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Tintenspuren
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eBook441 Seiten5 Stunden

Tintenspuren

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Über dieses E-Book

Eine Geschichte über Familiengeheimnisse und Lügen, die die Zukunft einer Nation mitreißen können.

Nach dem Tod seines Großvaters erbt Jonas eine verlassene Druckerei und eine Geheimnisvolle Botschaft. Ab diesem Moment wird er sich in ein Netz von Verschwörungen verwickelt sehen, die über Generationen hinausgehen, und wird ein tödliches Geheimnis lüften müssen, dass seit Zeiten der Franco-Diktatur verborgen ist.

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Nov. 2018
ISBN9781547557479
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    Buchvorschau

    Tintenspuren - Antonio J. Fuentes García

    TINTENSPUREN

    A.J. FUENTES

    Für meine Mutter,

    die mir ein Buch in die Hände drückte

    als ich noch kaum lesen konnte,

    und mich so zur Entdeckung neuer Welten führte.

    Vorbemerkung

    In diesem Roman wurden Namen, Orte und Taten geändert. Also ist nichts wahr... bis auf Einiges.

    Prolog

    Madrid, 1965

    Villa des Marquis von Alella, Villanuevastraße

    Obwohl die Villa riesig war, fand er den Eingang zum Foyer, wo ihn zwei abstoßende Statuen empfingen: halbnackte Gipsfrauen, die ihm eingefrorene, dreckige Blicke warfen. José María schätzte die Kunst, konnte aber die Selbstgefälligkeit der begüterten, vermotteten Spanier nie verstehen, die sich immer wieder von Werken umgaben, die an der Geschmacklosigkeit grenzten. Ihm entgegen kam eine Zofe —kaum älter als ein Mädchen— in einer abscheulichen, erniedrigenden Uniform, von einer Kappe gekrönt, die auf ihren kleinen Kopf wackelte. Das Gesamtbild war eher komisch als formell.

    Darf ich Ihnen helfen, mein Herr? sagte sie, leise und demütig.

    Natürlich. Ich bin José María Millán stellte er sich vor. Ich bin mit dem Marquis verabredet.

    Sie meinen, Don Julio von

    Ja, ja, genau unterbrach er, bevor sie mit der endlosen Litanei der Adelstitel fortfahren konnte. Wärst du so nett, ihm Bescheid zu sagen, ich warte indessen hier.

    Er pflanzte sich militärisch —und ein wenig theatralisch— auf und gab ein riesiges Lächeln von sich, mit der Absicht, das junge Küken zu beruhigen. Es schien zu wirken, denn sie lief weg, vielleicht um ihren Auftrag zu erfüllen, vielleicht um von den Augen dieses großen Mannes zu entkommen, mit walrossartigem Schnurrbart und unverschämtem Blick. Während er wartete, sah sich José María in der riesigen Halle um. Am Ende führten zwei beeindruckende Marmortreppen halbspiralig in die zweite Etage hinauf. Und noch einmal musste er an die krassen Klassenunterschiede im Spanien der Nachkriegszeit denken.

    Eine halbe Stunde nachdem die Zofe ihn im weiträumigen Foyer verließ, ohne Stühle, wo er sich setzen könnte, erschien endlich Julio Muñoz, Marquis von Alella —und wer weiß, wie viele andere Titel.

    Er versuchte, die Gangart der Altreichen zu wiedergeben, schaffte es aber nur bedürftig. Braunes Seidenhemd von einer blassenrotweinfarbigen Veste umwoben, unten von tadellosen, teuren Hosen und italienischen Slippers ergänzt. Ein feines, dünnes Schnurrbärtchen (nach europäischer Mode) verschmutzte für José María den Gesamtanblick von Don Julio. Und als er ihn mit gewölbten Beinen schwunglos gehen sah, konnte er nur an den Spruch seiner lieben Mutter denken: der Aff‘ mag sich in Seide kleiden, bleibt trotzdem ein Aff‘...

    Einen wundervollen guten Tag, grüßte der Marquis, obwohl er José María nur einmal zuvor gesehen hatte. Was bringt Ihnen an diesem schönen Tag in mein bescheidenes Heim?

    José María hasste ihn genauso wie an dem Abend, wo er ihn zum ersten Mal traf, musste aber, seiner Arbeit wegen, höflich sein. Immerhin hing alles davon ab.

    Einen wundervollen guten Tag, Don Julio, antwortete er, mit einer kleinen Beugung. Ich hätte nur ein paar Fragen, der Jarabo-Affäre betreffend.

    Der Adlige runzelte die Stirn, ein Zeichen der Verachtung, dass José María sich nicht entgehen ließ.

