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Werte Käfer und andere Gruselgeschichten
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eBook209 Seiten3 Stunden

Werte Käfer und andere Gruselgeschichten

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Über dieses E-Book

Dubrovnik, das zur touristischen Kulisse erstarrt ist. Konsum, der jede Menschlichkeit ersetzt. Emotionen, die so nicht in der Werbung vorkommen. Der Alltag zwischen Handy-Knebelverträgen, Shopping mall und IKEA-Katalog. Maša Kolanovic erforscht die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen in unserer kapitalistischen Gesellschaft. Kunstvoll und mit viel Humor, grotesk und realistisch zugleich – nicht umsonst spielen ihre Insekten-Metaphern auf Kafka an – erzählt sie von der engen Verflechtung von Leben und Tod. Die Protagonist*innen versuchen ihre Würde zu bewahren, während sie sich durch die Absurdität des Daseins kämpfen und manchmal die Kontrolle verlieren. Zwölf Geschichten, die Spuren hinterlassen – manchmal unheimlich und immer unheimlich gut.
SpracheDeutsch
Herausgebereta Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2024
ISBN9783949249204
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    Buchvorschau

    Werte Käfer und andere Gruselgeschichten - Maša Kolanović

    Maša Kolanović

    Werte Käfer

    und andere Gruselgeschichten

    1. Auflage 2023

    © eta Verlag

    Alle Rechte vorbehalten

    eta Verlag | Petya Lund

    Schönhauser Allee 26

    10435 Berlin

    www.eta-verlag.de

    kontakt @ eta-verlag.de

    Lektorat: Anne Grunwald

    Titelfoto: Wikimedia Commons (Kreditkarten),

    Dreamstime / Cammeraydave (Kakerlake)

    Gestaltung, Satz und Bildmontage: Stefan Müssigbrodt

    Originaltitel: POŠTOVANI KUKCI i druge jezive priče,

    erschienen bei: Profil Knjiga, 2019

    ISBN 978-3-949249-20-4

    Maša Kolanović |

    Werte Käfer

    und andere

    Gruselgeschichten

    Aus dem Kroatischen

    von Marie Alpermann

    creative europe

    The European Commission's support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflect the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

    Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

    Nika gewidmet,

    für ihren Mut und ihre Zärtlichkeit

    Lebendig begraben

    Der letzte Wunsch meiner Tante war, am Tag nach der Beerdigung dreimal angerufen zu werden. Und zwar auf dem Handy, das wir mit ihr zusammen vergraben sollten. Morgens, mittags und abends, so hatte sie es mit zittriger Handschrift auf einen Zettel geschrieben, der neben ihren persönlichen Sachen im Altersheim in Pile auf uns wartete. Mehr als vor dem Tod hatte sie sich davor gefürchtet, lebendig begraben zu werden, und sie war von dieser Angst im letzten Jahr, seit sie bettlägerig wurde, geradezu besessen. Angeblich war vor gut hundert Jahren eine entfernte Verwandte von ihr in Boninovo bei lebendigem Leib begraben worden, kurz nachdem das Bordell zum städtischen Friedhof umgewandelt worden war. Bei der nächsten Bestattung im selben Grab fand man den Sarg der Unglücklichen offen, ihre Kleider zerrissen, die Arm- und Beinknochen gebrochen, und deutete dies als erfolglosen Befreiungsversuch aus dem entsetzlichen Tod. Es gab allerdings auch eine andere Theorie, nämlich dass der Bestatter auf der Suche nach Gold, das gewöhnlich mit den Angehörigen aristokratischer Familien begraben wurde, doch tatsächlich unter größten Anstrengungen versucht hatte, die Verstorbene aus dem Sarg zu holen. Dieser Unglückliche wiederum versuchte nämlich verzweifelt, seine arme Familie vor dem Hunger zu retten. In den Siebzigern schrieb einer unserer Verwandten sogar einen Feuilletonartikel im Vjesnik darüber. Im Heim vor sich hin zu vegetieren und den eigenen Gedanken überlassen zu sein, ließ der Fantasie meiner Tante in dieser Richtung freien Lauf. Mein Bruder und ich blieben also nach der Beerdigung noch einen Tag in Dubrovnik, um ihr den letzten Wunsch zu erfüllen. Von der Dubrovniker Seite der Familie wollten wir niemanden bitten, diese Torheit auszuführen. Im Grunde hatte sich auch mein Bruder zunächst geweigert, doch dann war es mir gelungen ihn zu überreden, dass wir bleiben und ihren letzten Wunsch erfüllen, wie verrückt er auch sein mochte. Die Tante hatte keine eigenen Kinder, war nie verheiratet gewesen, und die übrigen Verwandten waren eher von der kalten Sorte, von der du nichts erwartest, die du um nichts bittest und zu der du lieber auf Distanz bleibst, selbst noch im Jenseits. Unsere Mutter war bereits dermaßen entkräftet, dass sie nicht mal zum Begräbnis ihrer Schwester kommen konnte. Außerdem schien Dubrovnik von Zagreb aus am Ende der Welt zu sein, irgendwo unter dem südlichen Wendekreis. Schon die letzten Jahre waren mein Bruder und ich die Einzigen aus der »nördlichen« Verwandtschaft, die einmal pro Jahr, manchmal auch seltener, zu Besuch kamen. Aus nördlicher Perspektive verging ein Jahr wie im Flug, während sich unsere Tante im selben Jahr voll und ganz auf ihren Verfall, der unerträglich langsam und unumkehrbar vonstattenging, konzentrieren konnte. Von einem Jahr aufs nächste passierte ein Haufen Veränderungen zum Schlechten. Krücken, Rollstuhl, Bettlägerigkeit. Zunächst ein kaputtes Knie, dann ein Schlaganfall und schließlich eine kaputte Hüfte, die sie vollends ans Bett fesselte – so sahen die Stadien ihres langsamen Aufgebens aus. Schon bei den ersten Beschwerden, die verglichen mit denen, die folgen sollten, harmlos wirkten, schien sie eine bedingungslose Kapitulation unterschrieben zu haben und sich seither ihrem Sturzflug in den Abgrund hinzugeben, bis dieser vor ein paar Tagen sein endgültiges Ende fand. Vor einem knappen Jahr, als wir sie das letzte Mal lebend sahen, lag sie unbeweglich im Bett, hager, regungslos, wahrscheinlich mit Medikamenten vollgepumpt, die den Alten im Heim gespritzt wurden, damit sie nicht jammern oder herumnörgeln. Weil sie ihre Zahnprothese nicht mehr trug, fielen ihre Lippen nach innen, so eingefallen erinnerte ihr Gesicht an eine getrocknete Feige. Sie verlor konstant an Gewicht. Sie aß wie eine Maus – teils vor Entkräftung, teils aus Niedergeschlagenheit, teils wegen der Medikamente, die jeden Lebensfunken erlöschen ließen –, gerade so viel, dass sie sich am Leben hielt. Die verkümmerten Muskeln und die schlaffe Haut ihrer Beine, in Windeln auf dem Bett ausgestreckt, sahen aus wie Hühnerflügel. Wir verstanden sie akustisch nicht mehr, doch sie redete ohnehin wirr. Nur ihre Augen sprühten beharrlich weiter letzte Funken, von ihnen ging eine unerträgliche Traurigkeit aus, die sich am Horizont, irgendwo über unseren Köpfen verlor. Ich brach regelmäßig in unkontrolliertes Weinen aus, wenn ich diesem Blick begegnete. Aber vielleicht weinte ich gar nicht ihretwegen. Wir waren schließlich weit weg, sie im Süden, wir im Norden, seit langem daran gewöhnt, ohneeinander zu leben. Ich weinte wegen dem, was ihr geschah und was auch uns – hilflosen, zerbrechlichen Wesen von kaum längerer Haltbarkeit als der Lebensdauer von Käfern – geschehen würde. Sie streckte mir dann jedes Mal ihre knochigen Finger mit den ungeschnittenen Nägeln entgegen. Und jedes Mal beunruhigte und ängstigte mich ihre Bewegung ein wenig. Sie erinnerte mich daran, wie unerträglich allein wir unter unseren Panzern bleiben.

