Das Theater in der Bond Street
Von Fritjof Guntram
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Das Theater in der Bond Street - Fritjof Guntram
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Der Hunter’s-Klub war an jenem Abend überfüllt.
Es waren nicht nur die Leute gekommen, die gewöhnlich Abend für Abend die anheimelnden Räume des vornehmen Klubs im Londoner Westend überfüllten — nein, auch diejenigen Klubmitglieder, die höchstens alle paar Monate zu erscheinen pflegten, waren gekommen. In ihren dunklen Anzügen verliehen sie dem Abend den Anschein eines gesellschaftlichen Ereignisses — und das, obwohl im Grunde gar nichts Besonderes los war. Man wollte lediglich einen Mann sehen, auf den sich das allgemeine Interesse konzentrierte, den berühmten Erfolgsmusiker, Komponisten und Dirigenten Antonio Ostrelli.
Als Peter Dixon gegen neun Uhr im Klub eintraf, befand sich dieser Ostrelli gerade in lebhaftem’ Gespräch mit einem Theaterdirektor. Peter warf einen neugierigen Blick auf diesen Mann, der wegen einer ebenso undurchsichtigen wie aufsehenerregenden Skandalgeschichte zum Tagesgespräch von London geworden war, was schon etwas heißen wollte.
Peter Dixon wußte nichts Genaues. Er hatte lediglich von einem Prozeß gehört, in den Antonio Ostrelli verwickelt sein sollte, und da er gern Näheres gewußt hätte, war er in den Klub gekommen. Denn obwohl Ostrelli nicht Klubmitglied war, so waren doch seine sämtlichen Entlastungszeugen in diesem Klub. Und Peter wußte, daß es unmöglich war, auch nur zehn Minuten im Klub zu sein, ohne über alle wichtigen und unwichtigen Ereignisse, über die man gerade sprach, bestens informiert zu sein.
Richtig — er hatte gerade die Bar erreicht, als er einen freundschaftlichen Rippenstoß in die Seite erhielt und einer seiner Freunde namens Denny O’Hara ihn begrüßte.
„Ich bin wegen Ostrelli hier, sagte Denny und wies mit dem Kopf auf den in einer Ecke lebhaft plaudernden Dirigenten, „und du wirst es nicht glauben, Peter, der Klub ist heute abend nur deshalb so voll, weil erwachsene Männer wie die Klaschtanten neugierig sind.
Denny grinste vergnügt. Er war gleichaltrig mit Peter und stammte aus Baltimore in Irland. Denny hatte ein immer lachendes Gesicht mit Sommersprossen und leuchtend blauen Angen, über dem sich ein borstiger roter Haarschopf gegen alle Regeln der neuzeitlichen Haartracht zu wehren schien. Wenn er sprach, dann war sein irischer Akzent so dick, daß man ihn hätte mit einem Messer schneiden können.
Peter fragte:
„Weißt du eigentlich Genaues über diesen Antonio Ostrelli?"
Denny nickte.
„Ich bin einigermaßen informiert. Es handelt sich um folgendes: Irgendein junger Nachwuchsmusiker mit Namen Robert McLaurin hat in seine Luxusvilla eingebrochen und ihm die Noten seines neuesten Werkes, einer Operette mit dem Titel ,die verschwundene Prinzessin’, gestohlen, oder genauer, die ersten beiden Akte dieser Operette. Ostrelli hat ihn wohl gesehen und angezeigt. Die Polizei fand bei ihm die Noten. Morgen nun macht man ihm den Prozeß."
„Das ist doch nichts Besonderes", meinte Peter enttäuscht.
„Freilich nicht, sagte Denny. „Interessant wird es erst dadurch, daß dieser McLaurin den Spieß umdreht und seinerseits behauptet, Antonio Ostrelli hätte ihm zuvor die Noten gestohlen. Es geht also um ein Plagiat. Die Leute glauben, daß McLaurin morgen eine überraschende Neuigkeit vorbringen wird, um zu beweisen, daß er der Verfasser ist. Ich persönlich glaube das nicht, aber man wird ja sehen. Ostrelli hingegen hat lauter Sachverständige als Zeugen mobilisiert, die ihm bestätigen sollen, daß ,die verschwundene Prinzessin’ von ihm ist. Dabei ist der Fall sonnenklar. Er hat alle Vorteile auf seiner Seite. Dieser McLaurin kann den Einbruch nicht ableugnen. Er kann auch keinen vernünftigen Grund für den Diebstahl angeben außer eben seiner Behauptung, Ostrelli hätte die Operette vorher von ihm gestohlen. Muß ein ziemlicher Wirrkopf sein, der Bursche.