    Tragisch, tragisch, würde ich sagen.

    Ja, ja.

    Sie wissen ja nicht, was das für... für unsereins bedeutet...

    José María spürte, wie sein Darm sich verrenkte. Er hielt jedoch den Atem an und wartete.

    Ich meine, dass ein Ehrenmann eine solche Grausamkeit begehen würde, nicht wahr? Ich meine, vom Pöbel kann man nichts anderes erwarten, aber von uns! Es ist ja nicht, als ob wir uns wegen Brotkrumen zerstechen müssten, nicht wahr? Unverständlich, würde ich sagen...

    Die Motive in dem Fall Jarabo hatten nichts mit Geld zu tun, erwiderte José María, in seiner geschliffensten Stimme. Es ist eher etwas... anderes zu vermuten.

    Damit hatte er den Köder freigelassen, und der Marquis biss wie erwartet. Nun musste er nur die Angelschnur aufsammeln...

    Aber eigentlich bin ich nicht wegen Jarabo hier...

    Der hochnäsige Aristokrat erhob eine Augenbraue, obwohl er nichts verstand. Sein Gesicht wurde, soweit es möglich war, hässlicher.

    José María nickte:

    Wie Sie wissen, arbeitete ich jahrelang für die Tageszeitung ‘El País’. Aber seither interessieren mich andere... sagen wir mal... Angelegenheiten.

    Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Herr Millán... Muñoz wurde langsam nervöser, ein feines Schweißtröpfchen fiel in seinem gewichstem Schnurrbart. Aber ich habe viel zu tun, also wenn Sie erlauben...

    Sagt Ihnen der Name Carmen Broto etwas? ließ José María auf einmal los. Denn ich befürchte, dass diese gesamte Jarabo-Affäre mich zum Mordfall des Fräuleins Broto führen wird.

    Der Marquis watschelte von einem Fuß auf den anderen. Ihm schien plötzlich jegliche Formalität egal zu sein. Natürlich verlor er jeden Anschein eines Kavaliers.

    Hören Sie, sagte er, ich weiß nicht, von welchem widerlichem Dreckblatt sie leben, aber lassen Sie Ihre Nase aus dem Spiel. Sie könnten sie verlieren.

    Ist das eine Drohung, mein Herr?

    Unsereins droht nicht der Marquis bemühte sich vergebens, ein ehrwürdiges Gesicht zu behalten, aber wir haben das Geld dafür.

    Damit wandte er sich ab und verließ das Foyer durch eine der vielen Türen, die in das Innere der Villa führten. Gleichzeitig, als ob sie auf diesen Augenblick gewartet hätte, erschien die Zofe eilfertig wieder. Sie stellte sich vor dem Gast und, extrem schüchtern, zeigte mit einer Hand den Weg zum Ausgang.

    Mach dir keine Sorgen, Kleines, ich kenne den Weg, sagte José María während er sie ansah. Sie konnte nicht älter als sechzehn sein, und war von einer ungezähmten Schönheit. Aber hüte dich vor deinem Herren, ja?

    Zum ersten Mal schaute sie dem Journalisten direkt an. Er sah in ihre mandelförmigen Augen etwas, was er nicht identifizieren konnte. Angst? Entschlossenheit, vielleicht?

    Wenn Sie erlauben... sagte sie, während ihre Hand in Richtung Ausgang drang.

    * * *

    Obwohl er nicht gerne trank, hatte sich José María von den Kollegen der Redaktion überzeugen lassen, und sie landeten in El Tapete, um sich mit lauwarmen Bier und Kalbsmagen in Tomatensoße vollzustopfen. Es war schon spät, als er sich, schon etwas beschwipst, verabschiedete. Seine Kollegen sangen alte Lieder mit erhobenen Krügen.

    Bleib doch ein bisschen, du Spaßverderber! riefen sie ihm zu, aber er lehnte das Angebot ab, als er merkte, dass es ihm schon schwer fiel, den Blick zu schärfen.

    Lieber gehe ich, Besoffene mag ich nicht leiden! scherzte er.

