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Sterne für Hades: Ein Hadessphere-Roman
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eBook471 Seiten7 Stunden

Sterne für Hades: Ein Hadessphere-Roman

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Über dieses E-Book

Julian Loring ist ein Lebemann. Der Bassist der Rockband Hadessphere nutzt jede Gelegenheit, seine Vorliebe für schöne Frauen, schnelle Motorräder und exzessives Feiern auszuleben.

Als er nach einer wilden Partynacht einen Jungen auf der Golden Gate Brücke stehen sieht, bereit, sich in die Tiefe zu stürzen, greift er ein, doch der Junge ist keineswegs dankbar und flieht – mit Julians Brieftasche.

Julian setzt alles daran, diesen Jungen zu finden und schließlich steht er vor dessen Tür – und findet heraus, dass der Junge eine junge Frau ist. Ihre Schönheit und die Frage, warum sie sich als Jungen ausgibt, sind genug an Herausforderung für ihn, sich Hals über Kopf in eine Affäre mit ihr zu stürzen.

 

Jessica Grant lebt im Verborgenen, voller Angst davor, entdeckt zu werden. Sie hat ihre Vergangenheit nicht nur hinter sich gelassen, sie hat sie so tief in sich vergraben, dass sie nicht einmal Julian, dem Mann, den sie seit ihrer ersten Begegnung liebt, davon erzählen kann.

Deswegen muss sie allein und ohne Hilfe um ihr Leben kämpfen, als ihre Vergangenheit sie einholt.

 

Doch Jessie ist für Julian nicht eine von vielen Frauen in seinem Leben und er kämpft darum, sie zu finden. Doch kann er rechtzeitig herausfinden, wer sie wirklich ist und wer sie bedroht?

 

Sterne für Hades ist der fünfte Band der Roman-Reihe über die Mitglieder der Rockband Hadessphere.

 

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum30. Jan. 2019
ISBN9783743880252
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    Buchvorschau

    Sterne für Hades - Charlott E. Martin

    Prolog

    Chris Delaire tastete sich die schmalen Stufen zu Dancer’s Kellerbar hinab. Die Bar wurde seit Jahren als Geheimtipp unter jenen gehandelt, die ungestört von lauter Musik und lauernder Presse ihr Bier trinken und einfach nur reden oder ihre Ruhe haben wollten. Dancer’s, die Bar Elliot Taggerts, eines ehemaligen Jockeys, gehörte zu LA, wie die Strandpromenade zu Malibu. Nur, Strände konnte er überall finden, einen Laden wie Dancer’s, in dem er sich so wohlfühlte, wie in einer alten, ausgewaschenen Jeans, nur selten. Chris hatte eine Vorliebe für Sportbars. Wenn er keine Lust hatte, zu reden, fand sich immer jemand mit einem Sack alter Geschichten. Er konnte einfach dasitzen, zuhören und seine Gedanken schweifen lassen - der richtige Ausklang für einen verdammt ungemütlichen und dazu noch frustrierenden Tag. Vielleicht würde ihn eine von Elliots alten Geschichten soweit ablenken, dass er vergaß, dass es auf der ganzen Welt keinen Bassisten zu geben schien, der ihm das Gefühl gab, der richtige für Hadessphere zu sein. Elliot hatte es gut: Er musste nur darauf achten, dass das Bier für seine drei Gäste nicht ausging und dass einer von den dreien eine Geschichte von dem größten Rennpferd aller Zeiten hören wollte: Nijinski! Chris schüttelte den Kopf, für Elliot gab es nur dieses eine Pferd, obwohl er es selbst nie geritten hatte, schwärmte er davon, wie andere Männer von Marilyn Monroe oder Rihanna. Nun gut, jeder hatte seinen eigenen Geschmack. Elliot war sogar so weit gegangen, seine Bar nach diesem Gaul zu nennen. Da ihm Nijinski wohl für diese Gegend zu exotisch klang oder er verhindern wollte, dass einer der Gäste den Namen seines Lieblings nicht korrekt aussprach, hatte er der Bar den Namen Dancer’s gegeben - nach Nijinski, den man wegen seiner typischen Tänzelei seinerzeit auch den Tänzer genannt hatte. Nijinski war nach einem berühmten russischen Balletttänzer benannt worden, das erzählte Elliot jedem, der es hören wollte und auch jedem anderen und er deutete auf die Bilder und Zeitungsausschnitte an den Wänden und erzählte seine Geschichten und war zufrieden. Ein wenig dieser Zufriedenheit nahmen auch die Gäste mit, wenn sie die Bar wieder verließen. Chris hoffte, dass für ihn in dieser Nacht ebenfalls ein Stück Zufriedenheit abfiel.

    Ihm fiel der ungewöhnliche Geräuschpegel auf, als er sich die schlecht beleuchteten Stufen in die Tiefe hinabtastete. Als er um die scharfe Biegung der Treppe kam, konnte er in den überfüllten Barraum sehen. Elliot feierte offenbar eine Party. Noch mit dem Fuß auf der letzten Stufe und während er noch überlegte, ob er wieder kehrtmachen sollte, entdeckte ihn Elliot und winkte ihn begeistert zu sich. Chris erwiderte das Winken mit einem Nicken und bahnte sich seinen Weg durch die Gäste bis zu dem Ecktisch, an dem der ehemalige Jockey gut gelaunt den Rummel verfolgte. Selbst wenn man nicht gewusst hätte, womit sich Elliot früher sein Brot verdient hatte, würde seine Profession jedem ins Gesicht springen. Elliot war klein, drahtig und seine Haut war so faltig und von Wind und Wetter gegerbt, dass sie wie zerknautschtes Leder aussah. Wenn das nicht genügte, war der glänzend-rote Blouson seines alten Rennstalls, den er immer trug, ein todsicherer Hinweis.

    „Was ist denn hier los? Hast du Geburtstag oder was wird hier sonst gefeiert?", rief Chris gegen den auf- und ab brandenden Lärm an.