Peter sah hinüber zu dem Dirigenten und musterte dessen hohe, schlanke Gestalt. Ostrelli trug einen dunklen Smoking von untadelhaftem Schnitt. Ueber seiner hohen Stirn war das für seine sechzig Jahre noch erstaunlich dichte, silberweiße Haar in der Mitte gescheitelt. Seine lebhaften, dunklen Augen erinnerten an seine Herkunft. Ostrelli war in Italien geboren und hatte sich in England naturalisieren lassen. Seit zwanzig Jahren hatte er sich einen Namen gemacht durch seine Operetten, deren Premieren er stets selbst dirigierte. In den letzten Jahren hatte man zwar weniger von ihm gehört, aber man hatte erfahren, daß er an einer neuen Operette arbeitete. Um diese Operette schien es sich jetzt zu handeln.
„Uebrigens ist der Prozeß gegen McLaurin noch in anderer Hinsicht interessant, berichtete Denny. „Es heißt, daß Ostrellis Frau darin eine willkommene Gelegenheit sieht, sich der Oeffentlichkeit wieder einmal zu präsentieren. Sie war einmal eine sehr bekannte Schauspielerin. Damals nannte sie sich Mira Dawns.
„Der Name ist mir bekannt, sagte Peter nachdenklich, „war sie ein Filmstar?
„Ja — und einer mit fünf Scheidungen, sagte Denny ergänzend. „Ostrelli ist ihr sechster Mann. Bei ihm scheint sie endgültig gelandet zu sein, obwohl er fast dreißig Jahre älter ist als sie. Aber er ist sicher der berühmteste von all ihren bisherigen Ehemännern, die übrigens eine abwechslungsreiche Skala umspannten: vom arabischen Oelprinzen bis zu einem berüchtigten Catcher und einem Luftwaffenpiloten. Zwischendurch war sie die Frau eines abstrakten Malers und eines amerikanischen Hotelmillionärs. Ah, wie diese Leute leben!
Er dehnte sich wollüstig und betrachtete mit unverhohlenem Interesse den Dirigenten.
„Man sagt, er umspannt mit einer Hand zwei Oktaven am Klavier, erzählte er, „das scheint mir aber ziemlich unwahrscheinlich.
Peter fragte:
„Wer ist der Mann, mit dem er spricht?"
„Das ist Walter Rambling, der Direktor vom Viktoria-Theater."
Der Theaterdirektor war ein schwerer, massiger Mann mit vierschrötigem, leicht gerötetem Gesicht. Er sah aus wie ein Fleischer im Smoking. Trotzdem waren ihm in den letzten Jahren die erfolgreichsten Neueinstudierungen der jeweiligen Saison in seinem Theater gelungen. Neben ihm stand ein zierlicher, kleiner Mann mit durchgeistigtem Gelehrtenkopf.
„Das ist F. W. Henderson, verkündete Denny so großartig, als stelle er Shakespeare persönlich vor, „unfehlbarer Theaterkritiker. Wenn die Leute im Theater waren, können sie am anderen Morgen in seiner Kritik in der Zeitung lesen, ob es ihnen gefallen hat. Weißt du übrigens, was ein gescheiter Mann einmal von den Kritikern sagte? Das sind Menschen, die sind wie Leute ohne Beine, die anderen Unterricht im Laufen erteilen wollen.
Er fuhr übergangslos fort: „Neben Henderson siehst du Henry Cohen, den kleinen Dicken da. Er ist Inhaber eines Musikverlages. Das sind die Leute, die Ostrelli für den Prozeß morgen aufgetrieben hat."
„Es sieht doch fast so aus, als hätte Ostrelli Angst vor diesem Prozeß."
„Keineswegs, meinte Denny, „denn wenn du mich fragst, so glaube ich, daß seine Frau hinter dem ganzen Aufwand steckt. Sie will wieder einmal einen großen Auftritt haben. Früher soll sie ja statt Talent lediglich platinblondes Haar gehabt haben — ach ja, und eine gute Köchin soll sie gewesen sein.
Peter hörte dem Freund gern zu. Dennys Mangel an Respekt hatte etwas Gesundes. Denny winkte jetz dem Barmixer.
„Noch einen Whisky, sagte er, „nein, lieber zwei. Du läßt dich doch zu einem Whisky einladen, Peter?
