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DER JUDASKUSS: Der Krimi-Klassiker!
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eBook269 Seiten3 Stunden

DER JUDASKUSS: Der Krimi-Klassiker!

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Über dieses E-Book

Adelaide war nicht dumm, sie hatte recht klare Erkenntnisse aus ihren Beobachtungen gewonnen.

Als sie am nächsten Morgen nach unten kam, traf sie zuerst Pearl, die ganz ihren Erwartungen entsprach. So wurde ihr der Anfang nicht schwer gemacht.

Sie küsste Pearl, fragte freundlich, ob sie gut geschlafen habe, und bat dann, ihre Wohnung ansehen zu dürfen. Pearl freute sich, ihr alles zeigen zu können. Sie gingen zur Tür im Parterre, die das junge Mädchen stolz mit dem eigenen Schlüssel öffnete.

»Hast du keine Angst, hier unten so allein zu schlafen?«, fragte Adelaide.

Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller. Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.

Der Roman Der Judaskuss erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum4. März 2021
ISBN9783748776482
DER JUDASKUSS: Der Krimi-Klassiker!

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    Buchvorschau

    DER JUDASKUSS - Herbert Adams

    Das Buch

    Adelaide war nicht dumm, sie hatte recht klare Erkenntnisse aus ihren Beobachtungen gewonnen.

    Als sie am nächsten Morgen nach unten kam, traf sie zuerst Pearl, die ganz ihren Erwartungen entsprach. So wurde ihr der Anfang nicht schwer gemacht.

    Sie küsste Pearl, fragte freundlich, ob sie gut geschlafen habe, und bat dann, ihre Wohnung ansehen zu dürfen. Pearl freute sich, ihr alles zeigen zu können. Sie gingen zur Tür im Parterre, die das junge Mädchen stolz mit dem eigenen Schlüssel öffnete.

    »Hast du keine Angst, hier unten so allein zu schlafen?«, fragte Adelaide.

    Herbert Adams (* 1874 in Dorset, South West England; † 1958) war ein englischer Schriftsteller.  Adams veröffentlichte beinahe sechzig Kriminalromane; viele unter seinem eigenen Namen, einige unter dem Pseudonym Jonathan Gray. Seine Leser – wie auch die Literaturkritik – verglichen Adams oft mit seiner Kollegin Agatha Christie.

    Der Roman Der Judaskuss erschien erstmals im Jahr 1955; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1956.

    Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

    DER JUDASKUSS

    ERSTER TEIL

      Erstes Kapitel

    Der junge Geistliche räusperte sich. »Da wir nun alle zusammen sind«, begann er, »will ich euch einen Brief vorlesen, den unser Vater mir geschrieben hat.«

    »Achtung, Mädchen«, sagte Jasper vorwitzig, »unser geistlicher Bruder hat offenbar eine Botschaft von oben bekommen, die vielleicht wichtig ist.«

    »Wo steckt Vater denn, Garnie?«, fragte Emerald, die Ältere seiner beiden Schwestern.

    »Schreibt er nicht, wann er zurückkommt?«, wollte Pearl wissen, die jüngste von allen.

    Garnet beantwortete ihre Fragen in der Tonart, die sie seine Pfarrerstimme nannten, räusperte sich noch einmal, hielt das Schreiben hoch und las:

    »Mein lieber Garnet,

    nun sind es schon bald drei Monate, seitdem ich euch verlassen habe, um mich von der Grippe zu erholen. Es war nett, dass ihr euch alle angeboten hattet, mich zu begleiten. Aber mir schien es doch das Beste, allein zu fahren, besonders da ich noch kein bestimmtes Ziel hatte und meine Entscheidung gern in aller Ruhe treffen wollte. Stets habe ich versucht, euch zur Selbstständigkeit zu erziehen, damit jeder seinen eigenen Lebensweg gehen kann, und ich glaube, das in gewissem Maß erreicht zu haben. Es wäre euch nicht dienlich gewesen, wenn ich euch an mich gebunden hätte.