    Bei unseren letzten Treffen, als sie noch auf den Beinen, in ihrer Wohnung, ihrem Körper und in ihrem Element war, ganz sie selbst, beklagte sie sich in einem fort über die Stadt. Sie sprach es Stodt aus. Es gibt ja kein einzgen normalen Laden mehr in der Stodt. Ich kann nich mal mehr meine Armbanduhr reparieren lassen in der Stodt. Die Placa ist jetzt ein einzges Souvenirgeschäft. Gescheiten Peterli findest auch nirgends. Bloß mehr Arancini und Limuncello und Kotonjata in Zellophan mit Schleife, als ob wir Stodtleut davon leben täten. Blumen fürs Grab kriegst auch nirgends mehr. In der Stodt den Mantel kürzen oder den Rock enger machen lassen? Vergiss es. Cruiser landen hier bei uns, die sind größer als die ganze Stadt. Ich muss doch echt bis nach Gruž fahrn, ums Futter für die Katzen zu besorgen. Eine ganze Schar Katzen wurde von ihr durchgefüttert. Sie kamen regelmäßig auf ihren Balkon mit Blick auf die orthodoxe Kirche. Es war ein kleines Katzenparadies. Sie klagte oft über den Lärm unter ihrem Fenster, der bis fünf Uhr in der Früh anhielt. Und über das furchtbare Gedränge im Sommer. Wir nahmen ihr Murren nicht sonderlich ernst, schoben es teils auf ihren Charakter, teils auf die typische Verwöhntheit der Dubrovniker. Allerdings hatte sie tatsächlich bei unseren Spaziergängen über den Stradun vor mehr als fünf Jahren nur noch selten ihre Bekannten getroffen. Sie waren allmählich verschwunden. Und wenn sie doch einmal aufeinandertrafen, klagten sie darüber, wie sich die Stodt verändert hätte. Und dass man weg müsse aus der Stodt. Tatsächlich war das Wort Stodt auf der Straße immer seltener zu hören.

    Wir beerdigten sie im Familiengrab auf dem Boninovo ­Friedhof. Nur eine Handvoll Freundinnen und Freunde, ein paar Vertreter der Institution, in der sie gearbeitet hatte, und ein paar Verwandte kamen zusammen. Das Handy wurde mit ihr begraben, wie sie es gewünscht hatte. Nachdem wir zuvor das Guthaben erneuert und den Akku aufgeladen hatten. Die Sonne stand hoch am Himmel. Wie ein großes, glänzendes Loch verschlang sie das leere offene Meer in der Ferne.

    Der Morgen nach der Beerdigung. Mein Bruder und ich saßen in ihrer Wohnung in der Altstadt. Eine schlaflose Nacht, in der ein Strom Menschen durch unseren Halbschlaf gezogen war, lag hinter uns. Nun saßen wir in der Wohnung, die ihre alte Besitzerin bereits vergessen hatte. Sie war lange nicht mehr darin gewesen. Alle möglichen Freunde von Freunden hatten hier eine Weile gelebt und die Habseligkeiten meiner Tante diskret in Schränke, Kartons und Säcke verstaut. Mein Bruder und ich würden sie ausräumen und irgendwo hinschaffen müssen, ebenfalls in ein Altersheim oder zur Caritas. Im Küchenbuffet lagen ein paar vertrocknete Teebeutel mit indischem Tee. In allen Ecken der Wohnung hatte sich der Staub abgesetzt. Spinnengewebe sammelte sich auf den Bildern von Booten und Galeeren, die sie so liebevoll gefertigt hatte, als sie noch gesund und munter gewesen war. Das Bücherregal breitete seine Arme vergeblich aus, um sie zu umarmen. Statt ihrer kamen bloß ein paar ihrer Habseligkeiten zurück, die wir aus dem Altersheim mitbrachten. Ihre Handtasche mit den Papieren, ein Schlafanzug, ein Bademantel, zwei Bücher mit kitschigem Einband von Autoren, deren Namen ich noch nie gehört hatte – wahrscheinlich hatte sie die mal geschenkt bekommen –,­ ein paar Ausgaben der Gloria, ein Heizlüfter. Wir legten sie neben der Couch auf den Boden, wo sie allerdings noch beunruhigender wirkten. Es war sowieso nicht mehr ihre Wohnung. Bereits in den frühen Neunzigern hatte sie sie einem reichen Verwandten aus Südamerika überlassen, damit er sie dem Staat abkaufte. Ein Verwandter, der unter dem südlichen Wendekreis lebte. Kurz bevor die Immobilien­preise in Dubrovnik durch die Decke gingen, hatte sie die Wohnung quasi zum Spottpreis hergegeben. Dann stieg ihr Wert um das Tausendfache. Das Kapital des reichen Verwandten aus Südamerika vermehrte sich noch ein wenig mehr und unsere Tante war bis zum Tod vertraglich abgesichert. Nun würden ihr Zimmer, ihre Küche, ihr Badezimmer und ihr Balkon bald zu einem Apartment umgebaut werden.