    „Keine Feier, normales Geschäft, rief Elliot sichtbar stolz. „Bist lange nicht mehr hier gewesen. Seit ein paar Wochen ist’s jeden Abend voll wie auf dem Flughafen.

    Chris angelte sich mit einem Fuß einen Hocker heran und setzte sich neben Elliot, zum einen, um nicht mehr darauf angewiesen zu sein, von Elliots Lippen zu lesen und zum anderen aus geschäftlichem Interesse. Die Ideen eines, der seine Bruchbude praktisch über Nacht zum florierendem Unternehmen gemacht hatte, konnte man, modifiziert, immer auch im eigenen Interesse nutzen.

    „Und wie hast du das geschafft?"

    Der Unterschied war in der Tat frappierend. Wo sich früher ein paar Eigenbrötler mittleren Alters an ihrem Bier festgehalten hatten, nippte jetzt jugendliches, aufgekratztes Partyvolk an grellfarbigen Cocktails. Hinter der Bar aus dunklem Holz mit der vom vielen Anlehnen blinden Messingreling, die immer noch die alte war, wirkte knackige Jugend am steten Nachschub für die durstige Meute. Ein blonder Mann, dessen geschmeidige Lässigkeit eher auf den Catwalk als hinter einen Tresen gepasst hätte, war offensichtlich die treibende Kraft. Unbeschwert strahlend, als seien dreihundert durstige Gäste die Erfüllung seiner geheimsten Träume, schien er an mehreren Stellen gleichzeitig und überall unentbehrlich zu sein und alles maßlos zu genießen. Zuckersüße Serviererinnen, bei deren äußeren Qualitäten jeder Mann innere Werte für irrelevant halten musste, tänzelten mit ihren Tabletts zwischen den Tischen hindurch, erfüllten erfüllbare Wünsche und erweckten unerfüllbare.

    „Wenig Schauspielschule und viel Schönheitschirurgie. Elliot las Chris’ Gedanken mühelos. „Gott segne die Filmindustrie.

    „Und die vielen arbeitslosen Starlets", ergänzte Chris.

    „Arbeitslose Schauspieler kriege ich jederzeit, schnaubte Elliot. „Aber einen wie Julian bestimmt nie wieder. Jeden Abend, wenn ich den Laden aufschließe, bete ich, dass er wieder zur Arbeit erscheint. Vielleicht ist es missgünstig von mir, dass ich mich darüber freue, wenn er kein Engagement als Schauspieler bekommt, aber das Hemd ist mir näher als die Jacke.

    „Schauspieler, eh?"

    Chris sah sich den Barmann genauer an. Knapp über zwanzig mit dem gebräunten, durchtrainierten Körper eines Surfers und dem Lächeln eines verruchten Engels war er der Traum einer jeden Frau zwischen dreizehn und achtzig. Dieser Julian sah zu gut aus, als dass ein Hauptdarsteller mit Überlebensinstinkt ihn neben sich geduldet hätte und er strahlte genau die Vitalität aus, die auf der Bühne und im Film so gut wirkte. Ohne Beziehungen würde er es nicht leicht haben.

    „Ich weiß nicht, was er als Schauspieler taugt, aber als Barmann ist er das Geschenk des Himmels, stellte Elliot zufrieden fest. „Er wirbelt hier alles durcheinander. Nichts ist mehr, wie es einmal war, aber die Leute, die mir immer versichert haben, dass sie ein ruhige Bar einer lauten und Platz dem Gedränge vorziehen, drängeln sich seit kurzem in rauen Mengen um einen Platz am Tresen. Es gab Abende, da standen sie in Doppelreihen da. Und dieser Teufelskerl managt alles ohne mit der Wimper zu zucken. Er kennt jeden Namen, merkt sich jede Macke und wenn du zweimal hier warst, bringt er dir unfehlbar deinen bevorzugten Drink. Die Leute lieben ihn. Letzte Woche hat er mit den Gästen gewettet, dass er an dem Abend keinen Hunderter an Trinkgeld zusammenbekommen würde. Falls doch, würde er am folgenden Abend im Rock bedienen. Er bekam das Geld, niemand hätte sich das entgehen lassen wollen. Am nächsten Abend war der Laden noch voller. Schöne Beine hat er, das muss der Neid ihm lassen. Ich hätte nie gedacht, dass die Frauen auf Männer im Kilt so stehen. Er kicherte. „Aber er setzte noch einen drauf: Am nächsten Abend legte er eine Show hin, wie ich sie nicht mehr gesehen habe, seit diese rassige Tänzerin aus Kuba im „Havana aufgetreten ist. Himmel, der Junge ist gut, ich hätte ihn nicht erkannt, als er hier ankam. Schwarze Locken bis zum Hintern, ein Make-up, das jede Diva vor Neid erblassen lässt und ein Kleid, das dem Begriff sündhaft eine ganz neue Bedeutung verlieh. Er hat Wort gehalten und den ganzen Abend in diesem Fummel bedient. Seitdem hat er sich jeden Abend etwas anderes einfallen lassen. Gestern hat er mit den Gästen die Getränkekarte 'rauf- und runter gesungen. Das heißt, er stolzierte auf dem Tresen hin und her und dirigierte, die Gäste haben gesungen - diejenigen, die vor Lachen überhaupt noch einen Ton herausgebracht haben.

    „Seit wann hast du eine Getränkekarte?"

    „Selbstverständlich habe ich die! Da drüben."

    Elliot deutete auf die mit Kreide auf die verblassten roten Backsteine geschriebene Auflistung. „Sündhaftes Zeug, das. Und jeden Abend eine neue. Lass dir doch von ihm selbst erzählen, was er so zusammenmixt."

