Erkundung
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Buchvorschau
Erkundung - Catherine Safonoff
1
Ich wartete auf das Schiff nach Patmos. Es war eine Nacht Anfang Oktober 1980. Wir saßen zu dritt am Ende der Mole, lehnten in ihrem Windschutz an den Steinen, ein Junge und ein Mädchen aus Namur, die überzeugt waren, dass ein Schiff kommen würde. Ihre Zuversicht, ihre Gesellschaft in der windigen Nacht und dass wir dieselbe Sprache sprachen, das tat gut.
Victor hatte die Insel verlassen; seitdem atmete ich wieder. Ich werde nie begreifen, was er für mich empfand. Victor ist tot, wir haben nie über diese Reise gesprochen. Ich habe ihn nur einmal wiedergesehen, lange nach meiner Rückkehr, zufällig, in der Rue Cingria. Ich würde Ihnen gern sagen, habe ich angesetzt, wirklich, ich würde Ihnen gern danken, ohne Sie –
Er winkte ab – nicht nötig. Eines Tages hatte er eine Zugfahrkarte auf meinen Schreibtisch gelegt. Damals arbeitete ich abends in einem Büro als Telefonistin. Victor war eine Nachtbarbekanntschaft. Die Zugfahrkarte Genf-Ancona schien uneigennützig, ich hingegen erhoffte das Unmögliche von dieser Reise. Er war Kulturjournalist und fuhr für eine Recherche über das griechische Kino nach Athen. Verheiratet, Kinder, woran mich Nersès, der Barkeeper des Le Bagdad, nachdrücklich erinnert hatte.
Victor und ich siezten uns; ich schätzte die Förmlichkeit. Er war ein hervorragender, scharfer, von seinen Kollegen gefürchteter Kritiker; er nahm Kokain, rauchte Player’s, mochte Robert Mitchum, Roger Vailland, Antoine Blondin und Raymond Chandler. Wir hatten eine Beziehung gegenseitiger Einschüchterung, so fuhr ich in meinem schwarzen Mini Cooper immer zu schnell; im Handschuhfach lag eine Spielzeugpistole aus Metall, die Victor für eine echte hielt. Er war kurzsichtig und erkannte auf der Straße nur, wen er wollte; Jeans, marineblaues Sakko, groß, mager, breite Schultern, eine braune Haarsträhne quer über der Stirn, gedämpfte, leicht spöttische Stimme, seltsamer Gang, eine Schulter vorgeschoben: Das war mein Fährmann. Ohne ihn wäre ich nicht aufgebrochen. Das wollte ich ihm sagen, drei oder vier Jahre später in der Rue Cingria.
Im Zug erzählte er mir von seiner Frau. Das würde der einzige Moment sein, in dem er ganz normal mit mir sprach. Er erzählte mir, wenn er sie ins Restaurant einlade, sei sie sehr schweigsam. Sie wirke zufrieden, sage aber fast nichts. Er beschrieb mir ihre großen Augen; offenbar liebte er sie. Und warum haben Sie nicht sie zu der Reise eingeladen?, fragte ich.
Er wich aus. Ich schlug ihm psychologische Erklärungen für das Schweigen seiner Frau vor. Er hatte eine Leinentasche mit aufgerissenem Reißverschluss, und seine paar Sachen schauten heraus. Ich holte Nähzeug aus meinem Gepäck und begann die Tasche zu nähen. Das geschieht kurz nach der Abfahrt des Zuges. Victor sieht mir ungläubig zu. Meine familiäre Geste passt nicht zur Rolle der einsamen Frau im verrauchten Dämmerlicht der Bar Le Bagdad in der Rue Neuve-du-Molard.
Nersès weigerte sich, mir noch ein Glas zu bringen. Du machst dich kaputt, Catherine, du benimmst dich unmöglich, deine Sache, aber lass die Finger von Victors Ehe. Ich schätze Victor, und seiner Frau kannst du nicht das Wasser reichen, tut mir leid. Nersès war in Alexandria geboren und wohnte mit seiner Mutter zusammen, er legte sich die beringte Hand aufs Herz – eines Tages wirst du dir in den Hintern beißen wegen deines Benehmens, Catherine, kleine Intrigantin, armer Unglücksrabe. Ich habe gehört, du hast einen Roman geschrieben. Bravo. Und dann hast du auch noch Kinder. Wie kannst du deine Kinder verlassen? Was für ein Elend, ehrlich, so eine Schande. Dann rezitierte er ein Gedicht von Konstantínos Kaváfis und bediente mich doch.
