ZWISCHEN 10 UND 12: Der Krimi-Klassiker!
Von Herbert Adams
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Jim hatte die feste Absicht, das erhaltene und noch zugesagte Geld gewissenhaft zu verdienen. Lord Wantage hatte von einer Wette gesprochen. Zweifellos bedeuteten vierzig oder sechzig Pfund für einen Mann, der wahrscheinlich mit Tausenden zu rechnen pflegte, sehr wenig. Vielleicht hatte er sogar ein kleines Vermögen darauf gewettet, an zwei Stellen zu gleicher Zeit gesehen zu werden. Gut, er, Jim, konnte ihm dabei behilflich sein.
Natürlich spielte ein nicht ganz einwandfreier Trick eine Rolle dabei, aber wenn andere Menschen ihren Irrtum nicht erkennen sollten - wessen Fehler war es dann? Er hatte seinen Teil der Arbeit auszuführen, und das Geld kam ihm außerordentlich gelegen. Der Wunsch, ihn mit weiteren zwanzig Pfund aus London zu entfernen, war jedenfalls eine Vorsichtsmaßregel, um jeder Möglichkeit der Entdeckung eines zweiten Lord Wantage vorzubeugen...
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Zwischen 10 und 12 erschien erstmals im Jahr 1935; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1952.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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ZWISCHEN 10 UND 12 - Herbert Adams
Das Buch
Jim hatte die feste Absicht, das erhaltene und noch zugesagte Geld gewissenhaft zu verdienen. Lord Wantage hatte von einer Wette gesprochen. Zweifellos bedeuteten vierzig oder sechzig Pfund für einen Mann, der wahrscheinlich mit Tausenden zu rechnen pflegte, sehr wenig. Vielleicht hatte er sogar ein kleines Vermögen darauf gewettet, an zwei Stellen zu gleicher Zeit gesehen zu werden. Gut, er, Jim, konnte ihm dabei behilflich sein.
Natürlich spielte ein nicht ganz einwandfreier Trick eine Rolle dabei, aber wenn andere Menschen ihren Irrtum nicht erkennen sollten - wessen Fehler war es dann? Er hatte seinen Teil der Arbeit auszuführen, und das Geld kam ihm außerordentlich gelegen. Der Wunsch, ihn mit weiteren zwanzig Pfund aus London zu entfernen, war jedenfalls eine Vorsichtsmaßregel, um jeder Möglichkeit der Entdeckung eines zweiten Lord Wantage vorzubeugen...
Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.
Der Roman Zwischen 10 und 12 erschien erstmals im Jahr 1935; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1952.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
ZWISCHEN 10 UND 12
ERSTER TEIL
Erstes Kapitel
Er eilte den abfallenden Weg zur kleinen Station hinunter, flog durch die Fahrkartenhalle in Richtung Bahnsteig, sprang auf das Trittbrett des schon anfahrenden Zuges, drückte eine Klinke herunter und kletterte in ein Abteil hinein.
»Gerade noch geschafft«, stieß er hastig hervor. »Die halbe Meile in Rekordzeit gelaufen... war ja der letzte Zug heute Abend...«
Er nahm den Hut ab, zog ein Taschentuch hervor und fuhr sich über die Stirn. Der Mann ihm gegenüber, der einzige Insasse des Abteils, der sonst wenig Interesse für Fremde hatte, beobachtete ihn unauffällig.
Zweierlei fiel ihm auf. Abgesehen von den etwas hastigen Atemstößen war dem Eindringling nicht anzusehen, dass er soeben eine halbe Meile in Rekordzeit durchlaufen hatte. Er musste über gutes Training und ausgezeichnete Konstitution verfügen. Und dann das Taschentuch! Es war nicht direkt schmutzig, aber auf jeden Fall nicht so frisch wie sein Besitzer. Die leicht bräunlich-graue Farbe ließ auf eigenhändiges Waschen und längere Abwesenheit von einer ihres Namens würdigen Wäscherei schließen. Wäsche dieser Art kann einem verwöhnten Menschen unendlich viel erzählen, und wenn der Mann auf dem Fensterplatz nicht verwöhnt sein sollte, dürfte es wohl schwerfallen, jemand zu finden, auf den dies Eigenschaftswort besser passen würde. Aber jetzt fiel ihm noch etwas anderes auf, und sein bisher gleichgültiger Blick verriet mit Interesse gepaartes Erstaunen.
