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Das Karmagotchi
Das Karmagotchi
Das Karmagotchi
eBook343 Seiten4 Stunden

Das Karmagotchi

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Über dieses E-Book

Was sich liebt, das neckt sich.

Als Louisas Freund sie verlässt, wirbelt das ihre WG gehörig durcheinander. Gemeinsam mit ihren besten Freundinnen muss sie sich nun auf die Suche nach einem neuen Untermieter machen - und dabei alles vor der Hausverwaltung geheim halten. Zu allem Überfluss hat ihr Exfreund auch noch ihre kreativste Start-up-Idee, das Karmagotchi, geklaut, und der feindselige, aber irgendwie auch ganz süße Nachbar scheint ihr immer wieder Steine in den Weg zu legen. Dabei hat Louisa ihm nie etwas getan … oder?

Der große WG-Casting-Marathon kann beginnen!

SpracheDeutsch
HerausgeberMIRA Taschenbuch
Erscheinungsdatum15. Juli 2019
ISBN9783745750744
Das Karmagotchi
Autor

Lea Melcher

Lea Melcher hat ihren ersten Roman im Alter von vierzehn Jahren veröffentlicht – und schreibt seitdem Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher. Mit der richtigen Geschichte kann sie sich für jedes Genre begeistern. Nach einer Zwischenstation beim Fernsehen arbeitet sie mittlerweile neben ihrem Studium der Mediendramaturgie als Autorin sowie als Illustratorin. Gemeinsam mit ihrem Freund und Co-Autor bringt sie ihre kleine Katze Dino in einer Mainzer Altbauwohnung zum Schnurren.

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    Buchvorschau

    Das Karmagotchi - Lea Melcher

    MIRA® TASCHENBUCH

    Copyright © 2019 by MIRA Taschenbuch

    in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

    Coverabbildung: GettyImages_jklr, Lyudinka, Tetiana Lazunova

    E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783745750744

    www.harpercollins.de

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    WIDMUNG

    Mit Dank an Jonas Hoppe, der mir bei der Entwicklung der Story geholfen hat.

    KAPITEL 1

    Als Erstes frage ich ihn nach dem Geräusch seiner Schritte.

    „In unserer WG legen wir sehr viel Wert auf einen sanften Gang, erkläre ich und schreite im Wohnzimmer auf und ab. „So in der Art, verstehst du?

    „W-wie bitte?"

    Nicht nur der bleichgesichtige Mann vor mir starrt mich verwirrt an, sondern auch meine beiden Mitbewohnerinnen auf dem Sofa.

    „Du musst es nicht vormachen", flüstert Audrey ihm zu. Sie wird ganz rot unter ihrer Sonnenbrille.

    Der Mann gegenüber schluckt und steht auf. „Kein Problem."

    Er schlurft mir hinterher durchs Zimmer, und zum Glück klingt sein Gang nicht wirklich nach Schritten.

    Ich schließe die Augen, lausche auf das Geräusch seiner Schuhe auf dem Parkett. Könnte es uns verraten und preisgeben, dass eine vierte Person in diese WG einzieht? Oder klingt es mehr danach, als würden wir eine Leiche durch die Wohnung schleifen, in einen Teppich gerollt? Das wäre ja nicht so tragisch.

    Ich öffne die Augen wieder und lächle. „Herzlich Willkommen, das Zimmer gehört dir!"

    Erleichterung glättet das Gesicht unseres Bewerbers.

    Ich strecke ihm die Hand hin. „Wie heißt du eigentlich?"

    Seine Finger sind weich und feucht. Er räuspert sich, bevor er sagt: „Björn. Ich studiere Kommunikationswissenschaften im zehnten Semester." Er kann mir nicht in die Augen sehen, sein Blick huscht durch den ganzen Raum.

    „Louisa, auf ein Wort?"

    Kati erhebt sich vom Sofa und gestikuliert mit ihren bunt tätowierten Armen in Richtung meines Zimmers.

