Die Lohnverhältnisse waren in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts sehr niedrig. Ein tüchtiger Knecht erhielt pro Jahr gutenfalls 30 FL⁶und 6 Ellen Leinwand. Eine Magd bekam bis zu 24 FL im Jahr. Der Lohn wurde halbjährig ausbezahlt.
Für die Mägde waren 8 - 10 Ellen Leinwand im Jahr zu geben. Man konnte daher die Knechte und Mägde am Sonntag auf dem Lande beim Kirchgang noch mit Leinenhose und solchem Rock, blau gefärbt, im Sommer barfuß gehen sehen.
Meine Mutter hatte in Dürnberg z.B. 24 Gulden Lohn im Jahr und 10 Ellen Leinwand, davon 5 Rupfen-⁷ und 5 Ellen Kernleinwand. Damit mußte sie für mich und sich selber für Kleider, Wäsche und Schuhe aufkommen.
Ich bekam damals von ihr alle Jahre einen neuen Anzug und Schuhe. Da ließ sie die dazu notwendige Leinwand färben, zahlte für das Färben 27 bis 30 Kreuzer und machte mir dann davon einen Anzug selber. Ein Paar Schuhe für mich kosteten 2 FL bis 2 FL 50 Kr. Hemden machte sie mir aus Rupfenleinwand. Für sich kaufte sie Blaudruck-Leinen und machte daraus Kittel und Blusen, kaufte ein bis zwei Pfund Schafwolle, und die Großmutter hat diese dann geputzt und gesponnen, dann die Mutter Strümpfe gestrickt.
Das war die gute alte Zeit, und die Leute waren zufrieden, wußten nichts anderes, und Hetzer waren nicht vorhanden.
Landwirtschaftliche Taglöhner waren die Kleinhäusler. Diese erhielten mit Kost im Sommer im Tag 20 Kr, im Winter 10 Kr, davon mußten Weib und Kinder leben. Daher mußten auch deren Weiber durch Arbeit dazu beitragen, um nicht zu hungern.
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_ ¹ Häusl, Kleinhaus: einfaches Wohnhaus
_ ² Wehr: Anlage, um Wasser zu stauen
_ ³ Tümpfel: kleines, stehendes Gewässer
_ ⁴ Auszügler sind die alten Bauersleute nach der Hofübergabe
_ ⁵ räsonieren: seiner Unzufriedenheit Luft machen
_ ⁶ FL: Abkürzung für Gulden; 1 FL = 100 Kreuzer (Kr.)
_ ⁷ Raues, minderes Leinen
Kapitel 2: 1872 – 1874
Mit meinen elf Jahren arbeitete ich, was ich konnte, aber es genügte natürlich nicht.
Nun wieder zurück nach Dorf. Ich zählte jetzt zehn Jahre. Es war das Jahr 1872. Ich mußte noch in die Schule gehen. Nach Öd war es eine Stunde zu gehen. Eingeschult waren diese Häuser, wo wir jetzt waren, nach Wallsee. Um diese Zeit war bereits das neue Volksschulgesetz. Die Mutter meldete das in Öd, und ich sollte in Wallsee in die Schule gehen. So ging ich also mit einem gleichalten Buben mit Namen Josef Schausberger, einem Sohn der Schwester meines Vaters, nach Wallsee, und meldete mich. Der Lehrer nahm mich auf und schickte mich in die Klasse. Dort langweilte ich mich, auch drückte mich das Heimweh nach Öd. In dieser Schule