Der Eindringling steckte das verräterische Taschentuch ein, seine Augen begegneten denen des anderen - und auch er starrte verblüfft sein Gegenüber an.
Von Männern wird im Allgemeinen behauptet, dass sie weniger Zeit vor dem Spiegel verbringen als ihre eitleren Schwestern. Bei einigen ist das sicherlich der Fall, aber kein Mann kann Tag für Tag beim Rasieren sein Spiegelbild betrachten, ohne nicht schließlich genau zu wissen, wie er aussieht, und wenn er dann auf einmal anstatt in einem Spiegel sein eigenes Gesicht auf dem Eckplatz eines Eisenbahnabteils sich gegenübersieht, ist es wohl begreiflich, dass sein Blick von ungläubigem Erstaunen spricht.
Im Äußeren gab es so manchen Unterschied. Der eine trug einen tadellos gearbeiteten dunkelbraunen Anzug. Das gestreifte Hemd, die Krawatte, die seidenen Socken und die Wildlederschuhe waren in ihren Farben harmonisch aufeinander abgestimmt. Dazu trug er elegante Handschuhe und eine beinahe weibisch anmutende Platin-Armbanduhr. Alles verriet ausgezeichneten Geschmack und die Mittel, ihn zu befriedigen.
Der andere war gleichfalls sorgfältig gekleidet, doch war sein blauer Anzug etwas abgetragen und das staubige Schuhwerk noch mehr. Der weiche Hut neben ihm hatte kaum noch seine ursprüngliche Form bewahrt, und seine Hände sprachen von harter Arbeit. Aber er war es, der als erster das Schweigen brach.
»Eigentlich unglaublich!«
Und es war unglaublich! Kein anderes Wort konnte die Situation so gut beschreiben. Das eine Gesicht war das getreue Spiegelbild des anderen. Braune Augen unter dichten Brauen, zwei starke, völlig gleich geformte Nasen, die gleiche Form des Kopfes, der Stirn, der Wangen, das gleiche Grübchen im Kinn und der gleiche militärisch gestutzte Schnurrbart... es war verblüffend.
»Stehen Sie auf«, sagte der Mann in Braun und erhob sich selbst.
Der Mann in Blau gehorchte, und wieder sahen die beiden einander an. Ein kaum merkbarer Unterschied in der Höhe der Figur, der Breite der Schultern.
Und das Alter?... Das war schwer zu sagen. Möglicherweise war Braun einige Jahre älter als Blau, aber sein gepflegteres Äußeres glich diesen Unterschied aus. Beide würde man auf dreißig Jahre schätzen.
»Ja, Sie haben recht«, sagte Braun und setzte sich.
»Es ist wirklich unglaublich. Sähe ich Sie nicht so vor mir sitzen, würde ich es für unmöglich halten.«
Sogar der Tonfall ihrer Stimmen war ähnlich, wenn auch Blau lebhafter sprach und Braun ein wenig näselte.
»Ab und zu glaube ich«, begann Blau, »dass sich die Natur wiederholt. Ist ja auch schließlich nicht allzu erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Millionen Menschen es gibt. Meine Vorfahren waren, wie ich annehme, ehrenhafte Menschen, und Sie werden zweifellos das gleiche von den Ihrigen behaupten können...«
»Das kommt ganz darauf an, wie man die Verhältnisse der vergangenen Jahrhunderte beurteilen will«, erwiderte Braun mit leichtem Lächeln. »Aber - wie heißen Sie? Wo stammen Sie her?«
Sein Ton klang etwas herablassend, doch Blau war nicht der Mann, sich Vorschriften machen zu lassen.
»Vielleicht stoßen wir auf überraschende Enthüllungen«, entgegnete er schnell. »Fangen Sie an! Wie ist Ihr Name?«
Braun starrte ihn an. Diese wie selbstverständlich betonte Gleichstellung schien ihn unangenehm zu berühren. »Ich heiße Wantage«, versetzte er kühl.
»Und ich Flower - Jim Flower«, gab Blau zurück. »Erst jetzt aus Australien zurück. Ich befürchte, auch entfernte Verwandtschaft wird nicht festzustellen sein. Eigentlich bedauerlich«, fügte er mit einem sprechenden Blick auf Wantages elegante Kleidung und seine eigenen abgetragenen Schuhe hinzu. Er lächelte bei diesen Worten, und das humoristische Aufflackern seiner Augen machte sein Gesicht besonders anziehend. Bevor Wantage antworten konnte, öffnete sich die Tür nach dem Gang, und ein Beamter erschien.