    Er konnte das Gelächter seiner Freunde noch hören als er in die erfrischende Mainachthinaustrat, die aller Voraussage trotzend sich als stürmisch erwiesen hatte. Unentschlossen, lief er die Severo Ochoa-Straße entlang, bis Candilejas, und von dort durchquerte er die engen Gassen von Peleterías. Er war schon fast an der Gran Vía angelangt, als er von hinten überrumpelt wurde und auf dem Boden fiel. Bevor er sich fragen konnte, was geschehen war, packten ihn zwei drahtige Hände beim Nacken und warfen ihn in eine dunkle Gasse. Dort wurde er niedergeprügelt. Die Nase zerbrach unter einer Faust. Ein paar Zähne wurden aus blutigen Lippen hinausgeschleudert. Ein Tritt im Bauch leerte auf Anhieb die vor Angst gelähmten Lungen. Halb geblendet, konnte er nur knapp ein Gesicht ausmachen, von Schatten und Baskenmütze umgeben. Der Angreifernahm etwas aus einer Tasche, die von seinem Gurt hing. Ein metallischer Blitz in der Dunkelheit. José María wusste, was passieren würde noch bevor es geschah, aber er konnte nicht verhindern, dass zehn Zentimeter Toledostahl sich in seinen Darm eingruben. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann lag er auf dem Pflaster und sah, wie die Schuhe seines Angreifers in die Finsternis verschwanden. Langsam schlossen sich seine Augen.

    1

    Er gab das Zeichen, und das kleine rote Licht sagte ihm, dass die Aufnahme begann. Er komponierte sein tausendmal erprobtes Gesicht und fing zu sprechen an. Er bewegte sich langsam, damit die Kamera ihn folgen konnte, aber nicht zu langsam, um unnatürlich zu erscheinen. Als er mit seinem Aufsager fertig war, seufzte er, überdrüssig, und wandte sich an den Mann hinter der Kamera.

    Dachteste in der Uni, dass du irgendwann über einen Haufen scheißgefüllter Politiker berichten würdest? fragte er, säuerlich. Der Kameramann, ein strammer Kerl mit mehr Haar im Gesicht als auf dem Kopf, machte eine Miene.

    Ach, mein Jonas, das vergisste immer... Ich war nie in der Uni, wie ihr reichen Buben, scherzte er, also ist diese Scheiße das Paradies für meine kläglichen Erwartungen...

    Echte schlechte Jungs sagen nicht ‘kläglich’. Also, willste ruppig sein, dann achte auf deine Wortwahl, antwortete er, ihm in den Arm schlagend.

    Beide entfernten sich lachend vom Eingangstor des Parlamentshauses, wo sie gerade über die Sitzung der Fraktionsleiter berichtet hatten, die sich immer noch nicht entschließen konnten, in welcher Koalition sie Spanien regieren wollten. Wie immer wenn sie in Madrid tätig waren, ließen sie ihr Arbeitsgeschirr in der kleinen Nissan Vanette und schickten der Redaktionsleiterin im Sender eine SMS in der sie versprachen, das Interview in der nächsten Stunde zu liefern, um den Endschnitt des Beitrages zu ergänzen und korrigieren. Falls irgendetwas nicht verständlich wäre, dann würde Jonas im Studio noch ein zusätzliches Kommentar aufzeichnen, um den Aufsager abzurunden. Ja, die Vorteile, nicht live zu sein...

    Sie gingen zum Pavillon —ein Café, das bei den Abgeordneten wegen der vielfältigen Dessertauswahl beliebt war— und bestellten das Übliche.

    Einmal Kaffee mit Magermilch und Süßstoff, sagte Juandi, der Kameramann.

    Jonas blickte ihn mokant an, und sein Freund entschloss sich, sich diesmal die übliche Litanei zu sparen. Seit einigen Monaten hatte Juandi für sich einige etwas komische diätetische Normen festgelegt. Darunter den Kaffee immer mit Süßstoff, zum Essen nur Wasser oder Coca Cola Zero und, obwohl er sie liebte, nichts von Torten oder andere Süßigkeiten. Aber gleichzeitig zögerte er nicht, einen gesamten Madrider Eintopf zu verschlingen, mit extra Kichererbsen und Speck. Laut ihm, war das die Proteinmenge, die ein Körper seiner Größe brauchte. Jonas, der zu den Glücklichen zählte, die die Linie behielten, egal was sie aßen, machte sich immer wieder über seinen Kameraden lustig.

    Mir gibst du ein Cortado mit Kondensmilch, Klara, und... er wandte sich mit einem perversen Lächeln seinem Freund zu, ... vielleicht ein Stück vom tollen Schokoladenkuchen da, ja?

    Das Mädchen hinter der Theke lächelte strahlend und machte sich daran, die Bestellung zu erfüllen. Juandi murrte etwas zwischen den Zähnen.

    Was sagste?

    Nichts.

    Aber ja doch, Kollege, du hast was gesagt, bohrte Jonas nach. Sei nicht feige, heraus damit!

    Der Riese drehte sich im Hocker um und warf seinem Freund einen mürrischen Blick.