    Ich seufze. „Du entschuldigst uns für einen Moment, ja?"

    „Wenn du was klauen willst, nimm nicht die Mikrowelle, die funktioniert eh nicht mehr richtig", wirft Audrey ein.

    Björn starrt sie mit großen Augen an.

    „War nur ein Witz", flüstert Audrey und folgt uns beiden in mein Zimmer.

    Kati schließt die Tür hinter uns.

    „Was denkst du, was du gerade machst?"

    Ich zucke die Achseln. „Was meinst du damit?"

    „Er ist abscheulich!", ruft Audrey aus und schwenkt ihren Zigarettenhalter. Audrey benutzt ihn immer zum Rauchen, es gehört zu dem Image, das sie für sich konstruiert hat.

    „Nicht in meinem Zimmer, Audrey", huste ich.

    Sie lässt sich auf dem Fenstersims nieder und pafft durch die offene Scheibe nach draußen.

    „Wir können ihn unmöglich hier einziehen lassen." Kati stemmt die Hände in die Hüfte.

    „Da muss ich Kati leider recht geben", sagt Audrey.

    „Der Typ ist echt creepy", bekräftigt Kati noch einmal.

    Ich lasse mich auf mein Bett fallen. „Ach, Leute, ihr habt doch nur Vorurteile. Björn ist bestimmt ein anständiger junger Mann. Ich nicke Audrey zu. „Außerdem haben wir keine Alternativen. Bei allen anderen Bewerbern heute hat euch entweder die Nase nicht gepasst, oder die Person spielt jeden Tag fünf Stunden Schlagzeug. Oder denk doch nur an den Typen, der auf WG-Castings geht, damit er nicht so einsam ist. Ich schaudere. „Björn sieht sogar fast aus wie mein Ex und wird deswegen garantiert nicht auffallen!"

    Audrey räuspert sich. „Naja."

    Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. „Zumindest was Größe und Haarfarbe betrifft. Das konnten wir von den anderen Bewerbern nun wirklich nicht behaupten."

    Die beiden scheinen immer noch nicht überzeugt. Also fahre ich fort: „Ich meine, Björn ist so unauffällig, den würde die Vermieterin nicht einmal bemerken, wenn sie sein Zimmer betritt und er auf dem Bett masturbiert."

    „Louisa!"

    „Tschuldigung, Audrey. Aber so ist es doch: Wir müssen das vierte Zimmer noch heute vermieten, weil morgen der neue Monat beginnt. Und die Vermieterin darf auf keinen Fall bemerken, dass hier jemand anderes wohnt, als es im Vertrag steht. Dafür ist Björn der perfekte Kandidat. Außerdem ist es schon fast zehn Uhr abends. Heute kommt garantiert keiner mehr."

    „Ja, oder wir teilen uns die Miete für das vierte Zimmer, bis wir jemand Besseren finden", sagt Kati.

    Audrey hüllt sich in eine Wolke aus Rauch und Schweigen.

    Ich zögere. „Das kann ich mir gerade nicht leisten."

    Kati verdreht die Augen. „Dann eben Audrey und ich."

    Ich spüre, wie mir die Tränen in die Augen steigen, aber ich kämpfe sie mit aller Kraft zurück. „Ich wollte doch nicht, dass es so kommt."

    Sofort ist Audrey bei mir und nimmt mich in den Arm. Der Rauch bringt meine Augen noch mehr zum Tränen.

    „Das weiß ich doch", murmelt Kati und seufzt.

    „Männer sind Arschlöcher", haucht Audrey mir ins Ohr.

    „Frauen auch", murmele ich.

    „Naja, aber jetzt habt ihr euch getrennt, er ist ausgezogen, und jetzt müssen wir sein Zimmer verscherbeln, ohne dass die Vermieterin Stress macht, sagt Kati bestimmt. „Darauf müssen wir uns jetzt konzentrieren, Mädels, klar?