    Chris grinste und sah zu dem Mann hinüber, der strahlender Mittelpunkt eines Pulks aufgedrehte Leute war und gerade versuchte, sich mit einem hoch über dem Kopf gehaltenen Tablett aus der ihn umgebenden Drängelei zu winden. Er strahlte, warf hier und da eine Bemerkung in ein Gespräch ein, versäumte es nicht, bewundernde Blicke und Komplimente zu verteilen, vergaß jedoch nie, dass er derjenige war, der die Räder am Laufen hielt. Chris bemerkte, dass er ständig den Blickkontakt mit den Gästen suchte, die anderen Bedienungen in ständiger Bereitschaft hielt und sofort eingriff, wenn die Stimmung in irgendeiner Ecke des Raumes abzukühlen begann.

    Elliot winkte und Julian ließ seine Drinks in der Obhut eines anderen jungen Mannes und zwängte sich zu seinem Arbeitgeber durch.

    „Es ist Zeit für eine Pause, Chef. Ich bin schließlich keine Maschine."

    „Setz dich zu uns, Julian und trink' ein Bier mit uns."

    Julian ließ sich nicht lange bitten und setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl in der gesamten Bar.

    „Hi, ich bin Julian, stellte er sich Chris vor. „Aber das hat Ihnen der alte Schwätzer schon verraten, auch dass ich ihn mit meinem hohen Verdienst ruiniere und dass seine Frau scharf auf mich ist, stimmt’s?

    „Fast getroffen. Das mit der Frau hat er aber vergessen."

    „Verdrängt", knurrte Elliot.

    „Was treibt Sie in die Stadt?", erkundigte sich Julian, während er drei Finger in Richtung zur Bar hob. Eines der Mädchen brachte drei Dosen Bier. Er dankte ihr mit einem Lächeln, das keineswegs weniger warm war, als das, mit dem er die weiblichen Gäste bedacht hatte.

    „Meine Spezialmarke", erklärte er, während er Chris und Elliot je eines reichte.

    „Arbeit, antwortete Chris. „Wir waren den ganzen Tag im Studio und wie es aussieht, werden wir den Rest unseres Lebens dort verbringen.

    „Ich hörte, dass Sie Probleme haben, Ersatz für Pat Connors zu bekommen."

    Chris nahm einen Schluck aus der Bierdose, seufzte befriedigt und wischte sich eine winzige Schaumspur von der Oberlippe.

    „Englisches Bier, sinnierte er. „Sind Sie Engländer? Sie haben keinen Akzent.

    Julian verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln, genau genommen war es also nur ein Viertel-Lächeln, sprechender Ausdruck dafür, dass er bemerkt hatte, wie demonstrativ sie aneinander vorbeiredeten.

    „Ja. Der Nebel in London ist wirklich so dicht und es regnet jedes Mal, wenn man ein Picknick vorbereitet hat. Möchten Sie die Niederschlagswerte der letzten Woche?"

    Chris lachte. „Ich wollte nicht unhöflich sein, ich wollte nur abschalten."

    Julian lachte: „Schon verstanden. Wenn ich hier rauskomme, will ich auch keinen Ton über Umsatz und Einkauf mehr hören."

    „Einkäufe kann man auf den nächsten Tag verschieben. Wir haben ein Problem mit Pats Nachfolge – und derzeit sieht es nicht so aus, als ob wir es überhaupt lösen können."

    „Es kann doch nicht so schwer sein, einen anständigen Bassisten zu finden."

    „Elliot sagte mir, Sie wären Schauspieler. Sagen sie nicht, dass Sie auch etwas von Musik verstehen?

    „Oh, ich bin ein Allroundtalent. Natürlich verstehe ich etwas von Musik. Gitarre ist das Ding mit sechs Saiten, Bass ist das mit nur vier, nickte Julian. „Daraus folgt, dass Bass einfacher zu spielen ist. Wo liegt dann das Problem?

    Chris schloss für eine halbe Sekunde die Augen. Es wäre zu schön gewesen ...

    „Vergessen wir das", seufzte er.

    Julian lachte laut auf und erhob sich. „Du hättest dein Gesicht sehen sollen: als ob ich dir einen unsittlichen Antrag gemacht hätte. Er beugte sich über den Tisch zu Chris und erklärte: „Habe ich aber nicht. Musik ist gar keine so komplizierte Sache. Wenn du erst einmal begriffen hast, dass dein Instrument dir zeigt, was es braucht, musst du nur die Musik darin freilassen. Du öffnest dich für die Musik und sie kommt zu dir - so einfach ist das. Es ist nicht der Unterschied zwischen vier und sechs Saiten, der Unterschied liegt darin, ob du das begreifst.

    Abrupt unterbrach er sich und starrte auf seinen erhobenen Zeigefinger, dann schüttelte er den Kopf und grinste leichthin, als wolle er seinen eindringlichen Worten die Ernsthaftigkeit nehmen. „Wenn der alte Geizhals mich nicht so beschäftigen würde, hätte ich wirklich Lust, mir anzuhören, was die Jugend von heute so draufhat. So wirst du mich entschuldigen müssen - meine Gäste warten und mit jeder Sekunde, die verrinnt, verschwindet etwas von meinem Trinkgeld in anderen Taschen."

    Er trank seinen letzten Schluck aus seiner Dose und erhob sich.

    „Noch eins?"

    Chris reagierte auf den fragenden Tonfall mit einem uninteressierten Nicken. Zugehört hatte er nicht mehr seit Julians unerwartetem Ausbruch, er dachte über das nach, was Julian ihm gesagt hatte. Nur ein guter Musiker hatte den Instinkt, auf sein Instrument zu hören, auf die Antwort zu warten, die das Instrument dem gab, der sich ihm hingab. Ein Ton war niemals nur ein Ton, er war die Essenz aus Können und Instinkt des Musikers zusammen mit der Qualität des Instruments, angereichert mit allen Emotionen, des Stücks, des Materials und des Komponisten. Musik war lebendig, fließend, sie veränderte sich mit dem Leben, klang niemals gleich sondern war immer der Ausdruck von vitalem Austausch. Das nicht nur zu begreifen, sondern dieses Wissen umzuwandeln, zeigte den wahren Künstler.