    Ich sagte, erwiderte er, jedes Wort betonend, dass mich Gott mich mit dem Glück segnen möge, da zu sein wenn dein Bauch wie der einer siebenmonatigen Schwangeren aussieht.

    Abscheulich, den Anderen Böses zu wünschen.

    Mein lieber Jonas, du weißt, dass ich eine gute Person bin, aber du schaffst es immer, das Schlechteste von mir hervorzubringen.

    Jonas lachte laut, und es schallte im leeren Café. Er klopfte mit offener Hand auf dem starken Rücken seines Freundes. Sie konnten die Formen vergessen: das Café würde zwar in ein paar Stunden proppenvoll sein, aber jetzt waren nur sie beide und die Kellner da.

    Weißt du, ich bin von diesem Kram müde, sagte er dann, seine Miene ernster. Die ganze Scheiße. Die Füllerberichte, Rasereien durch die Stadt, um vom jeweiligen Korrupten ein paar Worte herauszuzwingen, die halben Wahrheiten, die politisch korrekten Korrektionen...

    Jo, Kumpel, was willste denn? Bist doch Journalist.

    Die Kaffees kamen. Klara wartete auf den üblichen Kompliment von Jonas, aber es kam nicht: wenn er von seiner Arbeit sprach, vergaß er die Höflichkeit.

    Etwas anderes, Juandi, ich will etwas anderes! Seine Stimme wurde lauter, heißblütig. Ich wurde Journalist weil ich, was weiß ich, eine andere Art von Journalismus erwartete.

    Jonas, diese ‘andere Art’, die dein Großvater machte, gibt’s nicht mehr.Juandi erwiderte während er seinen Kaffee umrührte. Er wußte genau, was kommen würde: dieses Gespräch hatten sie schon oft geführt.

    Wie, ‘gibt’s nicht mehr’? Echte Forschung! jetzt wurde er leidenschaftlich. Echter Journalismus, echte Berichterstattung!

    Das wird noch gemacht.

    Ja, klar, aber nur in Dokumentarfilme über chinesische Fabriken oder betrügerische Geschäftsleute, und sonst nirgends! Ich meine, eine Nachricht festzuhaken, recherchieren, am losen Faden ziehen und nicht loslassen, bis der gesamte Knoten uneingeschränkt bloßgelegt werden kann!

    Juandi schlürfte seinen Kaffee.

    Dann haste den Beruf verwechselt. Das, was du sagst, tut die Polizei.

    Jonas ließ ein bestürztes Schnauben los, sein stumpfsinniger Freund brachte ihn aus dem Häuschen. Er griff zur Gabel und schnitt sich ein Mundvoll Schokoladenkuchen. Er aß es, demonstrativ, damit Juandi es gut sehen konnte. Das Thema reizte ihn sehr, und der große Kameramann half nicht. Er schmatzte laut und nach dem Schlucken seufzte er, behaglich. Sein Freund knurrte neben ihm.

    Warum haste dann die Zeitung verlassen?, sagte Juandi mit absichtlicher Grobheit: er wußte, dass er damit den Finger in die Wunde steckte.

    Ist das dein Ernst? Jonas stoppte die Kaffeetasse halbwegs zum Mund. Willste mich an der Nase herumführen?

    Der Sold war gut der Kameramann ließ nicht locker. Er schätzte seinen Freund, aber manchmal machte es Spaß, ihn zu ärgern.

    Ja, klar, um zu schreiben, was andere diktieren!

    Dein Alter zieht doch mit,Juandi hielt sich nicht zurück. Das war die Rache für den laut gekauten Kuchen. „Ob du willst oder nicht, der Familienname wiegt schwer."

    Jonas fühlte das Feuer in sich entfachen. Aber er wollte nicht weiter hereinfallen. Er atmete tief und brachte die Tasse den Rest des Weges zu seinen Lippen. Er trank lang.

    Bin ja ein reicher Bub, sagte er schließlich, spöttisch. Haste selbst gesagt.

    Damit war die Rache komplett, entschied Juandi. Er kannte Jonas seit den Zeiten, wo dieser in der Uni war, und wußte, was es ihm kostete, die Ruhe zu wahren, als man über seinen Vater sprach. Er lächelte, besänftigend.

    Also, wirste die heiße Schnitte heute sehen?

    Es war bekannt, dass Jonas etwas mit einer bildschönen Berichterstatterin hatte.

    Die Mar? Glaub ich nicht. Das letzte Mal endete es nicht so doll...

    Plötzlich bimmelte Jonas’ Handy. Er zog es aus der Hemdtasche und schaute auf dem Display. Die Nummer darauf ließ ihn für einen Augenblick kalt. Juandi sah ihn besorgt an, auf einmal befürchtete er, dass er die Sache zu weit getrieben hatte und dass sein Freund nun einen Herzschlag bekam.