    Ich nicke. „Ich könnte die Miete für die ganze Wohnung bald locker bezahlen, wenn der Idiot nicht mein Karmagotchi mitgenommen hätte."

    „Dein was?"

    „Na, den Prototypen."

    „Den für den Regenschirmschlauch?", fragt Audrey.

    „Nein, sie meint den für die Innere Äußere Uhr", korrigiert Kati.

    Ich schüttele den Kopf. „Das war doch … alles Schwachsinn, die Erfindungen hab ich doch längst verworfen. Aber das Karmagotchi, das war eine Idee, wie man sie nur einmal im Leben hat."

    Kati streicht mir übers Haar und löst sanft Audreys Arme von mir. „Das sagst du jedes Mal. Ich kapiere immer noch nicht so richtig, warum du so an diesem Ding hängst. Du könntest locker einen Laden wie Vintage Planet schmeißen oder so was."

    Ich zucke die Achseln. „Eigentlich ist die Arbeit im Vintage-Laden ziemlich ähnlich, wie an dem Karmagotchi zu arbeiten. Du suchst passende Teile zusammen, um deine Vision zu vervollständigen. Nur dass es beim Karmagotchi einfach eine viel größere Sache ist. Wirklich, diesmal −"

    Es klopft an der Tür. „Entschuldigung, ich würde dann jetzt gehen, wenn ihr mich nicht wollt."

    „Warte!", rufe ich.

    Ich blicke einmal in die Runde. Audrey zieht die Mundwinkel nach oben, Kati nickt mit zusammengepressten Lippen. Ich höre, wie Björn die Wohnungstür öffnet.

    „Warte!", rufe ich noch einmal und laufe ihm hinterher.

    Für seinen Leichenschleifschritt ist er ganz schön weit unten im Treppenhaus, als ich ihn erreiche.

    „Wir würden uns sehr freuen, wenn du bei uns einziehst."

    Er bleibt stehen und dreht sich um. Aus dieser Perspektive sieht er richtig klein aus. Ich kann schon jetzt eine kahle Stelle oben auf seinem Kopf ausmachen, obwohl er kaum älter scheint als ich selbst, Anfang-Mitte zwanzig.

    „Das klang gerade aber anders", sagt er leise.

    „Ach, Quatsch, du bist genau der Richtige für uns", erwidere ich.

    Er atmet auf. „Puh, dann bin ich ja froh. Ich habe meine ganzen Sachen nämlich schon in einem Transporter um die Ecke stehen, seit ich aus meiner alten Wohnung rausgeflogen bin. Ihr kommt mir gerade recht. Morgen früh bin ich da."

    Er schlurft die Treppen runter, dann höre ich die Haustür schlagen. Ich bleibe regungslos stehen, bis das Licht im Treppenhaus automatisch ausgeht.

    Oh, Scheiße.

    Ich denke es nicht nur, ich sage es auch. Ich lasse mich im Dunkeln auf die Treppenstufen sinken.

    „Oh, Scheiße."

    Ich ziehe die Knie nah an meine Brust und bette den Kopf darauf. Im Treppenhaus riecht es nach Staub und Putzmittel zugleich, aber ich schmecke nur Salz auf meiner Zunge.

    Was für ein Tag. Was für eine Woche. Was für ein Monat!

    Mir fällt auf, dass das hier der erste Moment ist, in dem ich einmal innehalte, seit ich übers Wochenende zu diesem Festival gefahren bin.

    Sag doch, wie’s ist, Louisa. Du Angsthase.

    Ich atme tief durch.

    Als ich zurückkam, hatte er bereits sein Zimmer leergeräumt (und ein gutes Stück von meinem auch, wie ich später bemerkte). Er saß auf der letzten übrig gebliebenen Umzugskiste in seinem Zimmer und sah mich mitleidsvoll an, als ich, Federn im Haar und den Kopf voller Musik, nach Hause kam.

    Danach sagte er: „Ich wollte das persönlich machen", aber er machte zu dem Zeitpunkt gar nichts. Er sah mich einfach nur an, mit diesem mitleidsvollen Blick, aus dem ich alles lesen sollte, was er zu feige war, auszusprechen.