»Die Fahrkarten, bitte.«
Beide reichten ihm die Karten, und der Mann sah Flower ernst an.
»Sie haben dritte Klasse und reisen in der ersten! Die Differenz beträgt sieben Schilling... und er zog seinen Fahrscheinblock heraus.
»Ich gehe in den anderen Wagen«, sagte Flower und griff nach seinem Hut. »Auf dem letzten Bahnhof konnte ich gerade noch den Zug erreichen und achtete nicht auf die Wagenklasse. Hätte ich mir eigentlich denken können.« Er lächelte seinem eleganten Gegenüber zu.
»Lohnt es sich denn, für sieben Schilling einen anderen Wagen aufzusuchen?« näselte Wantage.
»Sehr sogar - für mich wenigstens.«
»Dann lassen Sie mich die Differenz bezahlen. Ein Zusammenreisen mit einem so vollendeten zweiten Ich ist mir viel wertvoller als die paar Schillinge.«
»Ein zweites Ich in sehr minderwertiger Fassung«, bemerkte Flower, während Wantage bezahlte. Der Schaffner sah die beiden so völlig gleichen Männer erstaunt an, nahm aber das Geld und verschwand.
»Vielleicht würden Sie mir jetzt etwas mehr über sich selbst erzählen«, begann Wantage.
»Das dürfte wohl kaum sieben Schillinge wert sein«, erwiderte Flower ironisch. »Für Gunstbezeugungen bin ich gewöhnlich nicht sehr empfänglich, und dritte Klasse ist gut genug für mich. Vierte gibt’s ja leider nicht. Aber die Umstände sind hier so eigenartig, dass ich... Was wollen Sie wissen?«
»Wovon leben Sie?«
»Von - der Hoffnung!«
Wantage sah ihn prüfend an. »Hm... hoffen Sie schon lange Zeit?«
»Seit ich wieder in England bin. Habe drüben mein Geld in einer Schafzucht verloren. Die Lage wurde täglich kritischer, und so brach ich kurz entschlossen meine Zelte ab. Aber hier in England ist es noch schlechter...«
»Was hatten Sie denn in - wie hieß das Nest, wo Sie einstiegen?... Forover glaube ich - verloren?«
»Ein Gutsbesitzer suchte einen...« - er grinste wieder - »...Direktor für seinen Hundezwinger. Als ich hinkam, war die Stelle gerade besetzt worden.«
»Pech! Was werden Sie nun machen?«
»Ich nehme, was sich mir bietet. Am liebsten habe ich mit Tieren zu tun, aber ich bin nicht wählerisch - ich kann es nicht sein.«
Wantage blickte nachdenklich vor sich hin.
»Gesetzt den Fall, ich finde etwas für Sie - wohin kann ich Ihnen Nachricht geben?«
Jetzt überlegte Flower eine Zeit lang. Die Art Unterkunft, die sich ihm in letzter Zeit geboten hatte, konnte als ständige Adresse kaum angegeben werden; wo er morgen hausen würde, falls sich das Schicksal ihm nicht freundlicher zeigte, wusste er selbst noch nicht. Seine noch verhältnismäßig gute Garderobe - die beste Chance, eine annehmbare Stellung zu erhalten - war Flowers Hauptsorge, aber auch die kleine Summe, die er von Australien mit herüber gebracht hatte, schrumpfte in beängstigender Weise zusammen.
»Lambeth Bridge Road 427«, sagte er schließlich. Er erinnerte sich an den kleinen Tabakladen in der Nähe seiner jetzigen Wohnung, dessen Besitzer Briefe für seine Kunden in Empfang nahm. Gelegentlich könnte er, Jimmy, dort nachfragen. »Glauben Sie, dass sich eine Aussicht für mich bieten wird?«
»Möglich«, war die Antwort, als ein kleines Notizbuch aus der Tasche hervorgezogen und die Adresse aufgeschrieben wurde. »Aber nehmen Sie... hm... keine Änderung in Ihrem Äußeren vor.«
»Ich denke nicht daran«, lachte Flower. »Ich habe mich jetzt sehr deutlich davon überzeugen können, dass ich mich deswegen gar nicht zu schämen brauche.«
»Wantage griff wieder in die Tasche.