    Wenn man vom Teufel spricht... sagte Jonas leise und tappte auf den grünen Knopf, um den Anruf zu beantworten. Was gibt’s, Vater?

    Juandi verschluckte sich mit dem Rest seines Kaffees. Es war schon über drei Jahre her, dass Jonas die Zeitung verließ. Seitdem hatte er nicht mit seinem Vater gesprochen.

    Jonas nickte.

    Ja. Und meine Mutter?

    Er hörte zu, nickte noch ein paar Mal. Danach, ohne sich zu verabschieden oder irgendetwas zu sagen, legte er auf.

    Was ist? fragte Juandi. Deine Mutter ok?

    Die Beziehung mit seiner Mutter war besser, obwohl sie selten miteinander sprachen, zu Weihnachten, bei Geburtstagen, oder sonstiges. Sie wohnten in der gleichen Stadt, und doch war Jonas schon über ein halbes Jahr nicht im Elternhaus gewesen, und das letzte Mal nur, weil er wußte, dass sein Vater in Barcelona war.

    Was? Ach, ja, ja, ihr geht’s gut. Es ist mein Großvater.

    Er sah bedrückt aus, sein Freund befürchtete das Schlimmste. Wenn Jonas jemandem schätzte, so war es sein Großvater.

    Juandi, ich muss dich um einen Gefallen bitten. Kannste den Bericht von heute fertigschneiden und abliefern?

    Null Problem, Alter, antwortete Juandi. Aber sag doch, was ist passiert?

    Ich ruf Raquel später an, aber ich muss mir ein paar Tage nehmen... Jonas’ Stimme klang, als ob er nicht mehr da wäre. Kannste ihr Bescheid sagen?

    Klar doch, seit du im Sender angefangen hast, haste keine Ferien gemacht. Raquel wird sogar erleichtert sein.

    Jonas lächelte wesenlos und bat Klara um die Rechnung. Er bezahlte, umarmte seinen Freund und wandte sich ab.

    Wo gehste hin?Juandi wurde nun wirklich bang. Er bereute es, seinem Freund so verärgert zu haben. Muss ich mir Sorgen machen?

    Nee, natürlich nicht, Jonas versuchte zu lächeln, schaffte es aber nicht ganz. Ich geh nach Hause.

    2

    Er beschloss, den Zug im Bahnhof der Neuen Ministerien zu nehmen. Atocha lag näher, aber dort war das Gewimmel immer viel zu groß. Er ging zu Fuß, um den Kopf zu klären.

    Er kaufte einen Fahrschein 2. Klasse, lehnte das Angebot ab, die Rückreise zum halben Preis gleich zu erstehen. Das Mädchen an der Kasse empfahl ihn den AVE-Zug, aber er wählte den älteren und langsameren Altaria: er brachte ihn sehr gute Erinnerungen. Auch lehnte er die direkte Route nach Lorca ab; er war von einer seltsamen Melancholie ergriffen und wollte deswegen den gleichen Weg nehmen, den er seit den Sommerzeiten seiner Kindheit kannte. Er erinnerte sich, wie sie damals, mit prallen Taschen und Koffern vollbeladen, den Zug bis zum Bahnhof El Carmen nahmen, mitten in der Provinzhauptstadt Murcia. Dort, im kleinen Stationsgebäude und falls er im Zug artig war, erlaubten ihm seine Eltern sich ein riesiges Eis zu kaufen, mit vielen bunten Kugeln. Dieses Ritual wurde zum einzigen Moment seiner Kindheit, wo er wirkliche Nähe zu seinen Eltern empfand. Nichts anderes machte ihn so glücklich und beflügelte ihn so sehr, wie diese Reisen zum großväterlichen Haus. Wenigstens nichts, wo er und seine Eltern zusammen waren. Kurz darauf nahm sein Vater den Posten des Chefredakteurs in der Zeitung La Razón an, und das Glück ging für immer verloren.

    Als der Zug den Bahnhof verließ und in der Leuchttafel die Liste der kommenden Stationen erschienen, klappte Jonas sein Tischchen auf und schloss seinen Laptop an. Ein schneller Blick auf die Schlagzeilen der wichtigsten Zeitungen bewies ihm, dass ganz Spanien mit dem gleichen Thema befasst war: die Sitzung der Fraktionsleiter vom Morgen und der Mangel an Konsens unter ihnen. Noch einmal fühlte er eine tiefe Verachtung für den Stand des Journalismus in seinem Land. Er schaute auf, die Leuchttafel zeigte an, dass sie in etwa vier Stunden vierzehn Minuten in Murcia ankommen würden. Jonas packte den Laptop wieder ein, schaltete sein iPod an, und schlief ein.