    „Du … du machst Schluss?"

    Dann schulterte er seine letzte Kiste – und ging. Ach ja, eine Sache sagte er noch, er klingelte sogar noch einmal an der Wohnungstür dafür.

    Ich machte ihm schon nicht mehr auf, aber durch den Spion konnte ich ihn ganz genau sehen. So traurig sah er gar nicht mehr aus, wenn er es nicht darauf anlegte.

    „Eine Sache noch, Lou. Es tut mir leid, dass ich dich dazu ermutigt habe, dein Jura-Studium zu schmeißen, das war definitiv die falsche Entscheidung."

    Er wartete nicht ab, ob ich noch etwas sagen würde. Mein Mund war ganz trocken. Ich hätte gar nichts erwidern können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich fühlte … nichts. Ich lud meine Taschen in meinem Zimmer ab und ging duschen. Mein Kopf war alles andere als leer, er sang die Lieder vom Wochenende. Erst als ich herausfand, dass er meine Liste mit allen Projektideen und meinen Karmagotchi-Prototypen mitgenommen hatte, fing ich an zu weinen.

    Etwas stößt mich in den Rücken, direkt zwischen die Schulterblätter.

    „Was zur Hölle", höre ich eine Männerstimme im Dunkeln fluchen.

    Ich springe auf. „Wer ist da?"

    Im Dunkeln berühren wir uns, eine Schulter an meiner. Durch unser gemeinsames Gewicht verlieren wir die Balance und klammern uns aneinander fest.

    „Was soll das denn?", ruft die unbekannte Stimme, und er lässt mich los.

    Es dauert einen Moment, in dem ich mich nicht vom Fleck rühre. Dann flammt das Licht im Treppenhaus auf: Er hat den Schalter erreicht. Vor mir steht ein junger Mann, schlank, groß, bärtig. Sein halbes Gesicht wird von einer überdimensionalen Virtual Reality-Brille verdeckt. Trotzdem erkenne ich ihn als einen unserer Nachbarn wieder. Wir sind uns hin und wieder begegnet, er wohnt mit seiner Freundin auf unserem Stockwerk in der Wohnung gegenüber.

    „Wer bist du?", fragt er mich.

    Es dauert einen Moment, bis mir einfällt, dass er mit der Brille wahrscheinlich in irgendeiner Fantasy-Welt unterwegs ist und mich gar nicht sieht.

    „Louisa, sage ich, „vierter Stock, rechte Wohnung.

    „Hast du auf mich gewartet?", fährt er mich an.

    Wir kennen uns definitiv nicht genug, dass ich auf ihn warten würde. Kaum mehr als ein paar Worte haben wir bisher miteinander gewechselt. Einmal war er mit seiner Freundin auf einer unserer WG-Partys, ich glaube, Hannes hatte ihn eingeladen.

    Umständlich zieht er die Brille vom Kopf. Die Augen darunter sind gerötet.

    „Hey, hör auf mit dem Scheiß, klar?"

    „Ich soll aufhören? Du rennst hier mit einer VR-Brille durchs Haus und wunderst dich, dass du gegen Dinge läufst?"

    „Ich muss testen, was mit der virtuellen Küchenzeile passiert, wenn man die Treppe runtergeht", sagt er.

    Ich starre ihn an. „Na, das klingt ja spannend."

    „Ja, genau dafür bin ich Journalist geworden, schnaubt er. „Um virtuelle Küchenzeilen zu testen.

    „Darf ich das mal ausprobieren?"

    Er runzelt die Stirn. „Ganz bestimmt nicht, du sollst mich in Ruhe lassen."

    „Okay, was auch immer."

    Ich wundere mich über seine gereizte Reaktion.

    Er jedoch starrt mich an, als würde er sich über meine wundern.

    „Ich gehe dann mal", stoße ich hervor, stehe auf und steige die Treppe nach oben.