    „Ein Kapitalist, wie er im Buche steht, mischte sich Elliot in Chris’ Gedanken. „An manchen Tagen kassiert er an Trinkgeld so viel, wie ich an Umsatz in früheren Zeiten.

    „Beschwer’ dich nicht, alter Mann. Wenn du mein Trinkgeld willst, schmeiß mich raus und beweg deinen eigenen Hintern."

    „Den Teufel werd’ ich tun", brummte Elliot uns sah Julian nach, der sich wieder ins Gewühl stürzte und sofort einen gewagten Flirt mit einer in rote Seide gekleideten Blonden begann.

    „Nicht eine von Ihnen würde ihn von der Bettkante stoßen, sinnierte Elliot. „Er weiß das ganz genau und trotzdem fängt er mit keiner etwas an. All die Wochen geht er allein nach Hause, wo immer das auch sein mag, und er kommt auch allein. Kein Ehering, keine Anrufe von eifersüchtigen Frauen - aber er macht nicht den Eindruck, dass er sich irgendetwas versagt. Wenn du verstehst, was ich meine.

    Chris verstand sehr gut, er selbst hielt es ebenso: Keine Komplikationen bei möglichst ausgeglichenem Hormonhaushalt.

    „Du wirst ihn nicht lange behalten können, meinte er. „Es wird nicht lange dauern und eine Erbin wird ihn sich kapern. Oder es gibt da draußen einen Regisseur, der genau so einen sucht, wie ihn. Verflucht, ich würde ihn für Hadessphere wollen, wenn er mehr draufhätte, als gutes Aussehen und ein bisschen auf der Gitarre herumklimpern.

    Elliot seufzte. „Glaubst du, das weiß ich nicht? Aber bis dahin sehe ich zu und genieße."

    Chris grinste. „Was dagegen, wenn ich mich anschließe?"

    Kapitel 1

    Der Raum sah aus, wie nach einem Einbruch. Julian strich sich die wirren Locken aus den Augen, um das Chaos in seiner ganzen Bandbreite auf sich wirken zu lassen. Beide Türen des Medikamentenschranks standen offen. Tablettendöschen und -packungen waren aus den Fächern gerissen und geöffnet worden, der Inhalt war im Waschbecken und auf dem Boden verstreut.

    Julian starrte auf die Ansammlung leerer Verpackungen und auf die bunte Mischung verschreibungspflichtiger Medikamente, für die jeder Junkie zu morden bereit wäre. Nach und nach hatte er in den letzten Monaten alles gehortet und auch eingenommen, was er hatte auftreiben können, Psychopharmaka, Barbiturate, Antidepressiva, alles was der Markt hergab. Gestern, so schien es, hatte er des Guten zu viel getan. Was war eigentlich geschehen? Er hatte wieder einmal nicht schlafen können, wie so oft in den letzten Monaten und eine Schlaftablette genommen. Oder waren es zwei gewesen? Nach dem Wein zum Essen mit Bianca und dem ganzen Gin, nachdem sie ihn in einem Wutanfall vor die Tür gesetzt hatte, konnte er sich nur an diese beiden Tabletten erinnern. Irgendwie waren die Abende in seinem Appartement in der letzten Zeit immer gleich, trinken, umhergehen, aus einem Fenster starren und wieder trinken, bis es ihm zu viel wurde und er sich mit einer Flasche ins Bett verzog. Manchmal setzte er sich an sein Keyboard, aber das, was herauskam, wenn er versuchte zu komponieren, hätte einen ausgeglicheneren Menschen als ihn in Raserei versetzt, also ließ er es ganz sein. Sein Leben war ein ständiges Auf und Ab, zerrissen zwischen Langeweile und Übersättigung. Er sah keinen Sinn mehr darin, als „Mr.-Body-and-Smile" zu gelten und wusste doch nicht, ob er es ohne die Aufmerksamkeit der Massen würde aushalten können.