    Er wachte mit einem Ruck auf, als die Zuglautsprecher das Ende der Route ansagten. Er hatte die gesamte Reise verschlafen, was nicht zu ihm gehörte. Wenn er im Zug schlief, dann nur für ein paar Minuten, ein Nickerchen gegen das Fenster angelehnt. Die Zugbremsen knirschten über dem Gemurmel der Passagiere. Noch dusselig, wartete Jonas bis der Rest des Wagons sich geleert hatte bevor er aufstand. Als er sich streckte, um sein Köfferchen zu nehmen, merkte er, dass er von der schlechten Sitzposition nach vier Stunden wund war. Er hatte es schwer, den Blick zu schärfen.

    Wie kann es sein, dass ich durchgeschlafen habe? dachte er. Langsam werde ich alt.

    El Carmen hatte sich sehr verändert in den zwölf Jahren seit dem letzten Mal als er dort abgestiegen war. Wenig, fast gar nichts blieb vom kleinen Bahnsteig, und obwohl der Hauptbahnhof von Murcia noch lange nicht zu den wichtigsten des Landes zählte, so war er gewachsen und hatte sein Aussehen wesentlich gesäubert, im Gegensatz zu anderen, größeren aber älteren Stationen. Ein wenig verwirrt, suchte er die Schalter für die Regionalzüge und kaufte dort einen Einwegfahrschein nach Águilas. Ein großer Bildschirm gab die Abfahrtzeiten wieder, sein Zug fuhr erst um 15:45, also hatte er etwas über eine Stunde Wartezeit. Er beschloss, etwas zu essen, da er seit dem Kaffee-und-Schokoladenkuchenfrühstuck nichts zu sich genommen hatte und ausgehungert war. Er suchte die Eisdiele seiner Kindheit und musste bestürzt feststellen, dass sie nicht mehr existierte. Ihr Platz war jetzt von einem kleinen Bazar besetzt, dessen Motto lautete: Wenn wir’s nicht haben, existiert’s nicht. Er fand ein Pans&Company und bestellte ein leckeres Brötchen mit Schinken, Speck und Schmelzkäse. Während er aß, checkte er ein paarmal sein Handy. Von Anrufen und Meldungen keine Spur. Besser so, dachte er, obwohl er aus irgendeinem Grund, den er nicht erraten konnte, etwas enttäuscht war. Zehn Minuten vor Abfahrt des Regionalzuges saß Jonas drin, melancholisch aus dem Fenster schauend.

    * * *

    Der Bahnhof von Águilas war auch etwas größer geworden, aber sonst fand ihn Jonas genauso vor wie in seiner Kindheit. Die winzige Kneipe, die Prellböcke und die unbenutzten Abstellgleise mit den alten, ausgedienten Wagons, die ewig darauf warteten, in Ersatzteile für neuere Wagen zerlegt zu werden.

    Jonas erwartete zwar kein Willkommenskomitee, aber diese Verlassenheit war erdrückend. Er war der einzige, der aus dem Zug stieg, obwohl Águilas die letzte Station der Route war. Keine Seele auf dem Bahnsteig, niemand in der Kneipe —außer dem gelangweilten Besitzer, der seinen Blick nicht von seiner Sportszeitung erhob. Draußen stieß ihm eine pralle Sonne entgegen. Überrascht sah er, dass es nicht einmal geparkte Autos gab. Zwar stimmt es, dass man in Murcia um vier Uhr nachmittags im Juni keine Menschenmengen auf der Straße erwarten konnte, aber diese Leere war desolat. Er ging an der Bushaltestelle vorbei zum kleinen Taxistand. Der mürrische Fahrer fragte grob nach der Adresse, und als Jonas sie ihm gab, hörte er fast, wie der Fahrer leise fluchte. Als das Taxi vor der Altersresidenz Beglücktes Leben anhielt, spürte Jonas einen Knoten im Magen: vor dem Straßentor stand der Mercedes seiner Eltern.

    3

    Die Residenz war ein modernes Gebäude aus blaßweißem Backstein, umgeben von einer beeindruckenden Gartenanlage, die so weit reichte, wie das Auge sehen konnte. Jonas war von der schieren Größe und Weitläufigkeit der gesamten Anlage überkommen.