    „Mach, was du willst", knurrt er und springt so schnell die Treppe runter, dass er aus dem Haus ist, noch bevor ich den Treppenabsatz erreicht habe.

    Als ich in die Wohnung zurückkomme, rührt Kati in einem Topf auf dem Herd.

    Audrey hat sich auf dem nächsten Fensterbrett platziert und starrt in die Ferne – beziehungsweise zum Nachbarhaus. „Die Jungs da drüben machen mal wieder Party", sagt sie sehnsuchtsvoll.

    Ich verdrehe die Augen und schließe die Tür hinter mir. „Sie haben dich schon so oft eingeladen, und du bist nie gegangen."

    Sie zuckt mit den Achseln und steckt sich eine Zigarette in den Mundwinkel. „Ich mag Partys ja nicht mal. Die Idee davon klingt immer so aufregend, die Realität ist klebrig und hat Mundgeruch. Nein, ich werde einfach weiter hier am Fenster sitzen und zuschauen."

    Das Dröhnen der Bässe kriecht durch den Asphalt in die Knochen unseres Hauses.

    „Soll ich dir deine kleine Gitarre bringen?", frage ich und kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken.

    „Ukulele, Lou, Ukulele", flüstert Audrey und starrt weiter zum Nachbarhaus hinüber.

    „Zieht der Typ jetzt ein oder nicht?", fragt Kati und kippt Tomatensoße in den Nudeltopf.

    „Björn. Ja, zum Glück. Seufzend lasse ich mich aufs Sofa fallen. Kati trägt die Spaghetti aus der Küche herüber, stellt ihn auf dem Couchtisch ab und setzt sich neben mich. „Das mit dem Glück werden wir ja dann noch sehen.

    Sie drückt mir eine Gabel in die Hand.

    „Ach, ich bin einfach so erleichtert, dass dieser Monat für mich nicht den finanziellen Ruin bedeutet."

    „Audrey, willst du auch was?" Kati streckt ihr eine Gabel entgegen.

    „Ich komme gleich", sagt Audrey abwesend.

    Kati beginnt, die Nudeln direkt aus dem Topf zu essen. Sie sitzt breitbeinig auf dem Sofa und beugt sich so weit vor, dass die Muskeln auf ihrem Rücken sich unter dem durchsichtigen Top abzeichnen. Kati trägt gerne durchsichtige Sachen. Damit man ihre Tattoos auch sieht, wenn sie in der Öffentlichkeit dazu gezwungen wird, sich zu bedecken.

    „So schlimm ist es doch noch nicht bei dir, oder?, fragt sie mich. „Oder hast du deinen Eltern immer noch nicht gesagt, dass du das Studium geschmissen hast?

    Schnell stopfe ich mir so viele Spaghetti in den Mund, dass ich erst einmal nicht sprechen kann. Natürlich habe ich es meinen Eltern nicht gesagt. Meine Eltern, die mich immer in allem unterstützen – zumindest in dem, was sie als sinnvoll erachten. Das Studium abzubrechen, um in einem Second-Hand-Laden zu arbeiten und mit dem dort verdienten Geld verrückte Ideen zu entwickeln – das ist in ihren Augen alles andere als sinnvoll. So sehr mein Vater mich und meine Projektideen gefördert hat, das ist ein Punkt, in dem wir uns unterscheiden: Für ihn ist das ein Hobby, ein Weg, mit seiner Tochter Kontakt zu halten, für mich ist es mehr als das. Ich möchte nicht immer nur Spielzeugautos bauen, die am Ende doch nicht fahren, oder ein Baumhaus, das mich nicht trägt. Meine Eltern wollen, dass ich erst mal auf Nummer sicher gehe: Bachelor, Master, Staatsexamen – und am besten noch ein Doktor, das hält doppelt. Das weiß ich auch, deswegen habe ich mich bemüht, in den letzten Wochen seltener mit ihnen zu telefonieren und wenn es dann doch dazu kommt, das Studium möglichst nicht zu erwähnen. Nach dem Ende meiner Beziehung wäre ich so gerne nach Hause gefahren, ich hätte mich so gerne noch einmal in meinem Kinderzimmer verkrochen. Aber die Gefahr, dass ich mich verplappern würde, wäre einfach zu groß.