»Wenn ich Ihnen jetzt fünf Pfund anbiete, damit Sie über die nächste Zeit hinwegkommen können... würde Sie das beleidigen?«
»Als - Darlehen?«
»Nennen Sie es so, wenn Sie wollen.« Wantage lächelte etwas ironisch. »Sie können das Geld aber auch als Sühnezahlung eines Menschen betrachten, der nicht an derartige Zufälle glaubte und sich eines Besseren belehren lassen musste«
»Darlehen wäre mir lieber, wenn auch der Himmel wissen mag, wann ich es je zurückzahlen kann.«
»Und der Himmel pflegt seine Geheimnisse für sich zu behalten«, war die Antwort, als das Geld hinübergereicht wurde.
»Ich danke Ihnen, aber ich liebe keine Almosen. Wohin kann ich das Geld senden? Ich werde es sicher nicht anrühren, wenn ich nicht unbedingt dazu gezwungen bin.«
Zweites Kapitel
»Hallo, Jim! Glück gehabt?«
»Nein. Die Stellung war schon drei Stunden vor meiner Ankunft besetzt.«
»Aber das Fahrgeld hat man dir doch ersetzt?«
»Auch nicht. Ich versuchte so eine kleine Andeutung, musste mir aber erzählen lassen, dass mein Kommen ohne vorheriges Schreiben ganz allein meine Angelegenheit gewesen sei...«
»Gemein! Diese verd... Arbeitgeber sind doch überall gleich. Kümmern sich den Teufel um alles andere.«
»Na, so schlimm ist das nun doch nicht. Ich konnte dem Mann eigentlich nicht unrecht geben...«
»Du - natürlich! Dir ist es auch jetzt noch nicht schlecht genug gegangen, Jim. Wie denkst du über Abendessen? Ich kann dir und mir kostenlos etwas zu essen verschaffen.«
»Hört sich gar nicht übel an. Hast du Freundschaft mit einer Millionärsköchin geschlossen?«
»Komm mit und überzeuge dich selbst.«
Als Jim Flower in einer der ärmlichen Seitenstraßen von Lambeth das Haus erreicht hatte, in dem sich seine bescheidene Unterkunft befand, war er vor der Haustür auf Dick Calder gestoßen, mit dem er sich angefreundet hatte.
Dick Calder war von Beruf Journalist, vierzig Jahre alt, hatte sich aber bei seinem stark entwickelten Unabhängigkeitsgefühl nie dazu entschließen können, eine Dauerstellung anzunehmen, die ihm oft genug von den großen Tageszeitungen angeboten wurde. Mit seiner Fähigkeit, Dinge und Menschen in packender Weise zu schildern, war es ihm immer möglich, Kurzgeschichten oder Artikel unterzubringen, die gut honoriert wurden. Er studierte das Leben, wie er sagte, aber es war das Leben in den Armutsvierteln der Großstadt, in den gewöhnlichsten Schenken, in der Unterwelt, das ihn interessierte und seine scharfen, geistreichen Artikel veranlasste.
Freunde hatte er überall, und bereitwilligst teilte er den letzten Schilling in seiner Tasche mit einem weniger glücklichen Menschen. Calder führte Jim durch zahllose kleine Straßen und erzählte dabei von seinen Erfahrungen in diesen Kreisen. Jim hielt es für richtiger, sein eigenartiges Erlebnis im Zuge für sich zu behalten. Der Gedanke an die fünf Pfund in seiner Tasche war ihm nicht angenehm. Er wusste, Dick Calder würde mit seinen eigenartigen Anschauungen dies Geld als ein »Geschenk des Himmels« betrachten, das möglichst schnell vergeudet werden müsste. Keine Schwierigkeit für Dick, ein halbes Dutzend gleich gestimmter Seelen zusammenzufinden... eine tolle Nacht würde folgen, die sehr wahrscheinlich auf der Polizeiwache ihr Ende finden würde. Dick war nun einmal so!
Jim war nicht geizig oder engherzig, aber von Natur aus überlegend und - hatte seinen Stolz. Das Geld war geliehen. Vielleicht würde er es nie zurückzahlen können, aber auch sicherlich nicht anrühren, wenn er nicht unbedingt musste. Irgendwie hatte ihn Wantages überlegenes, zynisches Lächeln verstimmt.