    Aber wenn er es nicht gewesen war, der dieses Chaos in seinen Medikamentenbeständen angerichtet hatte, wer war es dann gewesen? Julian entschied, die Entscheidung darüber, was zu tun und die Überlegungen zu dem, warum alles geschehen war, auf die Zeit nach seiner Espresso-Orgie zu verschieben. Espresso war das einzige, was ihn nach diesen bleischweren Nächten wieder soweit auf die Beine brachte, dass er geradeaussehen konnte. Er hoffte, dass ein Espresso oder auch mehrere die Lücke in seinem Gedächtnis ein wenig schließen konnten. Aber es musste etwas geschehen. Oder nicht? War es seine Bestimmung unmerklich langsam immer tiefer im Dunkel zu versinken? Eigenartig: Es war etwas daran, dass man vorsichtig sein sollte mit dem, was man sich wünschte. Als Jugendlicher hatte er sich verzweifelt gewünscht, etwas anderes zu sein, als der Sohn und Erbe eines Industriellen der englischen Oberschicht. Er hatte gegen alles rebelliert, wofür sein Vater und sein Imperium standen, und er hatte voller Enthusiasmus jede Rebellion unterstützt, wenn sie nur gegen ihn und damit gegen das Establishment gerichtet war. Als ultimatives Zeichen seines Widerstands hatte er schließlich sein Studium abgebrochen und war Bassist in einer Rockband geworden. Seine Entscheidung hatte bei seiner Familie Entsetzen und Abscheu ausgelöst, er jedoch hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich frei gefühlt. Bis er es jedoch soweit geschafft hatte, hatte er fast zwei Jahre lang auf der schmalen Kante zwischen freiem Leben und Verhungern gelebt. Es war reiner Zufall gewesen, dass Chris Delaire an einem Abend ins Dancer’s gekommen war, in dem er seinerzeit als Kellner gejobbt hatte. Danach war es kein Zufall gewesen, sondern Neugier, die ihn am nächsten Tag in den Triple-M-Studios hatte aufkreuzen lassen, um den Castings zuzusehen. Er hatte eine solide Musikausbildung, spielte Klavier, Geige und Violoncello und hatte das eine oder andere Musikinstrument ausprobiert und er hatte seine Virtuosität mit denen der Anwärter auf den vakanten Posten des Bassisten von Chris' Band Hadessphere verglichen. Nach ein paar Stunden war er davon überzeugt gewesen, es mit allen Bewerbern aufnehmen zu können, nach zwei Tagen war er davon felsenfest überzeugt gewesen. Das Problem war nur, dass er bis zu diesem Tag niemals einen E-Bass in der Hand gehabt hatte. Kurzerhand hatte er seinen Wagen versetzt, um ein gebrauchtes Instrument kaufen zu können. Wochenlang war er jeden Tag aufgetaucht, hatte beobachtet, zugehört und gelernt, die Nächte hatte er damit zugebracht, das Gelernte zu vertiefen. Irgendwann hatte er die Zeit für gekommen gehalten, eine Chance für einen Außenseiter zu fordern - und er hatte die winzige Chance, nein, den Hauch einer winzigen Chance genutzt und war er Bassist der Rockband Hadessphere geworden. Inzwischen war er reich, berühmt, begehrt – und obwohl er sich zuerst im Himmel gefühlt hatte, belastete ihn seine Prominenz inzwischen immer mehr. Er hatte es einfach satt, die Person zu sein, die er über die Jahre hinweg geworden war; sein Hadessphere-Profil hatte nichts mehr mit der Person gemein, die er wirklich war. Bisher hatte noch keiner etwas von seinen Problemen bemerkt. Seit Warren Denning, der Iceman, seine Frauenphobie überwunden hatte und ganz in seinem brandneuen Eheglück aufging, hatte auch der Letzte der Band, mit dem er außerhalb der Auftritte ein Fass aufmachen konnte, seine Freiheit gegen die eheliche Fessel getauscht. Es musste etwas daran sein, Warren war seitdem regelrecht aufgetaut, so offen, wie nie zuvor und geradezu peinlich glücklich. Warren hatte sich wie ein Idiot verhalten und es war ein echtes Wunder, dass Kim ihm verziehen hatte. Aber wenn er es recht bedachte hätte er, Julian, es vorgezogen, dass Kim es nicht getan, sondern sich nach einem anderen Mann ganz in ihrer Nähe umgesehen hätte und dann auf ihn gestoßen wäre. Zum Teufel, wenn er nicht so übervorsichtig gewesen und ihr klargemacht hätte, dass er jedem Flirt zugeneigt war, aber ganz gewiss keine feste Bindung anstrebte, hätte mehr aus ihrem Flirt werden können, viel mehr. Kim war ein echtes Goldstück, aber Männer waren wohl allesamt kurzsichtig. Sie sahen den Schatz unter ihren Augen nicht, Talmi in der Ferne aber umso besser. Er hatte zu spät realisiert, dass er auf Gold gestoßen war, aber er hatte gute Miene zu einem verlorenen Spiel gemacht, als Kim und Ice schließlich ihre Differenzen bereinigt und zueinander gefunden hatten. Das konnte er inzwischen wirklich gut. Lächeln und dabei mit den Gedanken weit weg sein, war gar nicht so schwer. Es war eine einfache Übung, schließlich hatte er inzwischen einige Erfahrung als Schauspieler und er spielte mühelos auf der Klaviatur von Liebe bis Hass. Er musste nur den Kopf etwas in den Nacken legen, die obere Zahnreihe gerade so weit entblößen, dass man die Eckzähne sehen konnte und dabei die Augenwinkel leicht anspannen, gerade so, als ob ihn die Sonne blendete, dann konnte man aus der Entfernung kaum erkennen, dass das strahlende Lächeln eigentlich eine schmerzliche Grimasse war. Wenn nur diese verdammten Kameras nicht wären! Die Kamera war unbestechlich, sie zeigte jede auch noch so geringste Regung, auch ob sie echt oder gefälscht war. Er war aber immer auf der Hut. In den vergangenen fünf Jahren hatte er eine ungeheure Routine erworben, in der Öffentlichkeit zu sein, was er zu sein vorgab. Ein lautloses Lachen schüttelte ihn. Zu sein, was er sein wollte, korrigierte er sich. Oberflächlich betrachtet hatte er erreicht, was jeder Mensch sich nur erträumen konnte. Er war reich, viel reicher, als mancher es sich vorstellen konnte, weil er erfolgreich an der Börse spekuliert hatte und wenn er wollte, würde er keinen Tag seines Lebens mehr einen Finger rühren müssen. Er war berühmt und als Ladykiller berüchtigt und wenn er nicht auf der Bühne stand und seinen Charme versprühte, führte er das Leben eines Playboys. Inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass, wer hundert Frauen kennengelernt hatte, alle kannte und ihm nichts Neues mehr bevorstand, was eine deprimierende Aussicht für einen Mann war, der gerade einmal achtundzwanzig Jahre auf dem Buckel hatte. Sein Problem war, dass er für den Rest seines Lebens auch nicht wusste, was er stattdessen mit sich anfangen sollte. Nur eines wusste er: Es fehlte etwas in seinem Leben, das dem Verbleib auf dieser Welt einen echten Grund gab. Seit Längerem schon fühlte er sich gelangweilt, inzwischen kotzte ihn der ganze Zirkus an. Gut, nicht gerade, wenn er auf der Bühne stand. Oder doch? War es nicht so, dass auch bereits auf dem Weg zur Bühne dieses lähmende Gefühl seine Bewegungen beeinträchtigte, diese tiefe Müdigkeit, gegen die anzukämpfen immer schwieriger wurde? Was war letzte Woche in Idaho gewesen, als er am liebsten weggelaufen wäre und nur der Griff zu seinen bewährten bunten Freunden ihm die innere Ruhe wiedergegeben hatten, diesen Gig durchzustehen? Er hatte es immer genossen, ein Star zu sein, auf dem Präsentierteller zu leben und hatte sogar mehr als das Seine dazu getan, für die Öffentlichkeit interessant zu sein und zu bleiben. Irgendwie war er davon ausgegangen, es könne immer so weitergehen. Er wusste nicht mehr, wann dieses Leben begonnen hatte, ihn anzuöden. Es musste ein schleichender Prozess gewesen sein, so langsam und unmerklich, dass es bereits zu spät gewesen war, als er sich dessen bewusstgeworden war. Trotzdem hatte er wie bisher weitergemacht. Anfangs, weil er diesen Überdruss für eine vorübergehende Erscheinung gehalten hatte, später, weil er niemanden mit lächerlichen Problemchen hatte belästigen wollen. Die Lorings hatten noch nie etwas vom Verzärteln gehalten. Sei stark und siege war das Motto des Hauses und Julian hatte es mit der Muttermilch aufgesogen. Er war stark geblieben und hatte dagegen angekämpft, aber gesiegt hatte er nicht. Inzwischen spielte sich sein Leben zwischen Reizüberflutung und totaler Stille ab und er hatte in den letzten Monaten gelernt, beides zu fürchten.

