Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Das Böse unter dem Mond: Ein Stableford-Krimi
Das Böse unter dem Mond: Ein Stableford-Krimi
Das Böse unter dem Mond: Ein Stableford-Krimi
eBook280 Seiten3 Stunden

Das Böse unter dem Mond: Ein Stableford-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Italien 1939: Sir Perceval Holmes und seine Frau überreden das Ehepaar Stableford zu einem Kurztrip nach Pisa. Doch schon am zweiten Abend stranden die Freunde bei Vollmond in einem winzigen Bergdorf. Als der englische Gründer der dort ansässigen Künstlerkolonie nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft tot auf dem Kirchplatz gefunden wird, beginnen die Vier zu ermitteln. Doch es gibt ein Problem: Alle in Frage kommenden Verdächtigen befanden sich zur Tatzeit hinter den Toren eines hermetisch von der Außenwelt abgeschlossenen Gutshofes. Ein unmöglicher Mord, schwärmt Holmes, während die Einheimischen den Teufel für den Täter halten, der einer Sage nach bei Vollmond durch die Gassen tanzt und jeden tötet, der ihm zu nahe kommt. Stableford hat für derlei Aberglauben nichts übrig, aber kann er vor ihrer Weiterreise den Mörder überführen?
SpracheDeutsch
HerausgeberDryas Verlag
Erscheinungsdatum12. Juni 2023
ISBN9783948483999
Das Böse unter dem Mond: Ein Stableford-Krimi

Mehr von Rob Reef lesen

Ähnlich wie Das Böse unter dem Mond

Titel in dieser Serie (7)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Historische Geheimnisse für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Das Böse unter dem Mond

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Das Böse unter dem Mond - Rob Reef

    Dramatis personae

    Besitzer des Kolonieanwesens:

    Maria Alfieri

    Davide Alfieri, ihr Gatte

    Lunatisten:

    Harry Mulligan, Maler

    Jane Bishop, Bildhauerin

    Miles Staunton, Maler & angehender Professor

    Christopher Loper, Maler

    Elsa Schmidtbauer, Bildhauerin

    Cyril Frampton, Maler

    Ava Frampton, Schriftstellerin, seine Gattin

    Hélène Pion, Malerin

    Alice Rey, Malerin

    Reisende:

    Don Piero Scacchi, katholischer Priester

    John Stableford, Literaturprofessor & Amateurdetektiv

    Harriet Stableford, geb. Taylor, seine Gattin

    Sir Perceval Holmes, Psychiater

    Lady Penelope Holmes, geb. Hatton, Psychoanalytikerin, seine Gattin

    Kapitel 1

    Die Irrfahrt

    »Verdammt!« Sir Perceval Holmes, der 3. Baronet of Durbar, schlug mit der flachen Hand auf die Motorhaube des knallroten BSA Scout und trat, vielleicht um diesen barbarischen Akt des freimütig zur Schau gestellten Unmuts zu kaschieren oder auch nur um einen spontan gefühlten Schmerz zu überspielen, anschließend beherzt gegen das linke Vorderrad des unter einem Olivenbaum geparkten Zweisitzers.

    Eine Gruppe von Staren flog auf und suchte erschrocken das Weite und das Singen der Zikaden war schlagartig verstummt. Penelope schüttelte den Kopf, während ihr Gatte leise vor sich hin schimpfend das fünfte Blatt der auf der Haube liegenden Straßenkarte des Touring Club Italiano zu glätten begann. Einmal mehr betrachtete der großgewachsene, hagere Mann den Plan und wandte sich dann endlich an John, der am Baumstamm lehnte und missmutig auf dem Mundstück seiner Bulldog-Pfeife herumkaute.

    »Es ist nicht auf der Karte eingezeichnet«, sagte Percy mürrisch.

    »Das bemerkten Sie bereits«, antwortete sein Freund nüchtern und Harriet setzte leise »mehrmals« hinzu.