Vor der Tür neben einem kleinen Laden machten sie halt. Calder klopfte kurz, und die Tür öffnete sich. Sie gingen einige Stufen hinunter und fanden sich in einem langen, kellerartigen Gewölbe, in dem an kleinen Tischen eine ganze Anzahl Menschen saßen. Die Luft war erdrückend. Tabakswolken, Geruch von ranzigem Fett und gekochtem Gemüse. Dick schob sich durch die Menge und fand in der einen Ecke noch einen unbesetzten Tisch, an dem die beiden Platz nahmen.
»Hat keinen Zweck, Kaviar oder frischen Hummer zu bestellen«, lachte Dick. »Du wirst einen Teller Gemüse mit einem Stückchen Fleisch und eine dicke Scheibe Brot erhalten und dasselbe noch einmal, wenn du darum bittest.«
»Was ist denn das hier?«, fragte Jim. »Eine Art Heilsarmee-Küche?«
»Ja, aber das Heil wird hier unter anderem Titel serviert«, grinste der Journalist. »Das ist mein Club, und einmal wöchentlich gibt es Freiessen, wenn man einen Gast mitbringt, dessen Seele vielleicht noch gerettet werden kann.«
»Und der Grundgedanke ist?«
»Ja, alter Junge, das lässt sich schwer beantworten. Der Gründer des Clubs, sicherlich ein Mann mit besten, idealen Absichten - ich kenne ihn selbst nicht - hat es sich in den Kopf gesetzt, den Ärmsten der Armen dieses Viertels einen Platz zu schaffen, wo sie warm und ruhig sitzen können, wo sie freie oder sehr billige Mahlzeiten erhalten - so eine Art Asyl weißt du - und wo ab und zu Vorträge von Menschen gehalten werden, die ebenso harmlos und lebensfremd sind wie der Gründer selbst. Aber warte mal einen Augenblick...«
Dick verschwand hinter einem Vorhang und erschien bald mit zwei gehäuften Tellern. Die Speise roch stark nach Zwiebeln, war aber für einen hungrigen Menschen verlockend genug. Beinahe hundert Männer und vielleicht zehn Frauen speisten in dem langen Gewölbe. Die meisten machten keinen vertrauenerweckenden Eindruck und sahen heruntergekommen aus. Alle waren emsig mit ihrer Mahlzeit beschäftigt; Sprachen aller möglichen Länder ließen sich hören. Im Hintergrund des Raumes erhob sich eine niedrige Plattform.
Calder unternahm eine zweite Reise und kehrte mit zwei Glas Bier zurück.
»Getränke müssen bezahlt werden«, erklärte er, »aber heute bin ich derjenige, welcher... Prosit!«
Jim war zu hungrig, um sich um die Güte der so freigebig gespendeten Mahlzeit viel zu kümmern.
»Wenn eure Anschauungen hier genau so scharf sind, wie die Gewürze...« - er blickte auf seinen Teller - »...müsst ihr eine ziemlich gefährliche Gesellschaft sein. Erzähle weiter.«
»Warte noch ein paar Minuten, und du wirst vielleicht etwas zu hören bekommen«, erwiderte Calder. »Es ist bedauerlich, dass dieser aus wirklich menschenfreundlichen Motiven gegründete Club so langsam zu einem Treffpunkt von Menschen geworden ist, die nichts mehr zu verlieren haben, und damit zu einem Deckmantel, unter dem sich neben tatsächlich Bedürftigen auch Hochstapler und Verbrecher verstecken. Ich würde im Buckingham Palast oder beim Erzbischof von Canterbury essen, wenn man mich einlädt, aber ich bin vor allem ein Apostel der Neugierde, ich möchte meine Nase überall hineinstecken, und für mein bisschen Geld bekomme ich hier mehr zu sehen und zu hören als sonst wo.«
Jim ließ seine Augen durch den überfüllten Raum wandern, bis sie auf einer Gesellschaft am Nebentisch haften blieben. Der Mittelpunkt dort schien ein kleiner fetter Mann zu sein, dessen Kopf fast ohne Hals auf den breiten Schultern saß, und der mit kleinen verschmitzten Augen um sich sah. Die dicht behaarten Hände der sehr langen Arme lagen grob und stark auf dem schmutzigen Tisch.
»Auf unsere Nachbarn passt deine letzte Bemerkung meiner Ansicht nach ausgezeichnet«, flüsterte Jim und wies unauffällig mit dem Kopfe nach dem Nebentisch. »Du lieber Himmel! Dem Mann und seiner Begleitung möchte ich wirklich nicht in der Nacht begegnen.«
»Da hast du recht«, gab Calder ebenso leise zurück. »Das