    Kati sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an, auch Audrey hat sich mir jetzt zugewandt.

    „Louisa?"

    „Wisst ihr eigentlich, was mit unserem Nachbar los ist?", wechsle ich schnell das Thema.

    „Du meinst Niklas?", fragt Audrey. Sie steht vom Fensterbrett auf und setzt sich zu uns aufs Sofa.

    „Was soll mit ihm sein?", fragt Kati.

    Ich zucke mit den Achseln. „Ich bin ihm gerade im Treppenhaus begegnet, und er war total unfreundlich zu mir."

    Ich stochere im Nudeltopf herum und bemerke deswegen nur für den Bruchteil einer Sekunde, wie Kati und Audrey Blicke tauschen, so kurz, dass es vielleicht auch nur eine zufällige Begegnung war.

    „Der hat sich vor ein paar Wochen von seiner Freundin getrennt, sagt Audrey und beginnt, ebenfalls Nudeln aufzuspießen. „Beziehungsweise sie sich von ihm, glaube ich.

    „Ehrlich? Aber ich habe sie gestern noch dort gesehen, es wirkte nicht so, als sei sie ausgezogen."

    „Soweit ich weiß, wohnt sie auch noch da. Du weißt doch, wie unmöglich es ist, in Mainz schnell eine annehmbare Wohnung zu finden."

    Kati schüttelt langsam den Kopf. „Du erstaunst mich immer wieder, Audrey. Woher weißt du das alles?"

    „Seine Freundin redet manchmal mit mir."

    „Wie hieß die doch gleich?", frage ich.

    „Franziska", sagt Audrey wie aus der Pistole geschossen.

    „Franziska. Kati lehnt sich zurück und schnaubt. „Ja, genau so sieht sie aus. Genau so, als würden ihre Eltern allen erzählen, dass ihre Tochter Medizin studiert, aber eigentlich ist sie Krankenschwester.

    Ich kichere, aber Audrey schaut Kati pikiert an. Auch nach über einem Jahr in dieser Wohnung kann sich Audrey einfach nicht an Katis rabiate Art gewöhnen.

    In diesem Moment klingelt Katis Handy. Sie schaut aufs Display und drückt den Anruf dann weg.

    „Oh, wieder der mysteriöse Unbekannte?", säuselt Audrey und lehnt sich interessiert vor.

    Kati schiebt ihr Smartphone zurück in die Hosentasche. „Es ist Finns Vater. Ich ruf gleich zurück."

    Ich sehe schon, dass Audrey den Mund öffnet, um zum tausendsten Mal nach dem Namen des Vaters zu fragen, deswegen sage ich schnell: „Hast du ihn morgen wieder?"

    Sie nickt. „Ich soll ihn eigentlich von der Kita abholen, aber er kränkelt schon eine ganze Weile."

    „Willst du uns nicht endlich verraten, wer der Vater ist?"

    Mist. Für einen Moment nicht aufgepasst. Audrey löchert Kati mit dieser Frage schon seit dem Moment, da der kleine Finn zum ersten Mal morgens früh in Audreys Zimmer schlich und sie an den Zehen kitzelte. Ich weiß nicht, warum Kati Audrey gegenüber zuvor nicht mal erwähnt hatte, dass sie ein Kind hat. Ich weiß auch nicht, warum sie so ein Geheimnis daraus macht, mit wem sie sich das Sorgerecht teilt, aber irgendwann bin ich der Fragerei müde geworden. Audrey dagegen ...

    „Kennen wir ihn?"

    Kati steht auf. „Ich erledige den Anruf lieber gleich." Sie verschwindet in ihrem Zimmer.