    Penelope seufzte. »Um genau zu sein elf Mal in den letzten drei Minuten, Percy! Zumindest, wenn man die Variationen wie ›Es ist nicht da‹, ›Ich finde es nicht‹, ›Hier müsste es doch sein‹, ›Ich kann mir das nicht erklären‹ und ›Verdammt!‹ hinzuzählt.«

    Percy musste lachen und wirkte dabei noch mehr als sonst wie eine heitere Karikatur typischer Sherlock-Holmes-Illustrationen. »Es tut mir leid. Ich habe wohl die Contenance verloren und entschuldige mich bei euch allen dafür. Aber wenigstens sprichst du endlich wieder mit mir, Hattie!«

    Penelope schüttelte abermals den Kopf, wobei sich einige Locken ihres langen dunkelbraunen Haars in ihr Gesicht verirrten. In einer für sie typischen Geste warf sie den Kopf in den Nacken und sah auf einmal schon deutlich freundlicher aus.

    »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie das Dorf suchen, in dem sich Ihre Zielperson befinden soll?«, fragte John ruhig.

    »Sicher, aber es handelt sich tatsächlich um unsere Zielperson, Stableford! Mir ist bewusst, dass sich H. M. mit seiner persönlichen Bitte nur an mich wandte. Dennoch schien er beruhigt zu sein, als er hörte, dass Sie mich rein zufällig auf dieser höchst inoffiziellen Mission des Inlandsgeheimdienstes im Ausland begleiten könnten.«

    Harriet biss sich auf die Lippe, denn ihr war nur allzu klar, was H. M., den Chef des militärischen Geheimdienstes, dazu veranlasst hatte. Percy, mittlerweile fast 50 Jahre alt, war ein mutiger Mann. Ein Kriegsheld, der trotz seiner Tätigkeit als Psychiater ein eigenes Büro in Whitehall besaß. Er war als Johns Kontaktperson zugleich dessen Vorgesetzter, aber John war der eigentliche Kopf dieses Duos und hatte das schon einige Male eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Percy war voller Tatendrang, doch ohne Johns Navigationskünste oft verloren.

    Penelope sah das wohl genauso. Sie zog die Lippen zusammen, so als ob sie ein Schmunzeln zu unterdrücken suchte.

    Percy fuhr indessen unbeirrt fort: »Es heißt Quarazza und müsste ungefähr hier liegen.« Er zeigte mit einem langen dünnen Finger auf die obere rechte Ecke der Straßenkarte. »In Sarzana nahmen wir den Abzweig Richtung Aulla, folgten dann der Straße 63 und bogen etwa hier nach Bigliolo ab.«

    John trat näher, betrachtete die Karte und nickte.

    »H. M. meinte, wir würden von dort nach Agnino gelangen, einem Dorf ganz in der Nähe von Quarazza. Aber schon dieser Ort fehlt als Referenz auf der Karte.«

    »Sagten Sie gestern nicht, dass dieses Quarazza etwa in der Mitte eines angenommenen Dreiecks zwischen Licci­ana, Comano und Fivizzano liegen würde?«

    »H. M. sagte das, aber seine Beschreibungen der Lage des Dorfes, in dem sich diese vermaledeite Künstlerkolonie befinden soll, waren eher militärischer Natur. Er sprach von einem Weiler mit einer fast geschlossenen Bebauung und weniger als zwanzig Einwohnern, der am Hang eines bewaldeten Bergsattels auf circa 2000 Fuß liegen würde. Was soll man damit anfangen? Schließlich wollen wir Quarazza weder aus der Ferne beschießen, noch mit einem Bataillon zu Fuß erobern! Und was nützt uns eine angenommene Mitte, wenn wir keinen Weg finden, der uns dorthin führt? Schauen Sie sich die Gegend an! Es gibt hier kaum Straßen.«

    »Dennoch sollten wir, denke ich, diesen Hinweis beherzigen und uns einfach bei nächster Gelegenheit rechts den Hang hinauf schlagen. Haben wir nicht gerade einen Feldweg gekreuzt?«