„Gewiß, versicherte Peter, „sparsame Leute lassen sich immer gern einladen.
Sie tranken, und dann fuhr Denny fort:
„Habe ich dir eigentlich schon erzählt, daß ich Mira Dawns von früher her gut kenne?"
Ueberrascht setzte Peter sein Glas nieder.
„Nein, das ist mir völlig neu. Wie bist du in diesen feudalen Kreis geraten?"
Denny verdrehte melancholisch die Augen.
„Das ist eine rührende Geschichte, Peter. Du wirst es nicht glauben, aber Mira Dawns war früher einmal ein ganz armes Mädchen, das nicht einmal Mira Dawns hieß, sondern einen ganz gewöhnlichen Namen trug, an den ich mich aber aus Taktgefühl nicht mehr erinnere. Wir wohnten in derselben Straße von Baltimore, droben in Irland. Ich erinnere mich noch daran, wie sie jeden zweiten Tag mindestens ein aufgeschundenes Knie vom Spielen hatte — damals, als sie noch klein war. Dann wurde sie größer und ging nach London. Mit vierzehn Jahren hatte sie ihre erste Filmrolle, mit fünfzehn saß sie in der Erziehungsanstalt, und mit sechzehn brannte sie mit ihrem ersten Mann, dem arabischen Oelprinzen, durch. Und ich — ich habe in der ganzen Zeit nicht einmal meine Stellung gewechselt. Bin ich nicht ein seriöser Mensch im Vergleich mit solchen Schauspielern?"
„Und jetzt? fragte Peter. „Kennt sie dich noch?
„Natürlich, erwiderte Denny, „welche Frau in der Welt kann mich vergessen! Neulich war ich bei den Ostrellis eingeladen, das heißt, er war gerade verreist, und sie war allein zu Hause. Aber das störte mich nicht. Ich habe mich sehr angenehm mit ihr unterhalten. Stell dir vor, sie sagt, ich sei ein Stück ihrer Jugend. Sie roch dauernd an mir, und dann sah sie mir tief in die Augen und sagte schwärmerisch …
„Na, was?"
„Ich hätte genau den Geruch von der Court Street in Baltimore an mir. Soll ich das nun als Kompliment auffassen?"
„Ich täte es nicht", meinte Peter.
Denny kratzte sich am Kopf.
„Trotzdem ist es gut, Beziehungen zu haben, verkündete er, „sieh mal, was ich hier habe.
Er zog zwei weiße Karten aus der Brusttasche.
„Das sind zwei Eintrittskarten für den Prozeß morgen. Der Andrang ist so groß, daß man Eintrittskarten ausgegeben hat, obwohl das sonst nicht üblich ist. Aus irgendeinem Grunde findet man den Prozeß morgen aufregend. Du wirst eine Menge Prominenz im Zuhörersaal sehen."
„Wieso ich?"
„Weil wir beide uns morgen den Prozeß ansehen werden. Die Karten habe ich von Mira Dawns persönlich erhalten."
Peter war einigermaßen überrascht.
„Hältst du es für so bedeutsam, daß wir uns morgen diesen Prozeß ansehen?" fragte er.
Denny lächelte.
„Aus einem Grunde, ja. Ich bin überzeugt davon, daß wir morgen einen kleinen Skandal erleben. Ich kenne doch meine Mira Dawns. Sie wird bestimmt für einige Ueberraschungen sorgen. Als sie noch filmte, war sie bekannt als Spezialistin für Kleiderrisse und ähnliche Scherze. Seit sie Ostrellis Frau ist, muß sie sich zwar ein bißchen sittsam benehmen, denn Ostrelli gilt ja als ernsthafter Musiker. Aber sie hat immer noch das krankhafte Verlangen, um jeden Preis Aufsehen zu erregen — und dazu ist dieser Prozeß wie geschaffen. Deswegen, mein Bester, deswegen werden wir uns ihn anschauen. Wir sitzen unmittelbar neben dem Herzog von Dartshire, und vor uns sitzt Lord Ungar. Da soll noch einer sagen, daß wir uns nicht in der besten Gesell-Schaft von London bewegen."
„Mir scheint, daß diese beste Gesellschaft ihre Frauen daheim lassen wird", meinte Peter.
„Selbstverständlich, nickte Denny vergnügt, „man erinnert sich noch zu gut an die Zeiten, da Mira Dawns sich bei größeren Parties durch tiefes Luftholen von ihren Kleidern befreite. Selbstverständlich läßt man daher morgen die Ehefrauen daheim. Mira Dawns weiß das natürlich auch. Und ich möchte wetten, daß sie ihr Publikum nicht enttäuscht — wie gesagt, deswegen gehen wir morgen dorthin.