    Audrey wartet, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hat, und flüstert mir dann zu: „Ich glaube, es könnte dieser Typ sein, den sie immer zum Kaffeetrinken trifft. Malte. Ich habe die beiden jetzt schon mehrfach miteinander gesehen."

    Ich schüttele den Kopf. „Wenn sie mit dem Vater ein Kaffeetrinken-Verhältnis hätte, hätten wir ihn ja wohl schon einmal zu Gesicht bekommen."

    Audrey lässt enttäuscht den Kopf sinken. „Das war meine einzige heiße Spur."

    Ich tätschele ihr Knie. „Audrey, mein Schatz, du vergisst manchmal, dass Kati bestimmt schon mit tausend Männern was hatte. Sie ist immerhin knapp zehn Jahre älter als wir."

    „Nicht nur ich vergesse das, gibt Audrey mit einem Grinsen zurück. Erst gestern hat Kati die Einladungsmail zu ihrem „vierundzwanzigsten Geburtstag herumgeschickt. Wir müssen beide grinsen. Audrey steckt sich eine neue Zigarette an.

    „Aber bitte lass den armen Björn in Frieden. Er wirkt nicht so, als hätte er schon einmal mit drei Frauen zusammengewohnt", sage ich.

    „Der kann sich auf was gefasst machen."

    Audrey drückt mir ihren Zigarettenhalter in die Hand und huscht den Flur entlang zu Katis Zimmer, um zu lauschen.

    Ich strecke mich auf dem Sofa aus und ziehe einmal an ihrer Zigarette. Während der Rauch sich in meinem Körper ausdehnt wünsche ich mir, er würde mich einhüllen wie einen Tintenfisch, unsichtbar und geheimnisvoll.

    Tintenfisch-Rauch, der perfekte Alltagsbegleiter. Ich muss husten, setze mich auf und zücke mein Notizbuch. Unsichtbarkeit für Jedermann. Das wäre eigentlich gar keine schlechte Idee für eine neue Erfindung.

    KAPITEL 2

    In der Morgendämmerung des nächsten Tages klingelt es an der Tür. Ich springe mit klopfendem Herzen aus dem Bett. Das muss die Vermieterin sein! Wer sollte sonst um diese Uhrzeit bei uns sturmklingeln?

    Wir sind aufgeflogen, noch bevor unser neuer Mitbewohner eingezogen ist.

    Na super!

    Ich haste durch die Wohnung, reiße den Hörer von der Fernsprechanlage und keuche: „Wer ist da?"

    Ein Räuspern, ein Hüsteln, an dem ich es eigentlich schon erkennen könnte, wäre ich nicht so nervös.

    „Hier ist Björn?", murmelt es aus dem Lautsprecher. Er formuliert es wie eine Frage, als sei er sich dessen selbst nicht so sicher.

    „Björn!, ächze ich. „Du bist … so früh dran!

    Er senkt seine Stimme noch weiter, sodass ich den Hörer gegen meine Ohrmuschel pressen muss, um überhaupt etwas zu verstehen. „Ich hab dir doch gesagt, dass ich in meinem Transporter übernachten musste. Hab kein Auge zubekommen." Irre ich mich, oder klingt er sogar etwas vorwurfsvoll?

    Bei dem Gedanken, Björn auf unserer Couch – auf unserem wunderschönen petrolfarbenen Samtsofa! − übernachten zu lassen, schaudert es mich.

    Das ist ja super, entgegnet eine Stimme in meinem Inneren um einiges wacher, als ich mich gerade fühle, wenn du so über jemanden denkst, der gerade bei euch einzieht.

    „Was ist los?" Kati kommt aus ihrem Zimmer gewankt, Audrey hat sich bereits unbemerkt neben mich geschlichen und tastet hektisch nach ihrer Zigarettendose.

    „Das ist die Vermieterin, nicht wahr?", fragt Audrey mit ihrer Grabesstimme, die sie für große Dramen reserviert hat.