    Ich hoffe aufrichtig, dass ihr in dem, was ich euch jetzt eröffnen will, keinerlei Vorwurf erblicken werdet. Als eure Mutter vor vier Jahren starb, wart ihr ebenso traurig wie ich, habt aber gewiss gedacht, Radio, Kreuzworträtsel und ab und zu ein bisschen Kegeln oder Golf würden mein Leben für die mir noch verbleibenden Jahre ausfüllen. Doch da seid ihr im Irrtum! Die natürlichen Lebenswünsche hören im Alter von fünfzig Jahren noch nicht auf!«

    »Worauf will er nur hinaus?«, warf Emerald ein. »Er ist doch siebenundfünfzig.«

    Garnet ignorierte ihre Bemerkung. Er las weiter:

    »Wie ihr aus meinen Postkarten erkannt haben werdet, bin ich weit herumgereist. Ich habe viele interessante Dinge gesehen und glaube sagen zu können, dass ich gesundheitlich wieder in bester Verfassung bin. Jetzt habe ich eine Dame kennengelernt, die mich bestimmt glücklich machen kann. Ich bin im Begriff, sie zu heiraten.«

    Jasper pfiff durch die Zähne. Emerald rief wie ein Echo. »Sie zu heiraten?«

    Und Garnet fuhr mit dem Brief fort:

    »Ich will gar nicht versuchen, sie euch zu beschreiben, da ihr sie ja bald selbst sehen werdet. Wir gedenken in etwa vierzehn Tagen zu Hause zu sein. Den Tag der Ankunft werde ich euch telegrafisch mitteilen, sobald er feststeht. Hoffentlich werdet ihr sie um meinetwillen lieb haben, und ich vertraue darauf, dass ihr sie, wenn ihr sie erst genauer kennt, um ihrer selbst willen noch mehr lieben werdet.

    Natürlich habe ich ihr von euch allen erzählt, und sie freut sich schon sehr, euch kennenzulernen. Wir wollen unseren Haushalt genauso weiterführen, wie wir es gewohnt sind, bis der eine oder andere von euch eigenen Plänen folgt. Wir haben auch besprochen, wie ihr sie am besten nennen würdet. Da ich mir völlig klar darüber bin, dass euch niemand eure liebe Mutter ganz ersetzen kann, sind wir uns einig geworden, dass ihr sie am besten mit ihrem Vornamen anredet - Adelaide.

    Wir senden euch herzliche Grüße, in der sicheren Erwartung, dass ihr uns nett empfangen werdet.

    Euer euch liebender Vater

    George Michelmore.«

    Das Schweigen, das dem Ende des Briefes folgte, dauerte mehrere Sekunden. Jasper brach es zuerst. »Müssten wir nicht ein Glückwunschtelegramm schicken oder so etwas?«

    »Er hat keine Adresse angegeben«, sagte Garnet. »Der Poststempel auf dem Kuvert lautet Saint Malo.«

    »Ist er denn schon verheiratet, oder will er erst?«, fragte Emerald ziemlich entrüstet. »Er hätte uns doch Gelegenheit geben sollen, dabei zu sein. Warum bringt er sie nicht her und heiratet hier?«

    »Es wäre ja recht ungewöhnlich, dass ein Mann zur Hochzeit seines Vaters geht, aber wenigstens an der kirchlichen Trauung hätte ich doch gern teilgenommen«, bemerkte Garnet.

    »Armer Papa!«, murmelte Pearl. »Ich habe nicht geahnt, dass er sich so einsam fühlte. Wie oft habe ich mit ihm am Fernsehapparat gesessen. Jeden Gefallen hätte ich ihm getan, aber er hat mich nie um etwas gebeten.«

    »Vielleicht brauchte er, was eine Tochter ihm nicht geben kann«, sagte Jasper.

    »Ich hoffe nur, dass sie ihn glücklich macht«, erwiderte Pearl.

    Die Zimmertür ging auf, eine hagere Gestalt in schwarzer Kleidung trat ein.

    »Ich werde gleich den Kaffee bringen, wenn es recht ist«, sagte sie. »Geläutet hatten sie wohl noch nicht?«

    »Wir haben einen tüchtigen Schreck bekommen, Nan«, erklärte Emerald. »Vater schreibt uns gerade, dass er sich wieder verheiratet hat.«

    Nan ging auf die Sechzig. Nachdem sie alle Kinder mit großgezogen hatte, war sie als Haushälterin in der Familie geblieben. Sie setzte ihren Stolz darein, sich bei ungewöhnlichen Ereignissen im Haus niemals Erstaunen anmerken zu lassen.