„Sie muß eine faszinierende Frau sein", stellte Peter freimütig fest.
Eine tiefe männliche Stimme hinter ihm sagte:
„Mir scheint, Sie sprechen von meiner Frau."
Peter fuhr herum und sah sich Antoni Ostrelli gegenüber, der unbemerkt näher gekommen war und ihn jetzt ironisch ansah. Bevor er aber etwas sagen konnte, erwiderte Denny:
„Sie haben’s erraten, Mr. Ostrelli. Es fällt einem schwer, von Ihnen zu sprechen und Ihre Frau dabei auszulassen."
Denny schien Ostrelli schon zu kennen. Er stellte Peter dem Musiker vor, und als Peter mit dem Musiker sprach, fiel ihm auf, daß dessen Gesicht keinen Augenblick lang seinen ironischen Ausdruck verlor. Aus der Ferne war Ostrelli ein ungewöhnlich gutaussehender Mann, aber aus der Nähe wirkte er noch älter, als er schon war. Er hatte eine angenehm klingende, tiefe Stimme, die den italienischen Akzent nicht ganz verleugnen konnte. Mit ihr wandte er sich jetzt an Peter:
„Ich vermute ferner, Sie sprechen von meinem morgigen Prozeß. Wie schätzen Sie meine Aussichten ein, Mr. Dixon?"
„Soweit mir der Fall bekannt ist, sagte Peter vorsichtig, „scheint mir alles, aber auch alles für Sie zu sprechen. Ich kenne Robert McLaurin flüchtig und halte ihn für einen Menschen, der ein ziemlicher Wirrkopf ist, eben ein richtiger Musiker — pardon, Mr. Ostrelli, das sollte kein Vorwurf gegen Sie sein. Aber ich kann nicht verstehen, wie ein einigermaßen normaler Mensch behaupten kann, er hätte eine Operette geschrieben, die von Ihnen ist.
„Das bereitet auch mir Kopfzerbrechen, sagte Ostrelli mit verbindlichem Lächeln, „natürlich ist das, was McLaurin da behauptet, purer Unsinn. Es gibt jedoch Leute, die schon lange etwas gegen mich haben und die diese Behauptung jetzt mit Wonne aufgreifen, um mir zu schaden. Haben Sie die neueste Ausgabe des ,Evening Mirror’ gelesen?
„Nein", sagte Peter.
„Das Blatt gehört Lord Randolph, sagte Ostrelli, „der schon lange mein Gegner ist. Als ich vor zwanzig Jahren meine erste Operette herausbrachte, schrieb er im ,Evening Mirror, die Einleitung hätte ich von Mozart abgeschrieben, der Hauptteil stelle eine Mischung aus Liszt und Tschaikowsky dar, und das Finale sei wieder von Mozart. Daß dieser Mann mit derselben Unverfrorenheit heute wieder in seiner Zeitung schreibt, ich hätte von McLaurin abgeschrieben, ist zwar kein Wunder, aber trotzdem bedauerlich.
„Und Sie wollen sich dagegen mit aller Entschiedenheit wehren", sagte Denny.
„Selbstverständlich, versicherte Ostrelli lebhabt, „ich habe eine Menge namhafter Sachverständiger aufgeboten, die bestätigen werden, daß die Operette ,Die verschwundene Prinzessin’ von mir ist, von Antonio Ostrelli, dem Altmeister der Operette, und nicht von dem Anfänger Robert McLaurin. Das wird F. W. Henderson vom Stil her bestätigen, Walter Rambling von der Technik her, und schließlich wird Henry Cohen bezeugen, daß das Stück in meiner bevorzugten Tonart geschrieben ist.
Welche ist das?" fragte Peter.
„F-Dur, sagte Ostrelli in einem Ton, als wäre F-Dur seine eigene Erfindung. Er fuhr fort: „Außerdem werden meine Frau, meine Wirtschafterin und mein Sekretär bezeugen, daß ich seit Monaten an dieser Operette arbeite. Ich bin kein Jurist, aber selbst mein Laienverstand sagt mir, daß sich kein Richter vor so einleuchtenden Argumenten verschließen kann. Was meinen Sie dazu?
„Sie werden den Prozeß zweifellos gewinnen", sagte Denny.
„Das meinen Sie",