Im Bahnhof von Mailand verbreiten die Schlangen in einem Vivarium ein schlechtes Omen, ich glaube zu sehen, wie sie langsam von ihren toten Ästen heruntergleiten und mich hinter der Scheibe züngelnd anstarren. An die nächtliche Überfahrt Ancona-Patras erinnere ich mich wie an einen langen Tunnel; ich rühre mich nicht von meinem Sitzplatz auf einem Innendeck. Schon jetzt kommunizieren Victor und ich kaum noch. Er dachte, ich könnte etwas Griechisch. Wir gehen in die Oberstadt von Patras und setzen uns in ein Restaurant. Trinken Sie keinen Wein?
Ich denke wieder an die bei Tisch stumme Ehefrau. Sie schweigt, aber isst und trinkt mit gutem Appetit, und sie hat schöne Augen. Victor hatte den Zug und das Schiff bezahlt, er siezte mich – wogegen schützten diese Höflichkeiten?
Das Zimmer in Patras ist schmal und hoch, zwei Betten nebeneinander. Ich rolle meinen Schlafsack aus. Morgens ist mir kalt. Victor hat die Decke im Schlaf zu sich gezogen. Am Nachmittag warten wir auf den Reisebus nach Athen. Victor trinkt Bier, ich trinke auch, verstoße gegen meinen Abstinenzvorsatz. Das zählt nicht, ich mag kein Bier. Nach zwei Stunden Fahrt muss ich dringend aufs Klo, aber kein Halt bis Korinth. Dreißig Kilometer weiter das Gefühl, dass meine Blase platzt, gleich mache ich in die Hose. Ich gehe nach vorn zum Fahrer, tue so, als müsste ich mich übergeben, er hält. Ich habe kaum Zeit, meine Unterhose runterzuziehen und mich hinzuhocken. Keine Chance, mich aus dem Licht der Scheinwerfer zu entfernen, vor den Augen aller Fahrgäste pinkle ich lange und steige sehr würdig wieder in den Bus. Die große Catherine, sagt Victor.
In den nächsten Tagen in Athen hat er Termine wegen seines Artikels, wir sehen uns kaum. Warum bin ich nicht abgehauen? Ich hatte das Geld von dem schwarzen Mini, ich hatte einen Plan, der aber ängstigte mich so sehr, dass es einfacher war, bei Victor zu bleiben. Ich hatte die Kinder der Aufsicht ihres Vaters überlassen, dem seine Freundin beistand; ich fuhr angeblich weg, um mein zweites Buch zu schreiben; tatsächlich fuhr ich weg, um mir ein anderes Leben zu kaufen. Mein erster Roman handelt von einer ehebrecherischen Beziehung, der Liebhaber geht, die ehelichen Unstimmigkeiten verschlimmern sich, der Ehemann will einen Sexologen aufsuchen, die Frau findet die Idee obszön. Was der Mann obszön findet, ist die kleine Romanze seiner Frau.
Meine Zeit mit Victor ist bald vorbei. An einem sonnigen Nachmittag gehen wir durch die Straßen von Monastiraki, zum Flohmarkt von Athen. Er hat gute Laune und greift nach dem Rock, der an einem Stand hängt, ein seltsames Ding, unten mit Spitzen, voller Pailletten, er erinnert an einen Narrenhut. Es ist die Zeit der Klamotten made in India. Er kauft ihn mir. Das ist das Flitterzeug von Esmeralda, der Zigeunerin mit der Ziege aus Notre Dame de Paris. Victor hat La part d’Esmé gelesen, er hat eine amüsierte Kritik über diesen ersten Roman von mir geschrieben.
Am Ende des Aufenthalts wurden wir in eine große Villa in den Hügeln von Athen eingeladen. Terrassen, Amphoren, Karyatiden, Bougainvilleas. Lüster, Diener, Düfte, große Blondinen. Schnell bin ich betrunken und verziehe mich. Ich schlurfe durch die Straßen, sinke am Fuß eines kleinen Baums zusammen, weine. Am Morgen finde ich zum Hotel zurück. Victor schläft nackt auf dem Bett. In Licht getauchtes Zimmer, großer Mann liegt nackt auf dem Bett, Frau sitzt in einer Ecke auf dem Boden. Morgen nehmen wir das Schiff, das war geplant, wir machen einen Ausflug.
Ich werde sie wiederfinden, den Jungen und das Mädchen aus Namur, die Mole in der Nacht, den Wind, das Meer, nachdem Victor fort, er und ich einander endlich los wären. Nackt, schlafend kommt er mir sehr groß vor, dünn, gut gebaut, blasse Haut, braune Behaarung. Das Laken hängt auf dem Teppich, der Schläfer liegt auf der Seite, das Gesicht im Kissen. Er schläft. Schläft er? Jetzt dreht er sich