    »Wirklich? Darf ich fragen, mit wem?« sagte sie sachlich.

    »Das hat er uns noch nicht gesagt«, antwortete Garnet. »Er will uns überraschen. In ungefähr zwei Wochen wollen sie kommen.«

    »Dann werde ich hier gewiss überflüssig?«

    »Wie können sie so etwas sagen, Nan!«, rief Pearl ganz hitzig. »Ohne sie kommen wir doch gar nicht zurecht, und jetzt brauchen wir sie noch mehr als bisher.«

    »Vater schreibt, der Haushalt soll weiterlaufen, wie wir es gewohnt sind«, ergänzte Jasper.

    »Na, dann werde ich jetzt also den Kaffee holen.«

    Sie ging aus dem Zimmer, wo alle schweigend sitzen blieben, bis sie mit dem Tablett wiederkam. Emerald hatte den Brief an sich genommen, um ihn selbst noch einmal zu lesen.

    Die jungen Menschen bildeten eine hübsche Gruppe. Jeder an einer Seite des kleinen Tisches sitzend, hatten sie eben ihr Abendessen beendet, nur Jasper gabelte sich noch einen halben Pfirsich aus der schweren Kristallschale und begoss ihn aus einem silbernen Kännchen mit dem letzten Rest Sahne.

    Garnet, mit siebenundzwanzig Jahren der älteste, hatte dunkle Augen in einem fein geschnittenen Gesicht. Sein Blick war ernst, sein schmaler Körper ließ vermuten, dass er alle kirchlich vorgeschriebenen Fastenzeiten einhielt und das anscheinend gern. Jasper, der zu seiner Linken saß, hatte auch dunkle, aber schalkhaft zwinkernde Augen. Emerald hätte als schön gelten können bis auf den hart wirkenden Mund und ihre unzufriedene Miene.

    Pearl, das Baby der Familie, eben zweiundzwanzig geworden, war entschieden hübsch. Sie glich einem Bild von Jean Baptiste Greuze, doch aus ihren großen dunkelblauen Augen leuchteten mehr Temperament und Frohsinn, als dieser Künstler gemeinhin auf den Bildern seiner reizenden jungen Mädchen zum Ausdruck brachte.

    Das Zimmer war nicht überladen, aber kostbar möbliert. Stühle und Kredenz von Chippendale oder einem Schüler des Meisters. Auf dem blitzblank polierten Tisch aus dunklem Mahagoni lagen Geschirrdeckchen aus wertvollem Leinen. Der Raum war fast kahl; das einzige Bild, über dem Kamin, stellte eine schöne Frau dar, die verstorbene Mutter der versammelten Kinder.

    Garnet trug Pfarrerskleidung mit einem schwarzen Rock, die Mädchen hatten leichte Kleider mit kurzen Ärmeln an, Jasper trug ein Tweedjackett, ein farbiges Hemd und blaue Cordhosen. Nach Ansicht vieler Leute sollte er sich häufiger das Haar schneiden lassen.

    Nan brachte den Kaffee herein, stellte ihn auf den Tisch und ging stumm hinaus.

    »Höchst merkwürdig«, bemerkte Emerald, als sie wieder unter sich waren, »was Vater da schreibt. Dass er uns keine Vorwürfe machen will, klingt ja, als wollte er sich entschuldigen. Und ein Foto hätte er doch wohl mitschicken können. Keine Andeutung, ob sie jung oder alt ist, ledig oder Witwe.«

    »Mich macht sein Hinweis auf die sogenannten natürlichen Lebenswünsche neugierig«, sagte Jasper. »Meint ihr, dass unser verehrter Herr Vater sich mit dem Gedanken trägt, eine zweite Familie zu gründen?«

    »Um Himmels willen!«, rief Emerald. »Das wäre ja beinah unanständig.«

    »Och, ein Baby im Haus könnte ganz lustig sein«, meinte Pearl.

    »Vielleicht hat Adelaide schon selbst Kinder?«, gab Jasper zu bedenken.