    Ich schüttele den Kopf und versuche, mein schummriges Gefühl zu überspielen. „Das ist Björn, er steht mit seinen Sachen unten."

    Audrey und Kati, plötzlich hellwach, rutschen auf ihren Socken zum Fenster.

    „Überhaupt nicht auffällig", merke ich an, wobei meine Stimme einen ungewollten Ausschlag nach oben macht.

    „Verdammte Scheiße, was hat der denn alles dabei?, murmelt Kati. „Stecken in dem Riesentransporter all die Frauenleichen, die er hinter sich hergezogen hat?

    „Vielleicht hat er aus ihren Knochen Möbel gebaut, fügt Audrey mit einer Ernsthaftigkeit hinzu, die Kati eine Augenbraue hochziehen lässt. „Das war ein Witz, Audrey.

    „Ich weiß!", sagt die schnell und hastet ins Badezimmer, um sich ihre Zigarette dort an der offenen Gastherme anzuzünden.

    Kati sieht mich kopfschüttelnd an. „Bist du sicher, dass Audrey mit dieser Veränderung klarkommt?"

    Ich zucke mit den Achseln. „Das kann ich nie so recht sagen."

    Kati gluckst. „Irgendwie seltsam. Hannes hat dich sitzengelassen, und wir reden darüber, ob Audrey klarkommt."

    „Wenigstens hältst du mich für normaler", wende ich ein und grinse zurück.

    „Ist das ein Kompliment?", fragt Kati zurück.

    In diesem Moment fährt uns das klirrende Geräusch der Klingel erneut durch die Knochen.

    „Menschenskinder, was ist der denn so penetrant?", murmelt Kati.

    Ich grinse.

    Auf einmal sieht sie mich ernst an. „Dir ist schon klar, dass er jetzt nicht einziehen kann. Der schreckt noch das ganze Haus auf. Unbemerkt, lautet hier die Devise. Heimlich. Wenn einer um sechs Uhr morgens seine Pornosammlung die alten Stufen hochhievt, können wir höchstens behaupten, wir hätten das ganze Zeug bestellt."

    Ich zucke die Achseln. „Er stand schon gestern Abend mit seinem ganzen Zeug da, wenn ich ihn jetzt noch mal wegschicke, haut der uns ganz bestimmt ab."

    „Sieht der mit seinem ganzen Krempel da unten so aus, als hätte er eine Alternative?"

    In unserer Wohnung ist es morgens so kalt, dass sogar Audrey unter ihrem sommerlichen Spitzennachthemd Wollsocken trägt – aber mir bricht der Angstschweiß aus. In solchen Momenten merke ich immer wieder, wie sehr ich mich für eine Abenteurerin halte, aber von Natur aus ein Kontrollfreak bin. Wobei: Wenn ich nicht als Abenteurerin mein Studium geschmissen habe, dann als Idiotin. Also halte ich mich doch lieber für eine Abenteurerin.

    Ich knirsche mit den Zähnen. „Schon gut, ich halte ihn noch ein bisschen auf."

    Kati zieht eine gepiercte Augenbraue hoch.

    „Ich werde ihm einen Kaffee kochen, den er so schnell nicht vergessen wird! Wenn ich eine Sache von Hannes gelernt habe, dann ist es, wie man unbemerkt Alkohol in ein Heißgetränk schmuggelt."

    Kati seufzt. „Das klingt so, so falsch."

    Ich verdrehe die Augen und rausche in unsere Küche, wo die Alkoholvorräte in einem Hängeschrank fein säuberlich aufgereiht sind.

    „Ha, hier ist das gute Stück. Ich wusste doch, dass Hannes ihn hier vergisst. Jetzt ist der Trottel doch noch zu was nütze. "

    „Du bist die Einzige, die den Alkohol in Getränken wirklich nicht schmeckt, Lou. Björn wird niemals darauf reinfallen."

    Wieder klingelt es, jetzt drei Mal hintereinander. Ich schalte den Wasserkocher an und hebe noch einmal den

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