    »Ist das Ihr Ernst, Stableford?«

    »Nun, ja! Es ist der einzige Weg, der uns in dieses angenommene Dreieck hineinführt. Und immerhin haben wir zwei Wagen. Einer wird die Steigung vielleicht bewältigen.«

    »Aber nur unser Bentley hat vier Sitze! Sollen wir auf Ihrer Persenning Platz nehmen, wenn unser Wagen schlapp macht?«

    »Dieses überschaubare Risiko müssen wir wohl eingehen, Holmes. Wir können nicht ewig ziellos umherfahren und auf ein Wunder hoffen. Das Benzin wird uns knapp und in weniger als drei Stunden geht die Sonne unter. Im Dunkeln haben wir gewiss keine Chance, Quarazza zu finden, meinen Sie nicht?« John atmete tief ein und fuhr dann fort: »Außerdem brauche ich bald eine Pause. Diese feuerrote Sardinenbüchse macht meinem Rücken zu schaffen und seit La Spezia plagen mich stechende Kopfschmerzen.«

    »Nun gut. Sie sehen wirklich etwas malade aus, mein Freund. Dann lasst uns also den Berg erobern! Mit etwas Glück könnte dort oben Agnino liegen.«

    Percy faltete das Kartenblatt zusammen und Harriet sah zu, wie er und Penelope in den dunkelgrünen Bentley 8 einstiegen, der nur wenige Yards von ihrem Roadster entfernt stand. Die Limousine wurde gestartet und rollte langsam rückwärts die Straße hinunter. Nach etwa einhundert Yards blieb sie stehen, um kurz darauf in den von John angesprochenen Feldweg einzubiegen. Das Getriebe krachte und man konnte Percys Fluchen hören, bis es von dem ohrenbetäubenden Motorengeheul verschluckt wurde, mit dem sich der Bentley bergauf zu quälen begann.

    Harriet folgte dem Schauspiel eine Weile und sah dann zu John hinüber. Der saß jetzt unter dem Olivenbaum und schien eingeschlafen zu sein. Seine entspannten Züge ließen ihn deutlich jünger als Mitte vierzig aussehen und selbst die markante Narbe über seiner rechten Augenbraue, die ihm sonst etwas Düsteres verlieh, vermochte dem Gesichtsausdruck der völligen Unschuld nichts anzuhaben. Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. Etwas Ruhe vor der hoffentlich letzten Etappe dieser absurden Odyssee würde ihm sicher guttun.

    Der Schrei eines Raubvogels ließ sie aufblicken. Er kreiste über dem bewaldeten Nachbarhügel und seine Silhouette, die sich scharf von dem wolkenlosen blauen Himmel abzeichnete, ließ sie auf einen Bussard tippen. Sie bewunderte die Anmut des Tieres. Plötzlich überkam sie, nicht zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch, wie aus dem Nichts ein tiefes Gefühl von Traurigkeit. Hinter jedem schönen Anblick, jedem freudigen Gedanken schien es zu lauern und offenbarte sich stets als die unendliche Sehnsucht nach ihrer Tochter Charlotte, die sie in einem Anflug von schwärmerischer Begeisterung leichtsinnig für ihren fünftägigen Ausflug in der Obhut ihrer Familie zurückgelassen hatte.

    Schuld an all dem war natürlich Percy! Wer sonst? Seine romantischen Schilderungen der italienischen Lebensart waren zu verlockend gewesen und seine Unbekümmertheit gegenüber allem Ernsthaften hatte sie nicht zum ersten Mal überrumpelt. Und jetzt? Jetzt waren sie im Nirgendwo gestrandet. Dabei hatte ihre Reise so vielversprechend begonnen!

    Harriet schloss die Augen und dachte darüber nach, wie es angefangen hatte. Nicht erst auf dem Kontinent. Nein. Angefangen hatte es eigentlich vor einem guten Jahr in Upper Biggins. Dort, auf der Geburtstagsfeier ihres Vaters, waren alle vier Taylor-Schwestern seit langer Zeit einmal wieder zusammengekommen. Und in einem jener schwesterlichen Momente, die Harriet immer an Jane Austen denken ließen, hatte Emily ihnen das erste Mal von Jacques Martin erzählt, einem mehr als wohlhabenden Hotelier aus Nizza.