    »Das hätte Vater dann wohl doch erwähnt«, versicherte Garnet. »Ich glaube, wir dürfen annehmen, dass sie im selben Alter ist wie er.«

    »Woraus schließt du das?«, fragte Emerald.

    »Aus dem Namen. Adelaide! Nach dem Namen lassen sich, wie die Tauflisten zeigen, die Menschen zeitlich ganz gut einstufen. Augenblicklich sind Jacqueline, Jill, Elizabeth und Margaret am beliebtesten. Vor ungefähr zwanzig Jahren waren Pamela, Patricia und Phyllis die große Mode, und davor Dorothy oder Doris, soviel ich weiß, nach dem Titel eines Theater-Stücks. Clarissa, Agnes und Amelia waren schon vorher in Mode, aber Adelaide muss noch älteren Datums sein. Es hat einmal eine Königin dieses Namens gegeben.«

    »Ja, die Gemahlin Wilhelms des Vierten, die vor ungefähr hundert Jahren starb«, sagte Emerald, denn Geschichte war ihre Stärke.

    »Demnach nimmst du also an, dass unsere Adelaide - oder vielmehr die unseres Vaters - dick, blond und so gegen fünfzig - sein muss«, warf Jasper ein.

    »Ja, das ist meine Meinung«, nickte Garnet.

    »Mir scheint diese Logik aber nicht überzeugend«, sagte der jüngere Bruder. »Natürlich hast du mehr Erfahrung. Ich glaube, du hast schon sechs - oder waren es sieben - Kinder getauft. Auch nicht nur weibliche. Du übersiehst aber wohl die Tatsache, dass viele nach altjüngferlichen Tanten genannt werden, von denen etwas zu erwarten ist, oder sogar nach einer steinalten Großmutter. Also hält deine Generationen-Theorie einer schärferen Prüfung nicht stand.«

    »Ich habe dieses Thema studiert«, sagte Garnet erhaben. »Wir wissen ja gar nicht, ob sie Engländerin ist«, meinte Emerald. »Wenn er sie in Saint Malo kennengelernt hat, kann sie doch auch Französin sein. Königin Adelaide war übrigens eine Deutsche.«

    »Auch die Möglichkeit, eine amerikanische Stiefmutter zu bekommen, kannst du nicht ganz ausschließen«, fügte Jasper hinzu. »Ob ihr es glaubt oder nicht, ein Kunsthändler in Saint Malo hat eins meiner Bilder an einen Amerikaner verkauft.«

    »Was sollen wir denn nur den Leuten erzählen?«, wollte Emerald wissen. »Wir stehen ja ganz dämlich da, wenn wir nicht die einfachsten Fragen beantworten können.«

    »Weshalb überhaupt den Leuten etwas erzählen?«, fragte Pearl. »Wenn wir sie sehen, werden wir im Bilde sein. Unseren Papa werde ich weiter lieb haben, auch wenn es keine Überraschung wird.«

    »Kleine Kinder und Säuglinge sprechen die Wahrheit«, murmelte Jasper. »Ich glaube, das Kind hat recht.«

    »Vielen Dank, eisgrauer Alter«, gab Pearl zurück.

    »Ich stimme Jasper zu«, sagte Garnet. »Nan habt ihr es ja erzählen müssen, weil sie alles vorbereiten soll, aber sagt ihr, sie möchte vorläufig darüber schweigen, bis wir Genaueres wissen.«

    Zweites Kapitel

    Waren die Michelmores schon an sich eine ungewöhnliche Familie, so fiel auch ihre Wohnung aus dem üblichen Rahmen. Das Haus war verhältnismäßig klein als, George Michelmore es kaufte, es wurde durch den Anbau von zwei rechtwinklig vorspringenden Flügeln vergrößert. Da der Bau mit der Fassade nach Süden lag, war der Name Sonnenbucht recht passend.

    Die Flügel enthielten je zwei Wohnungen. So hatte jedes der vier Kinder ein komplettes Appartement, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Badezimmer und einer kleinen Küche erhalten. Alle Wohnungen hatten gesonderte Eingänge, die oberen waren über schmale Treppen erreichbar.

    Esszimmer und Diele im Mittelbau benutzten die Kinder gemeinsam, wenn sie Lust hatten, zusammen zu sein. Im Übrigen konnten sie in ihren eigenen Wohnungen schalten und walten, wie es ihnen behagte und auch ungestört ihre Berufe ausüben.