    Wir mussten zum Friedhof und sie anrufen. Dreimal im Laufe des heutigen Tages. Mein Bruder war nervös, weil er für eine Firma noch etwas fertig programmieren und so schnell wie möglich irgendwo ans andere Ende der Welt schicken musste. Bis gestern eigentlich. Er fand die Idee, sie anzurufen, absurd. Wir hätten längst nach Zagreb aufbrechen und sie von der Autobahn aus anrufen können, wenn es schon unbedingt sein müsse. Im 21. Jahrhundert, dem Jahrhundert präziser Diagnosen, lebendig begraben zu werden, sei doch wissenschaftlich gesehen geradezu unmöglich. »Sie hat es aber so gewollt«, gab ich zurück. »Und außerdem, in dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie doch lebendig begraben wurde, könnte sie sich gar nicht so leicht am Handy melden, sie hätte doch gar nicht genug Manövrierraum im Sarg, vielleicht würde sie nur schreien, kratzen und klopfen, damit wir sie hören, du weißt ja selbst, wie schwach sie war«, verteidigte ich ihren Wunsch, indem ich versuchte, technische Einzelheiten zu erklären und ihn zumindest ein kleines bisschen als berechtigt darzustellen. Mein Bruder verdrehte bloß die Augen und verließ auf der Suche nach WLAN fluchtartig die Wohnung. Also blieb die Erfüllung ihres letzten Wunsches an mir hängen. Einen Moment lang kam auch mir die ganze Sache völlig übergeschnappt vor. Wie eine Geschichte von Edgar Allan Poe. Doch was, wenn auch nur die kleinste Chance bestand, dass sie wirklich lebendig begraben war wie ihre Verwandte aus dem 19. Jahrhundert, neben der sie jetzt lag. Ich ging nach draußen, noch war es nicht zu heiß, und setzte mich in ein nahegelegenes Café auf dem Gundulić-Platz. Das ausgeschaltete Handy lag neben mir im Schatten. In seiner schwarzen Oberfläche spiegelte sich der Himmel. Just in dem Moment flog eine Taube über das tote Display. Ich sah sie diagonal über den Bildschirm fliegen und dann noch einmal weit oben am Himmel. Ich nahm das Smartphone und schaltete es ein, es verband sich sogleich automatisch mit dem WLAN. In Sekundenschnelle zapfte es die Adern der Stadt an und spuckte mir Informationen über die nahegelegenen Sehenswürdigkeiten aus: Visitors can take a walk along the city walls that surrounds the Old City. The walk takes a couple of hours and offers stunning views of the Dalmatia Coast and a bird’s eye view of the city. Lo­­vrijenac Fortress is one of the sights that can be seen from the wall, it is an impressive structure built on an outcropping rock. It is located just outside the Western wall of the Old Town and was featured in Game of Thrones.

    Ich lenkte meinen Blick vom Display auf die reale Stadt. Eine alte Frau mit Stock und rechtwinklig gekrümmtem Rücken wackelte von einem Mülleimer zum nächsten und sammelte Plastikflaschen. Der Boden war übersät mit Brot- und Blätter­teigkrümeln. Ein Taubenschwarm setzte von der einen auf die andere Fassade über. Ihr Flügelschlagen vermischte sich mit dem frühmorgendlichen Summen der Stadt. Wegen der vielen Krümel war dieser Stadtteil ihr Eldorado, was auch bedeutete, dass er mit ihrer Kacke übersät war. Ein paar frische Flatschen zierten das ohnehin verdreckte Gundulić-Denkmal. Aus den Mülltonnen quollen ganze Plastikflaschen­wasserfälle vom gestrigen Abend. Und tatsächlich, auf dem Markt selbst waren deutlich weniger Stände mit frischem Obst und Gemüse. Die Souvenirs dominierten alles. Von einem lilafarbenen Stand in meiner Nähe strömte wellenartig, je nachdem, wie sich die Leute bewegten, intensiver Lavendelduft zu mir herüber. Eine ältere Frau erklärte einem Ausländer gestikulierend, wie er das Öl in der kleinen Flasche verwenden könne. Ihre Handbewegungen demonstrierten eine Kopfmassage bei schlimmen Kopfschmerzen. Die Tante hatte recht gehabt. Ich sollte jetzt losgehen und nachsehen, ob sie durch irgendeinen Zufall noch am Leben war. Auch wenn ich diese Möglichkeit nur theoretisch akzeptierte, eher wie im Feuilletonartikel jenes Verwandten. Also legte ich 50 Kuna für Kaffee und Wasser auf den Tisch.