    Die eigentlich eher spröde Emily hatte ihn auf einer Reise kennengelernt und sich bis über beide Ohren in den charmanten Franzosen verliebt. Als Jacques etwa drei Monate später in ihrer Begleitung nach Yorkshire gereist war, um offiziell um ihre Hand anzuhalten, hatte sich Harriets – und Emilys – Vater, der Vikar von Upper Biggins, aufgrund von Monsieur Martins katholischem Glauben allerdings zunächst skeptisch gezeigt. Doch da ihre Mutter Frankreich und alles Französische und der Vikar seine Frau und das gute Leben an ihrer Seite liebte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis auch er seinen Segen zu dieser Verbindung gegeben hatte und Emily mit ihrem Verlobten und dem Versprechen auf eine große Hochzeitsfeier an die Côte d’Azur entschwunden war.

    Dann, vor etwa drei Monaten, hatte Harriets Familie die Einladung erreicht. Tatsächlich hatte sich Jacques Martin nicht lumpen lassen. Er hatte einen ganzen Schlafwagen 1. Klasse des legendären »Train Bleu« angemietet, und so waren die Taylors mit drei Töchtern, zwei Schwiegersöhnen und drei Enkelinnen, von einem eigenen Steward wohlbehütet, von Paris nach Nizza gereist, nur um dort in dem nicht weniger luxuriösen Hotel des dritten Schwiegersohns in spe einquartiert zu werden. Die Stimmung war ausgelassen gewesen und die Vorfreude groß, als völlig unerwartet eines Abends Percy und Penelope in der Halle des Grand Hotel Splendid erschienen waren.

    Unerwartet? Harriet öffnete die Augen und sah zu John hinüber. Hatte ihn Percys Ankunft tatsächlich genauso überrascht wie sie? Oder hatte er womöglich schon etwas von diesem ominösen »Auftrag« gewusst?

    Nun, wie dem auch gewesen sein möge, Percy und Penelope hatten zur selben Zeit den Kontinent bereist und waren, da sie den Routenvorschlägen in Freestons »The Cream of Europe for the Motorist« gefolgt waren, ganz zufällig oder eben auch nicht ganz so zufällig ebenfalls in Nizza gelandet. Sie waren auf einer Art verspäteter Hochzeitsreise, denn aufgrund der Vorkommnisse auf Slane1 hatten sie diese zunächst auf unbestimmte Zeit verschieben müssen. Doch nun war es so weit und das unverhoffte oder eben nicht ganz so unverhoffte Aufeinandertreffen hatte irgendwie die Idee aufkeimen lassen, ein paar Tage zusammen zu reisen, denn auch John und Harriet waren bisher nie wirklich auf einer Hochzeitsreise gewesen, wenn man von ihrem schauerlichen Ausflug nach Schottland2 bald nach ihrer Vermählung einmal absah.

    Wer wem zuerst den sicher in einer Weinlaune geborenen Vorschlag einer fünftägigen gemeinsamen Mini-Hochzeitsreise entlang der italienischen Riviera und dann hinunter bis nach Pisa gemacht hatte, war Harriet bis heute unklar. Zeit bis zur eigentlichen Hochzeitsfeier ihrer Schwester war jedenfalls genug und die Begeisterung war auf allen Seiten spürbar gewesen. Penelope freute sich ganz offensichtlich auf gemeinsame Tage mit Harriet. John sehnte sich nach Zweisamkeit mit seiner Frau. Harriets Mutter träumte von ungestörter Zeit mit ihrer Enkelin und was sprach schon dagegen, Charlotte in ihrer Pflege zu lassen, war doch Harriets Schwester Jane dabei, die selbst zwei Mädchen aufgezogen hatte und ganz gewiss die mütterlichste Tochter des Taylor-Haushaltes war. Selbst der Vikar hatte sie bestärkt, ein paar Tage mit ihren Freunden in Italien zu verbringen. Harriet vermutete allerdings, dass er einfach Percy aus dem Weg haben wollte, der ihm seit seinem Auftritt als Johns Trauzeuge suspekt war.