    Garnet, dem ältesten Sohn, gefiel diese Anordnung sehr. Er hatte eine Parterrewohnung, über ihm hauste Jasper mit seinen künstlerischen Ambitionen. Der erfreute sich eines Ateliers mit Nordfenstern.

    Von den Mädchen wohnte Emerald im oberen Stock des anderen Flügels. Sie war Schriftstellerin, wenn auch bisher von ihren Arbeiten nur wenig veröffentlicht worden war.

    Als Pearl volljährig wurde, hatte sie den Schlüssel für die damals noch freie vierte Wohnung erhalten. Sie war stolz auf ihre Räume. Besonders häuslich veranlagt, widmete sie einen großen Teil ihrer Zeit ihrem Vater oder Nan, die mit vollem Namen, soweit man sich erinnerte, Hannah Wood hieß. Pearl besaß einen Scotch Terrier, ihren treuen Wächter und Begleiter Sandy.

    Nach der Vereinbarung mit dem Vater war jeder zur Instandhaltung und Sauberkeit seiner Wohnung selbst verpflichtet. Die Mädchen machten das natürlich gern selbst, während Garnet und Jasper hin und wieder für Aufwartung ein paar Schillinge an Mrs. Hopkins zahlen mussten, die täglich als Aushilfe ins Haus kam.

    Vom Vater erhielt jedes Kind ein festgesetztes Monatsgeld. Da sie selbst für Essen, Licht und Heizung keine Kosten hatten, reichte der Betrag für das Notwendige aus, gestattete ihnen aber auf die Dauer kein ganz müßiges Leben. Sie sollten selbstständig werden, sich einen Beruf nach eigenem Geschmack wählen und sich ihren Lebensunterhalt verdienen.

    Wenn jemand dem Vater darauf hinwies, dass seine Kinder durch dieses Leben in halber Abhängigkeit später leicht in Schwierigkeiten geraten könnten, so pflegte er zu antworten, das sei hier weniger wahrscheinlich, als wenn sie allein auf eigene Faust in einer Großstadt leben müssten.

    Die Sonnenbucht war eins der wenigen großen Häuser des Dorfes Beckford. Es lag ungefähr anderthalb Kilometer von der Küste entfernt, etwa in der Mitte zwischen Felixstowe und Aldeburgh in Suffolk.

    George Michelmore war stolz auf die Einteilung seines Hauses und erklärte jedem, der es hören wollte, die Zeit der großen Residenzen sei vorbei, doch für ihn werde es nie schwierig sein, Mieter für seine separierten Wohnungen zu finden.

    Die Nachricht von seiner zweiten Eheschließung war den Kindern in die Glieder gefahren. Ihre Mutter hatte, solange sie lebte, stets viel Interesse für kirchliche Fragen und das gesellige Leben der Einheimischen bekundet. Nachdem sie gestorben war, zog der Vater sich mehr und mehr zurück. Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, dass er vielleicht ein ganz neues Leben beginnen wollte. Vermutlich rechneten sie überhaupt nicht mit der Möglichkeit, dass er seine Theorien von Eigenleben und Unabhängigkeit auch auf sich selbst anwenden könnte.

    Nach einigen Tagen kündigte ein Telegramm aus Paris das Ende der Ungewissheit an:

    Ankommen Freitag zum Dinner.

    Herzlichst,

    George und Adelaide

    »Das verlangt nicht unbedingt nach dem gemästeten Kalb«, bemerkte Jasper. »Welches Festmahl wäre der Heimkehr eines Verlorenen Vaters wohl angemessen, Garnie?«

    »Hammelbraten«, antwortete Emerald anstelle des Bruders.

    »Da er am Freitag erscheint, würde ich Fisch vorziehen«, sagte Garnet, »aber ich sehe ein, dass es ein besonderer Anlass ist.«

    »Und ob!«, rief Pearl. »Wir müssen etwas ganz Extrafeines auf den Tisch bringen!«

    Als Nan über die bevorstehende Ankunft informiert wurde, erklärte sie in ihrer typischen Seelenruhe, sie könne eine Gans beschaffen.