    Er musste raus, dorthin, wo es Musik gab und laute Stimmen, die die Stille fraßen und Frauen, deren Gier seinen Körper betäubte. Er musste irgendwohin, wo er die schrille Ablenkung von den Gedanken fand, die seine Seele erstickten.

    *

    Das glühende Rot des Sonnenuntergangs tauchte die Stadt in flammenden Schein, spiegelte sich glutrotgolden in den Fenstern der Hochhäuser und tanzte auf dem heißen Asphalt. Dort hinten war die Market Street, die sich wie der ungeduldige Federstrich eines Kindes quer über die ordentlichen Linien des Stadtplans erstreckte. Weiter hinten war der Financial District mit den Hochhaustürmen, und direkt vor ihr der Golden Gate Park. Sie liebte diese Stadt seit dem Tag, an dem sie hier angekommen war. Aber diese Brücke hier liebte sie auf eine ganz besondere Weise. Und die Bucht natürlich, die zu jeder Tageszeit ihren eigenen, immer anderen Zauber hatte. Vom Wasser stiegen bereits Nebelschwaden auf, noch schleierdünn, aber sie wusste, dass in einer Stunde, wenn die Sonne bis zum Morgen nur noch Erinnerung sein würde, die roten Brückenpfeiler in einem Bett aus Zuckerwatte stehen würden. Zuerst würde sie das Wasser nicht mehr sehen können, dann würden die Nebel langsam ihre kalten Finger nach der Brücke ausstrecken und sie dann liebevoll umfangen. Diese Momente liebte sie, wenn die Brücke in den Wolken zu schweben schien, wenn ihre sonnenbeschienenen Stahltrossen und Träger aus einem wogendem Nichts heraus ihre harmonischen Bögen bis in die Unendlichkeit streckten. Oder den Moment, wenn die Dämmerung heraufzog und sie auf das Lichtermeer ihres San Francisco sah, wenn die roten Rücklichter der Autos wie Blut in die eine, die Scheinwerfer wie Funken die andere Richtung flossen, ein harmonischer lautloser Reigen, einer der vielen zauberhaften Einblicke, die diese Stadt gewährte. Es waren diese Momente, die Gedichte in ihr entstehen ließen, spontan, ganz ohne ihr Zutun. Sie sammelte sie in ihrem Herzen für die Zeiten, in denen sie den Trost der Erinnerung brauchte. Wenn sie nach Hause kam, schrieb sie sie auf, ja, aber nicht, um sie zu verkaufen. Sie wusste, dass niemand außer ihr sie je zu sehen bekommen würde, aber die Worte, die Bilder darin und die Gefühle, wärmten sie, wenn sie es am dringendsten brauchte.

    Jessie Grant fröstelte und bohrte ihre Fäuste tiefer in die Taschen ihres grauen Sweaters. Es war kühl geworden auf ihrem bevorzugten Aussichtsplatz und sie hatte nicht daran gedacht, eine Jacke mitzunehmen. Aber den Moment, an dem die Sonne unterging, wollte sie noch abwarten. Sie liebte Sonnenuntergänge. Unheilbar romantisch sah sie darin ein Symbol für all das, was erstrebenswert, aber meist unerreichbar war: Liebe, Glück, Vertrauen und Sicherheit. Sie bezweifelte, dass es für jemanden wie sie etwas davon geben würde. Für sie gab es nur Träume; träumen jedoch durfte sie und sie tat es ausgiebig. Sie träumte Gedichte voller Licht und Harmonie und Geschichten voller Liebe und Vertrauen, wissend, dass es Tagträume bleiben würden, aber für den Moment waren sie Trost und Halt und Gott wusste, dass sie beides brauchte.

    Jessie stopfte eine vorwitzige Haarsträhne unter die Kapuze ihres Sweatshirts und zog die Kordel fester zusammen. Der Wind war eisig und langsam bekam sie auch Hunger. Seit mehr als fünf Stunden stand sie hier oben auf der Golden Gate Brücke, länger als sonst, wenn sie hierherkam, um nachzudenken. Dies war der Platz, den sie als den ihren betrachtete, seit sie vor zwei Jahren in dieser Stadt angekommen war, mittellos, lediglich mit einer Reisetasche voller Erinnerungsstücke und voller Hoffnung, ein neues Leben beginnen zu können. Sie hatte Arbeit gefunden, schneller und leichter, als sie es sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Ein kleines Schild an einem der Läden im Mission District hatte darauf hingewiesen, dass jemand gesucht wurde, der Bücher liebte. Auf einem ihrer ersten nächtlichen Streifzüge hatte sie das Schild gesehen. Ein Buchladen. Nicht besonders groß, nicht aufsehenerregend, eher unscheinbar. Nicht einmal Schaufenster gab es, der Laden musste einmal eine Kellerwohnung gewesen sein. O’Grady’s Books stand auf einem Schild über der hölzernen Eingangstür. Als das Schild eine Woche später immer noch im Fenster hing und ihre Ersparnisse auf einen kläglichen Rest zusammengeschrumpft waren, hatte sie sich endlich überwunden und war in den Laden gegangen, um nach dem Job zu fragen. Jessie lächelte traurig. Wie hatte eine Sache, die so wunderbar begonnen hatte, so schrecklich enden können?