    Und sie selbst? Auch sie war begeistert gewesen. Zumindest bis zum gestrigen Abend in Portofino, wo ihnen Percy nach einem ausgezeichneten Mahl am Hafen von dem »kleinen Abstecher« erzählt hatte, um den ihn H. M. kurz vor ihrem Reiseantritt halboffiziell gebeten hatte.

    Nun waren Harriet und Penelope solche »Überraschungen« eigentlich schon gewohnt. Beide waren längst in die geheimen Umtriebe ihrer Männer eingeweiht und hatten an der Lösung einiger Fälle auch selbst aktiv mitgewirkt. Percys »Geständnis« hatte dennoch wie eine kalte Dusche gewirkt und die Frauen waren sich sofort einig gewesen, dass ausgerechnet dieser kurze, als »Hochzeitsreise« titulierte Ausflug nicht unter dem Rubrum eines »Falles« stehen dürfe. Folgerichtig waren Percys Beschwichtigungsversuche, es handele sich bei dem minimalen Umweg lediglich um einen dem Staat dienenden Depeschendienst, ins Leere gelaufen. Dass Harriet und Penelope am nächsten Morgen dennoch zugestimmt hatten, die Reise fortzusetzen, war wohl einzig dem Umstand geschuldet, dass sie sich letzten Endes dem König und dem Vaterland genauso verpflichtet fühlten, wie es John und Percy taten. Allerdings hatten beide Männer im Laufe des Tages lernen müssen, dass ihre Frauen diese gefühlte Verpflichtung gegenüber dem Staat vollkommen von einer persönlichen Vergebung gegenüber ihren Ehegatten trennen konnten.

    Während Harriet auf Johns Armbanduhr blickte, spürte sie, wie ihr Unmut über den »Abstecher« wieder aufzuwallen begann. Sie ließ seine Hand los, stand auf und beugte sich zu ihm hinunter.

    »John?«, sagte sie unnötig laut.

    »Hm?«

    »Ich denke, wir sollten aufbrechen. Ich kann den Bentley schon seit einiger Zeit nicht mehr hören.«

    »Natürlich! Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?«

    »Kurz vor halb sechs.«

    »Dann bleiben uns noch zweieinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang.«

    Fünf Minuten später nahmen sie die Verfolgung auf. Der rote BSA, den ihnen ihr zukünftiger Schwager für diesen Ausflug großzügig überlassen hatte, flog den Hang hinauf und nach kurzer Zeit kamen weiter oben Häuser in Sicht. Voller Zuversicht bogen sie unterhalb derselben endlich wieder auf eine befestigte Straße ein, folgten dieser in einer engen Linkskurve um eine Hausecke herum und kamen gerade noch rechtzeitig mit quietschenden Reifen hinter Percys Bentley zum Stehen. Ihre Aufholjagd hatte ein abruptes Ende gefunden, denn die torbogenartige Durchfahrt in das Dorf hinein hatte sich augenscheinlich als zu schmal für die Kotflügel der Limousine erwiesen.

    Sie stiegen aus und schauten sich die deformierten Karosserieteile an. Man musste kein Meisterdetektiv sein, um zu folgern, dass Percy nicht gebremst hatte, sondern beim Versuch, das Tor rasant zu durchqueren, mit dem Wagen einfach steckengeblieben war. Aber wo waren Percy und Penelope?

    »Ah! Da seid ihr ja endlich!«, rief in diesem Moment eine wohl vertraute Männerstimme gut gelaunt von der anderen Seite des Wagens. Percy stieg auf die Stoßstange und setzte sich auf die Motorhaube, während Penelope hinter der Hausecke erschien und unter dem Torbogen stehen blieb. »Ich dachte schon, wir hätten uns verloren. Es ist zum Glück nur ein Blechschaden.«

    »Dann seid ihr beide bei diesem Malheur unverletzt geblieben?«, fragte Harriet vorsichtig.