    Er meldete sich über der Sprechanlage am Straßentor an, sagte sein Name und der Name der Person, die er besuchen wollte. Umgehend ging das Tor auf und er betrat das Grundstück. Den Pfeilen folgend ging er an einem Steinweg entlang, durch einer Allee schlanker Eukalypten, bis er zum Haupteingang gelang. Dort war eine andere Sprechanlage, wo er die Szene vom Straßentor wiederholte, damit man ihm einließ. Jonas konnte auf einmal den Eindruck nicht loswerden, dass er nicht in einer Altersresidenz, sondern in einem Höchstsicherheitsgefängnis war.

    In der Rezeption sagte man ihm, er solle bitteschön den Flur rechts bis zum Ende folgen, und dann im Fahrstuhl zur vierten Etage, dort wären die Zimmer. Mehr als einmal musste er unbequem den Blick abwenden, um die inspizierende Augen der Greisen zu weichen, die im Flurwie Statisten in einem typischen Zombiefilm bummelten. Jonas machte den Fehler, in ein Zimmer nahe der Fahrstühle zu schauen, wo eine Gruppe Hundertjähriger in Sesseln zusammengedrängt dahinvegetierte: vielleicht warteten sie auf eine Schwester, die ihnen was zu essen bringen, oder sie in den Garten zum Spaziergang hinausrollen würde... Der Anblick und der Gedanke, sein Großvater könnte in diesem Saal sein, schauderte ihn.

    Die vierte Etage war ganz anders als die Säle im Parterre: die dunklen, matten Töne wurden von einer Palette aus Grün und Rosa ersetzt, die dem Ort etwas mehr Leben gab. Die Möbel hier würden vom Design her eher in ein Art-Decó Hotel als in ein Altersheim passen, es duftete nach frischen Blumen: am Flur entlang waren kleine Lufterfrischer jede drei oder vier Meter angebracht. Das Fräulein in der Rezeption hatte ihm die Zimmernummer 246 gegeben, die am Ende des Flurs war. Auf dem Weg traf er ein altes Pärchen, die ihn mit Kopfnicken begrüßten. Sie waren elegant gekleidet und schienen, ein Geheimnis hüten zu wollen, denn sie kicherten und zischelten untereinander, wollten sich gegenseitig zum Schweigen bringen. Als ihn nur ein paar Meter vom Zimmer seines Großvaters trennten, spürte er plötzlich ein Unbehagen in den Hoden, dass sich langsam durch den Magen stieg und sich in der Brust einnistete. Da stand er nun, im Flur eines Altenheimes in der Provinz, wo er aufgewachsen war, und auf einmal war er von der quälendsten Panik ergriffen, die er in seinem Leben empfunden hatte. Von dort konnte er den teuren, konservativen Parfüm seines Vaters riechen, gemischt mit den paar Tröpfchen, die seine Mutter hinter den Ohren tupfte, "á la Marilyn", wie sie scherzte. Dort, mit einer Hand fest am Herz fassend, schien es ihm, das Gelächter seines Großvaters zu hören, als Jonas damals die Angelschnur ins Wasser schwingen wollte und sie sich stattdessen zwischen den Steinen festklemmte. Für einen Augenblick dachte er wirklich, er kriegt jetzt ein Herzschlag, bis dieser heiße Klumpen seine Brust verließ, um bis zur Kehle weiterzuklettern. Die Luft fehlte ihm, und die grellen Wandfarben schienen zu verdunkeln. Auf einmal erinnerte er sich, dass er so etwas schon gespürt hatte und versuchte, sich zu beruhigen. Er ließ beide Arme neben dem Körper hängen, erhob den Kopf und schloss die Augen. Er atmete laut durch die Nase ein und langsam aus dem Mund aus. Dies wiederholte er einige Male, versuchte nicht daran zu denken, dass ein paar Meter weiter, in diesem Residenzzimmer, seine stärksten Ängste versammelt waren. Er wußte nicht warum, und es störte ihn sehr, aber sein Vater hatte diesen zerschmetternden Effekt auf ihn. Sie konnten sich nicht leiden und Jonas hätte das egal sein sollen, aber auf irgendeiner unerklärlichen Weise konnte ihn Antonio José Ulloa mit einem Blick auf die Zeit zurückversetzen, als er sechs war. Dazu kam noch seine Sorge um der Gesundheit seines Großvaters, der einzige Mann in seinem Leben, den er wirklich liebte und ehrlich respektierte. Jede Erinnerung, die er von diesem Mann hatte, bedeutete für ihn ein Stückchen Kindheitsglück.