    Ich verlasse die Festungsanlage der Altstadt und steige langsam den schmalen gepflasterten Weg zum Friedhof hinauf. Die Menschen, die heute in Massen ins Zentrum strömen werden, sind noch nicht ganz wach. Ich gehe weiter nach oben. Komme am Altersheim vorbei, an dessen Tür noch immer ihre Todesanzeige hängt. Katzen liegen zusammengerollt neben einem Müllcontainer. Von Westen begleiten mich hohe Felsen, der Blick aufs offene Meer wird bloß von ein paar großen Agavenblüten gesäumt. Boninovo wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Ort des Suizids bekannt. Auch einige Angehörige des Dubrovniker Adels entschlossen sich dazu, ihr Leben durch Suizid zu beenden. Der bekannteste Fall ist freilich der des Musikers Luka Sorkočević, der sich in einem Moment schwerer Depression am 11. September 1789 vom dritten Stock seines Palastes aus dem Fenster stürzte. Ich betrete den Friedhof. Über die Pflastersteine gestreuter Splitt knirscht unter meinen Füßen. Ich bleibe vor dem Familiengrab stehen, in dem meine Tante bestattet liegt, und ziehe das Smartphone aus der Tasche. Von der Grabplatte blickt mich ihr Bild an. Die übrigen Bilder sind längst abgefallen. Sie sieht so jung aus. Mein Handy hat sich auf dem Weg hierher allein aktualisiert und weiß, wo ich mich befinde. Jedenfalls annähernd. Es bittet um eine Bewertung für das Guesthouse Boninovo. Irgendwie schaffe ich es, die Flut der Updates und Werbeanzeigen wegzuklicken, die aufploppt, während ich im Adressbuch ihre Nummer suche. Tante. Anruf. Warten. Es klingelt. Aus meinem Handy ist das Signal zu hören, dass die Verbindung hergestellt wird, während aus der Erde ganz leise, fast unhörbar der Samsung-Klassiker Over the Horizon ertönt. Zum Glück ist keine Person in der Nähe und wird Zeuge dessen, was ich gerade tue. Jedenfalls keine lebende Person. Die Melodie beginnt ein paar Mal von vorne, dann verstummt sie. Der Teilnehmer antwortet nicht. Ich gehe. Ihr erster Wunsch ist erfüllt. Ich kann getrost in die Stadt zurückkehren. Eine höllische Hitze sitzt bereits in den Startlöchern, wird unsere Körper befallen und alle lebenswichtige Flüssigkeit aus ihnen saugen. Ich muss einfach den heutigen Tag überstehen und alles genau so erledigen, wie sie es gewollt hat. Damit keine Rechnung mit den Toten offenbleibt. Im Stadtteil Pile herrscht nun bereits Gedränge. Auf einmal werde ich mit touristischen Flyern wie mit Konfetti überschüttet. Game-of-Thrones-Touren, Kajaktouren, Private Tours, Konavle Valley and Sokoltown Tours, Fish, Drinks and Folk Music. Ein ganzer Ameisenhaufen will in die Nussschale. Duuu-brrrrrovnik! Duuu-brrrrrovnik! Fotos und Selfies werden geschossen, kurze Panoramavideos von Meer und Festungsmauer aufgenommen. In der Mitte der Brücke zum Pile-Tor ist ein Seil gespannt. Auf der rechten Seite betrete ich die Altstadt. Auf der linken verlassen sie Menschen wieder. Vor mir prangt ein Banner der OTP-Bank und eines von

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