    Damals hatte sie zum ersten Mal den melodischen Dreiklang der alten Ladenglocke gehört. Der süß-dumpfe Duft nach altem Papier und Leder, gemischt mit Pfeifentabak und jenem Geruch, der alten Gebäuden anhaftete, die undefinierbare Mischung aus Feuchtigkeit und Zeit hatte sie vom ersten Moment an geliebt, weil er so anheimelnd gewesen war. Sie schloss die Augen, um die Tränen zurückzuhalten. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Sie sah wieder alles vor sich, so wie es an jenem sonnigen Vormittag im August vor zwei Jahren gewesen war:

    Der Laden war nicht so klein gewesen, wie es von außen den Anschein gehabt hatte. Er musste wirklich einmal eine Wohnung gewesen sein, es gab keinen Verkaufsraum, sondern mehrere verwinkelte kleine Räume und Gänge, jeder randvoll mit dunklen Holzregalen, jedes einzelne bis zur Decke reichend und überladen mit alten und neuen Büchern.

    Während sie versuchte, sich zurechtzufinden, ohne ein Geräusch zu verursachen, das O’Grady in seiner Ruhe stören hätte können, hatte O'Grady ihre Anwesenheit anscheinend völlig vergessen gehabt. Er war völlig in seinen Folianten vor sich an seiner Theke vertieft gewesen. Die einzige Ordnung in seinem Laden war wohl die, dass O’Grady nichts anderes als Bücher verkaufte. Aber die waren weder nach Autoren noch nach Sachgebieten oder nach irgendwelchen erkennbaren Kriterien geordnet. Sie schreckte auf, als ein Auto mit schrillem Hupen an ihr vorbeifuhr. Es war wieder kalt, sie war allein und hatte die Arbeit verloren, die sie liebte und sie hatte immer noch keine Ahnung, warum. Sie hatte Angst. Wovon sollte sie leben? Was war, wenn sie ihre Miete nicht mehr bezahlen konnte?

    *

    Er war bereits zweimal an dieser Stelle vorbeigefahren und hatte am Rande registriert, dass jemand dort stand. Es war zu kalt, um auf der Golden Gate Brücke herumzustehen, nur um des Vergnügens willen. Hatte er die stille Gestalt beim ersten Mal nur unbewusst registriert, hatte er sie beim zweiten Vorbeifahren bewusst angesehen. Sie stand ganz still und verloren immer noch an der gleichen Stelle und der beißende Wind zerrte an der viel zu weiten Sportkleidung. Die kleine Gestalt hatte etwas Verlorenes, Trauriges. Ein Junge, vierzehn, höchstens fünfzehn und er stand bestimmt nicht so lange da, weil er gerne Abgase einatmete. Sein erstes Rendezvous vielleicht und sie hatte ihn versetzt. Kein Wunder, dass er deprimiert aussah.

    Er hatte die Stelle gerade passiert, inzwischen vollständig davon überzeugt, dass nicht jeder Passant ein potentieller Selbstmörder war, auch wenn er erbarmungswürdig aussah, als ein ungutes Gefühl ihn noch einmal den Kopf wenden und erkennen ließ, wie sich seine gerade aufgelösten Befürchtungen zu bewahrheiten drohten. Gerade noch hatte der Junge ruhig in die Ferne gestarrt, im nächsten Augenblick zog er sich am Geländer hoch und beugte sich darüber. Mit einem Fluch riss Julian den Lenker scharf herum und fuhr quer über die Gegenfahrbahnen, riss das Vorderrad hoch und kam auf dem Gehweg zu stehen, gerade als der Lebensmüde von den Bremsgeräuschen der geschnittenen Verkehrsteilnehmer und das plötzliche, wilde Hupen erschreckt seinen Griff löste.

    Julian griff blindlings zu, erwischte eine Handvoll Sweater und zerrte den überraschend leichten Körper mehr rasch als zartfühlend aus der Gefahrenzone.

    „Was zum Teufel denkst du dir dabei?" donnerte er.

    Erschrockene dunkle Augen starrten ihn aus einem blassen Gesicht an, ein aufgerissener Mund formte einen unhörbaren Schrei. Sein Gefangener versuchte panisch, sich aus seinem Griff zu winden. Viel konnte er nicht gegen ihn ausrichten, dafür war er zu schmächtig, aber nach einem Blick auf sein Gesicht verstärkte der Kleine seine Bemühungen in einem Maß, das nur mit extremer Panik erklärbar war.

    Julian hatte eine dreitägige Sauftour hinter sich und stank nach Schweiß, Sex und Alkohol. Er war sich dessen so wenig bewusst, wie der Tatsache, dass er in der gesamten Zeit weder eine Dusche noch ein Rasiermesser zu Gesicht bekommen, geschweige denn benutzt hatte. Er hatte ein rotes Bandana nach der Art der Biker um seinen Kopf geschlungen, darunter lugte ein goldener Ohrring und verschwitzte lange Haarsträhnen hervor. Die Anspannung hatte sein Gesicht verzerrt und das Zappeln des unbelehrbaren Selbstmordkandidaten in seinem Griff war auch nicht dazu angetan, seine Stimmung zu verbessern.

    „Wie heißt du?" herrschte er ihn an.