    Langsam kehrte seine Seele in den Körper zurück, er fühlte, wie die Luft seine Lungen füllte. Diese Panikattacken waren sehr selten in ihm, aber sie kamen vor. Er hatte sie gehabt, als er die Abschlussprüfungen für sein Abitur machte, dann am Ende seines Unistudiums, bei seinem ersten Bewerbungsgespräch und, natürlich, auch das eine oder andere Mal, als er schon bei der Zeitung war und mit seinem Vater besonders heftig diskutierte. Nach einer solchen Episode beschloss er, mit dem Yoga anzufangen und seitdem war die Meditation Teil seiner Routine. Er öffnete die Augen und sein Puls beschleunigte sich sofort wieder. Er zuckte, sprang dabei sogar ein bisschen nach hinten. Vor ihm, gerade ein Meter weg, stand ein Mann mit hartem Blick. In seinen dunklen Augen funkelte auch ein Schimmer Unmut.

    Jonas.

    Antonio José.

    Sie sahen sich ein paar Sekunden stumm an, Jonas konnte sofort merken, dass es seinem Vater immer noch störte, von ihn beim Namen gerufen zu werden. Seine viel zu feinen Lippen verdrehten sich und er drehte sich um, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Jonas wußte nicht warum, aber er hatte den Eindruck, dieses erste Gefecht verloren zu haben. Er folgte seinem Vater zur Zimmertür. Vor dem Eintreten hielt sein Vater an, wandte sich ihm zu und bremste ihn mit der Hand auf der Brust.

    Reg ihn nicht auf, befahl er. Er braucht deine Flausen nicht.

    Und verschwand durch die Tür, ohne Jonas die Möglichkeit einer Antwort zu geben.

    Das Zimmer war so warm und gemütlich, wie es ein Raum in einer Altersresidenz nun eben sein kann, so modern diese auch sei. Der Mangel an Persönlichkeit bestätigte, dass es, obwohl schöner als ein Krankenhauszimmer, doch nur ein provisorisches Heim war. Mitten im kleinen Raum war ein Bett, nicht zu groß, aber im Vergleich mit dem Körper, der darauf lag, schien es wie ein Fußballfeld. Auf beiden Seiten waren kleine Nachttische, voll mit Medizinflakons und Plastikbechern. Neben dem Bett saß seine Mutter auf einem unbequemen Holzstuhl. Als sie Jonas sah, stand sie auf und lief ihn mit offenen Armen entgegen. Jonas ließ sich von ihr umarmen, roch dabei ihren vertrauten, frischen Duft. Gleichzeitig aber konnte er die Augen nicht von seinem Großvater loslösen, der in seinem Bett nur halb so groß erschien, wie er ihn in Erinnerung hatte. Seine Vitalität war verschwunden, so wie seine stramme Gesundheit, und in den Augen, einmal von Sicherheit und Optimismus übergossen, regierte nun ein schlecht verschleiertes Leiden. Jonas wollte weinen, aber die Worte seines Vaters klangen in seinem Kopf: "Er braucht deine Flausen nicht." Er biss sich die Zunge, um sich zurückzuhalten.

    Mein Sohn! flüsterte seine Mutter ihm ins Ohr. Schick siehst Du aus.

    Danke, Mamma.

    Wann bist Du gekommen?

    Im... Zug, sagte er und merkte, dass die Beklemmung ihn hinderte, richtige Sätze zu formen. Grad eben...

    Hättest mit uns kommen sollen, schnitt sein Vater von der anderen Seite des Zimmers schroff ein. Mit dem Mercedes haben wir knapp vier Stunden gebraucht.

    "Er braucht deine Flausen nicht" sagte sich Jonas und hielt inne.

    Sanft befreite er sich von der Umarmung seiner Mutter und ging sachte auf das Bett zu, als ob er seinen Großvater nicht wecken wollte, obwohl er klar sehen konnte, dass er nicht schlief. Der alte Mann drehte langsam den Kopf, um ihn besser zu sehen, und Jonas spürte ein Schmerzstechen.

    Wie geht’s, Opa? fragte er mit gebrochener Stimme.

    Sobald sie mich rauslassen, geh’n wir fischen, Käpt’n.

    Jonas war froh zu sehen, dass die Krankheit Großvaters Sarkasmus und Genie nicht geschmälert hatte. Aber fast brach er in Tränen aus, als die tiefe, imponierende Stimme des alten Mannes durch unkontrolliertes Husten ersetzt wurde.

    Wie oft habe ich Dir gesagt, Du solltest mit dem Rauchen aufhören? tadelte ihn sein Sohn während er mit lauten Räuspern sein Atem wiederzufinden versuchte.

    Jones erhob den Blick und fand seinen Vater. Antonio José, als er sich beobachtet fühlte, verfasste eine würdige, anständige Geste, um wie üblich als ein redliches Mitglied der Gesellschaft zu erscheinen, eines mit tadellosem Einfluss.

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