    »Nein, das gefällt mir gar nicht«, sagte Jasper. »Sieht ja aus wie eine Anspielung. Ein paar Enten halte ich für zünftiger. Übrigens isst Vater fast genauso gern Entenbraten wie ich.«

    Somit war die Frage geklärt. Pearl befasste sich noch mit Lieblingsblumen und besonderen Dekorationen und überredete insgeheim Nan, einen Hochzeitskuchen mit Mandelcreme und reichem Zuckerguss zu backen. Jasper, der Sekt für das Wichtigste hielt, freute sich, in Vaters Keller noch etliche Flaschen vorzufinden. Emerald beteiligte sich nicht an den Vorbereitungen, als missbillige sie die ganze Sache.

    Endlich war der große Tag da. Alle waren aufgeregt. Eine neue Frage stellte sich.

    »Wo und wie wollen wir sie empfangen?«, fragte Garnet.

    »Wir werden uns in der Diele aufhalten und sie durch Nan melden lassen«, schlug Emerald vor.

    »Den Vater im eigenen Haus anmelden!«, protestierte Jasper. »Du bist wohl verrückt. Er wird einfach hereinkommen, selbstverständlich.«

    »Was ihr andern machen werdet, weiß ich nicht — ich jedenfalls werde sie am Tor erwarten«, erklärte Pearl.

    Schließlich taten sie das alle. Und erlebten eine große Überraschung. Die Jungvermählten kamen von London per Auto. Als der Wagen bremste, sprang ihr Vater gleich heraus, braun gebrannt und viel elastischer, als sie ihn zuletzt gesehen hatten. Er half seiner Begleiterin beim Aussteigen. Eine junge Frau, nur wenig älter als sie selbst - die schönste Frau, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatten.

    »Das ist Adelaide«, sagte er.

    Einen Augenblick schwiegen die vier. Sie war so gänzlich anders, als sie sich die Frau vorgestellt hatten. Dann sprang Pearl vor, warf ihrem Vater die Arme um den Hals und küsste ihn.

    »Willkommen zu Hause, Papa!«, rief sie. »Ich hoffe, ihr werdet beide recht glücklich.«

    »Ich danke dir, Kind«, gab er lachend zurück. »Adelaide, dies ist Pearl, unser Nesthäkchen.«

    Adelaide ergriff Pearls Hände, zog sie an sich und küsste sie.

    »Auch ich danke dir«, sagte sie weich.

    Nachdem so das Eis gebrochen war, küsste Emerald ihren Vater und bot ihrer Stiefmutter eine Wange zu zärtlicher Berührung.

    »Hier ist Garnet«, sagte der Vater, indem er seinen Ältesten bei der Hand nahm. »Er ist ein leuchtendes Beispiel für uns alle.«

    »Ich glaube, einen Geistlichen habe ich noch nie geküsst«, sagte Adelaide lächelnd. »Darf ich?« Und sie tat es.

    »Jasper, unsere künstlerische Hoffnung.«

    Jasper wartete nicht, bis er gefragt wurde, er küsste sie auf beide Wangen.

    »Aufrichtig willkommen!« strahlte er, und lachend und plaudernd gingen alle ins Haus.

    Emerald sagte, um ihre Rolle als Hausfrau - zum letzten Mal? - zu betonen,

    »Das Essen wird in einer halben Stunde serviert. Darf ich euch erst etwas zu trinken anbieten? Dann könnt ihr euch noch umziehen, wenn ihr wollt.«

    Jasper reichte den Sherry herum und brachte einen passenden Trinkspruch aus.

    Erst als sie am Tisch saßen, hatten sie richtig Gelegenheit, ihr neues Familienmitglied genau zu betrachten. Sie war tatsächlich in jeder Hinsicht schön.

    Golden schimmerndes Haar mit natürlichen Wellen, ein wunderbar zarter Teint, Augen von tiefstem Grau, ein kleines Gesicht mit einem hübschen Mund und tadellosen Zähnen. Das einzige Zeichen kosmetischer Nachhilfe war das kräftige Rot ihres Lippenstifts, das dem sonst unglaublich unschuldig wirkenden Gesicht einen Zug von Weltklugheit verlieh. Außer dem Ehering trug sie nur eine Perlenkette und ein

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