    Sein ungepflegtes Äußeres zusammen mit der Tatsache, dass er ihr mit seinem Bike fast in die Hacken gefahren war, hätte auch ein weniger ängstliches Mädchen freiwillig in die Bucht springen lassen. Jessie hatte diese Wahl nicht. Der Mann war furchterregend, eine große, breite Gestalt in schwarzem Leder mit einem leuchtend roten Piratentuch. Seine schwarze Sonnenbrille verbarg seine Augen, aber sie spürte, wie sein stechender Blick sich durch ihre Augen bis in ihre Gedanken bohrte. Sein Mund war eine harte Linie inmitten eines ungepflegten Bartgestrüpps und über dem Steg seiner Sonnenbrille standen zwei tiefe, senkrechte Falten. Ein Pirat. Sie warf sich herum, wollte weg, so schnell und so weit, wie möglich, aber er hatte ihre Absicht wohl erkannt und umklammerte ihren Oberarm mit seiner Pranke so fest, dass die Spuren davon wohl noch in einer Woche zu sehen sein würden. Und er war wütend. Ungeheuer wütend.

    Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Wenn sie die Wahl gehabt hätte, wäre sie lieber über das Geländer in die Bucht gesprungen, als sich dieser massiven, körperlichen Bedrohung auszusetzen. Aber diese Wahl ließ er ihr nicht.

    „Nun?"

    Ein nachdrückliches Rütteln an ihrem Arm unterstrich seine Ungeduld. Seine Faust, die den Stoff zermalmte, war riesig. Er war riesig.

    „Mouse", flüsterte sie. Ob er sie bei dem Rauschen des Verkehrs nicht verstehen konnte oder ob ihm das als Information nicht ausreichend war, konnte sie nicht erkennen, nur schien es ihn nicht gnädiger zu stimmen. Seine Brauen schoben sich ein Stück weiter zusammen und die beiden senkrechten Falten dazwischen schienen sich noch tiefer in seine Stirn zu graben.

    „Eigentlich, Jessie, beeilte sie sich zu erläutern. „Aber die meisten nennen mich Mouse.

    „Also gut, Jesse."

    Die Brauen verschwanden wieder unter seiner Sonnenbrille und die Falten waren zwar noch erkennbar, aber deutlich weniger tief. Vielleicht würde er doch nicht sofort gewalttätig werden.

    „Ich tu dir nichts, also hör auf zu zittern. Aber du wirst jetzt auf dieses Bike klettern und dann bringe ich dich zu deinen Eltern. Wo wohnst du?"

    „Ich kann allein gehen."

    „Wenn du klug bist, antwortest du nur und widersprichst nicht."

    Nach einem Blick auf die wieder dichter zusammengezogenen Brauen des Piraten nahm Jessie den Rat als den besten an, den sie an diesem Tag erhalten hatte. Was war schon eine kurze Fahrt mit dem Motorrad gegen eine Tracht Prügel. Dafür, dass diese Fahrt kurz sein würde, konnte sie selbst sorgen, an der nächsten Kreuzung würde sie abspringen und davonrennen. Bis er das schwere Motorrad abgestellt hatte, war sie längst über alle Berge.

    „Mi... Mission."

    Er stieg auf sein Bike, aber ihr Hoffnung, dass er sie losließ erfüllte sich nicht. Nach einem nachdrücklichen Zerren an ihrem Arm kletterte sie unbeholfen hinter ihm auf den Soziussitz. Die Maschine strömte eine angenehme Wärme aus und ebenso sein Körper selbst durch seine Lederkleidung. Seine Hand zerrte ihre Arme nach vorn über seine Taille und drückte sie in der Position fest, die er für einen Beifahrer wohl als angemessen und richtig ansah. Er drehte den Kopf zu ihr zurück und knurrte etwas, das dem Tonfall nach eine Frage war. Sie verstand durch das Rauschen des Verkehrs nichts, entschied jedoch schnell, dass eine zustimmende Antwort auf jeden Fall die ungefährlichere war und nickte. Darauf brach um sie ein dröhnendes, vibrierendes Inferno aus. Die Höllenmaschine setzte sich in Bewegung, jedoch ohne ihr mit dem befürchteten Ruck die Arme aus den Gelenken zu reißen. Trotzdem klammerte sie sich ängstlich an ihrem barbarischen Entführer fest, drückte ihr Gesicht an seinen mit eiskaltem Leder bedeckten Rücken und hoffte auf eine schnelle Gelegenheit zur Flucht. Der Fahrtwind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie blinzelte sie weg. Das Höllengefährt machte einen Lärm, dass die ganze Welt dahinter verschwand. Nicht nur das, das Dröhnen schien sich durch jede Faser ihres Körpers fortzusetzen. Angespannt und auf den günstigsten Augenblick hoffend verfolgte Jessie den Weg der rasenden Bestie durch den Feierabendverkehr. Der Wahnsinnige schien Vergnügen daran zu finden, zwischen langsamer fahrenden Verkehrsteilnehmern hindurch Slalom zu fahren und ihr damit noch rasch ein Bein abzureißen, bevor er ihr endgültig den Garaus machte.

    Jessie hatte Todesangst. Sie war ohnehin bis auf die Knochen durchgefroren und der eisige Fahrtwind machte ihre klammen Finger innerhalb kürzester Zeit völlig gefühllos. Jeden Moment würde sie sich nicht mehr halten können und zwischen die dicht aufeinanderfolgenden Autos stürzen, die dann nicht mehr rechtzeitig bremsen konnten. Ein Unfall, würde der Pirat der Polizei sagen, sie hat plötzlich losgelassen. Unbekannte weibliche Leiche würde im Obduktionsbericht stehen und als Todesursache ein paar lateinische Ausdrücke - Aphorismen für die unappetitlichen Details. Und wenn sie nicht auf der Straße starb, drohte ihr ein noch schlimmeres Schicksal. Er war gewalttätig, sein Griff hatte es zur Genüge bewiesen. Wenn es ihr nicht gelang, vor dem Mission Distrikt zu fliehen, wo er unweigerlich anhalten und sie nach ihrer Adresse fragen würde, war es garantiert um sie geschehen.

    Er hatte wohl nicht

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