    »Sicher! Und der Unfall hat uns sogar in gewisser Weise gerettet. Wir klopften an die Tür des beschädigten Hauses zu eurer Linken und eine Dame öffnete uns und führte uns zu ihrem Gatten. Er ist der Dorfschmied hier und spricht etwas Englisch. Signor Fabbro – so heißt der gute Mann – hat mir versprochen, dass unser Wagen bis morgen Mittag befreit und so weit wiederhergestellt sein wird, dass wir unsere Reise fortsetzen können. Und als wäre das nicht genug, hat er auch gleich noch unsere sofortige Weiterfahrt nach Quarazza organisiert. Ist das nicht fantastisch?«

    »Es klingt zu schön, um wahr zu sein«, sagte John mit beißender Ironie in der Stimme.

    »Sie als Misanthrop können das natürlich nicht verstehen. Die Menschen leben hier noch in einem arkadischen Zustand: vollkommen unverdorben, gütig und hilfsbereit.«

    »Oh, Percy!« Penelopes Stimme klang übertrieben mitleidig. »Natürlich ist Signor Fabbro hilfsbereit. Du hast dem Mann gerade unser gesamtes Liravermögen in die Hand gedrückt. Ich nehme an, dass er das normalerweise nicht einmal in einem Jahr verdient.«

    »Habe ich das? Ach, was soll’s, Hattie! Wir haben ihn und seine Familie glücklich gemacht, uns wird geholfen und ich kann nun doch noch rechtzeitig meinen Auftrag erfüllen. Es gibt schlechtere Geschäfte, meinst du nicht?«

    »Dann leiht er euch seinen Wagen?«, fragte Harriet in die Stille der ausgebliebenen Antwort hinein.

    »Nicht ganz«, sagte Penelope. »Unser Vehikel ist – wie soll ich es sagen? – von einer überraschend grotesken Natur.«

    Percy stöhnte. »Können wir uns nicht einfach über die unverhoffte Mitfahrgelegenheit freuen? Immerhin geht die Reise auf vier Rädern weiter!«

    »Vier Räder ohne Motor«, schnaubte Penelope und verschwand hinter der Hausecke.

    »Was meint sie?«

    »Ich nehme an, dass sie von einer Kutsche spricht, Sherlock«, sagte Harriet leise. Sie war den Tränen nahe, denn zu ihrer Sehnsucht nach Charlotte gesellte sich nun die Enttäuschung über das endgültige Scheitern ihrer romantischen Reisepläne.

    Durch den Zeitverzug war Pisa in unerreichbare Ferne gerückt. Mit schwerem Herzen kletterte Harriet über den demolierten Kotflügel und blieb plötzlich wie angewurzelt unter dem Torbogen stehen. Er wirkte wie der Durchgang zu einer anderen Welt. Vor ihr lag eine enge Gasse, auf der ein barfüßiger kleiner Junge eine Schar Gänse vor sich hertrieb. Die wenigen Menschen, die sie sah, trugen Kleider, die Harriet an mittelalterliche Trachten erinnerten. Percy hatte von Arkadien gesprochen, doch die Szenerie war nicht stimmig. Irgendetwas machte ihr Angst. War es der Torbogen, der sie vor dieser altertümlichen Kulisse plötzlich an das Märchen von »Frau Holle« denken ließ? John hatte ihr die Geschichte erzählt, denn er war selbst mit den Hausmärchen der Brüder Grimm aufgewachsen und dabei, einen »Kinderbuchkanon« für Charlotte zu erstellen.

    Sie blickte auf, doch es regnete weder Gold noch Pech auf sie nieder. Wie in Trance stand sie da und obwohl sie bemerkte, wie John in der Zwischenzeit den Sportwagen parkte und Percy

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1