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Memmert Mord. Ostfrieslandkrimi
Memmert Mord. Ostfrieslandkrimi
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eBook268 Seiten3 Stunden

Memmert Mord. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

„Die ›Goldscheibe von Moordorf‹ wurde gestohlen! Satteln Sie die Hühner und scheren Sie sich gefälligst zum ›Historischen Museum‹.“Die Nerven der Auricher Staatsanwältin Siefken liegen blank, als sie ihre Sonderermittler Stefan Grote und Stine Lessing zum Tatort schickt, denn die Presse bringt sich schon in Stellung, um über den spektakulären Goldraub zu berichten. Erst vor kurzem wurde die Ausstellung ›Ostfriesisches Gold‹ eröffnet, in deren Mittelpunkt die berühmte Goldscheibe stand. Nun sind die Ausstellungsvitrinen geplündert und der Nachtpförtner Eicke Husmann liegt tot auf dem Flur. Die beiden Ermittler stehen vor einem Rätsel, denn es gibt keinerlei Einbruchspuren. Hat Husmann die Räuber selbst eingelassen? Fast zur gleichen Zeit verschwindet auf der Vogelschutzinsel Memmert der Vogelwart und im Nebel der Norddeicher Hafeneinfahrt kollidiert die Juist-Fähre beinahe mit einer herrenlosen Motorjacht. Diese drei Ereignisse, das stellt sich nach und nach heraus, stehen in Verbindung miteinander. Aber was genau ist passiert? Die beiden Auricher Sonderermittler und ihr Kollege „Skipper“ stochern eine ganze Weile im Nebel, bis der Zufall sie auf die richtige Spur bringt. Es ist höchste Vorsicht geboten, denn sie haben es mit einem äußerst brutalen Täter zu tun, der über Leichen geht. Und obwohl sie das genau wissen, steuert die Festnahme auf ein Drama zu...

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum22. Juni 2023
ISBN9783965867987
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    Buchvorschau

    Memmert Mord. Ostfrieslandkrimi - Hans-Rainer Riekers

    Sonntag

    Nachtschicht

    Es war der achte Nachtdienst innerhalb der letzten zwei Wochen, der auf Eicke Husmann zukam, und das raubte ihm allmählich die Kraft. »Vier- oder fünfmal kann man das machen, aber nun reicht es langsam«, dachte er bei sich. Schließlich ging er auf die siebzig zu, war übergewichtig und kränklich, doch seine karge Rente ließ ihm keine Wahl. Der Nachtwächter-Job war ursprünglich nur als gelegentlicher Nebenverdienst gedacht gewesen, höchstens an zwei Tagen in der Woche, nicht mehr. Doch ausgerechnet jetzt hatte eine Frühlings-Grippewelle einige seiner Kollegen aus dem Verkehr gezogen. Ein ungünstigerer Zeitpunkt war kaum vorstellbar, denn vor 10 Tagen war die Sonderausstellung »Ostfriesisches Gold« im »Historischen Museum Aurich« vom Ministerpräsidenten persönlich eröffnet worden und hatte einen Besucheransturm ausgelöst, auf den niemand vorbereitet gewesen war. Also konnte er sich der Bitte des Museumsdirektors nicht verschließen und willigte ein, so lange Zusatzschichten zu schieben, bis sich die Personallage wieder entspannte. Was sollte er auch tun, schließlich war er dem Direktor zu großem Dank verpflichtet. Dr. van Steg hatte ihn im letzten Jahr trotz seiner angeschlagenen Gesundheit eingestellt. Und wenn er ehrlich war, konnte er das Geld, welches ihm die Zusatzschichten einbrachten, gut gebrauchen.

    So schleppte er sich mit schweren Schritten über das graue, gelegentlich von rotem Klinker unterbrochene Pflaster der Auricher Fußgängerzone und beneidete die Menschen um sich herum. Trotz der schon tief stehenden Sonne und eines allmählich kühler werdenden Windes waren an diesem Sonntagabend immer noch Spaziergänger unterwegs, und die Stühle vor den Cafés waren gut besetzt.

    Endlich, kurz vor 18 Uhr, hatte er es geschafft und stand vor dem blauen Eingangstor des »Historischen Museums«. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, strich sich den Schweiß von der Stirn und wischte sich die Glatze ab. Dann warf er einen letzten Blick auf die Skulptur des Moorbauernpaares, die von den Einheimischen ebenso respektlos wie liebevoll »Oma und Opa« genannte wurde, seufzte tief und drückte auf die Klingel. Dabei schaute er in die über der Tür angebrachte Kamera, damit der Pförtner vom Tagesdienst ihn sehen konnte. Als der Summer ertönte, trat er ein, und ihm war klar, dass er nun, vom Telefon einmal abgesehen, für die nächsten zwölf Stunden von der Außenwelt abgeschlossen war.

    »Was für ein Irrenhaus! Bis zum Nachmittag war geöffnet, und die Leute haben uns die Bude eingerannt.« Jörn Lundt, der Pförtner vom Tagesdienst, schimpfte vor sich hin und fuhr mit einem nassen Zeigefinger in seiner Blechdose herum. So sammelte er noch die letzten Brotkrümel und leckte am Ende den Finger genussvoll ab. »Ich hatte kaum Zeit, in Ruhe zu essen.« Er verschloss die Dose und packte sie zusammen mit seiner Thermoskanne in seinen Rucksack. »Die Leute tun beinahe so, als hätten sie noch nie in ihrem Leben Gold gesehen.«

    Eicke Husmann stellte seine verschlissene Aktentasche auf den Tisch und wollte den Inhalt herausholen, doch sein Kollege war ungeduldig. »Komm in die Hufe, Eicke! Die nächsten beiden Tage habe ich endlich mal frei. Da kann ich heute Abend was unternehmen. Also geh auf deine Übernahmerunde, damit ich endlich Feierabend machen kann! Zum Auspacken hast du nachher doch reichlich Zeit.«

    Eicke Husmann nickte schweigend, denn Jörn hatte ja recht. Zeit würde er in den vor ihm liegenden zwölf langen Stunden genug haben, ehe am nächsten Morgen um sechs Uhr die Ablösung kam. Also zog er seine grüne Cordhose und die dazu passende Jacke aus und schlüpfte in seinen schwarzen Dienstanzug. Zuletzt griff er sich seine altertümliche Taschenlampe, obwohl er sie jetzt noch nicht benötigte, und machte sich auf den Weg durch die Ausstellungsräume.

    Das »Historische Museum Aurich« beherbergte viele Kulturschätze, aber wenn man es realistisch betrachtete, waren nur wenige Dinge von hohem Wert dabei. Die Sonderausstellung »Ostfriesisches Gold« hatte die Situation allerdings verändert. Eine erlesene Sammlung von goldenem Trachtenschmuck, wie ihn die wohlhabenden Ostfriesinnen in der Vergangenheit getragen hatten, lockte die Menschen an.

    Eicke Husmann blieb versonnen vor einer der Vitrinen stehen. Mit Edelsteinen besetzte Diademe, Spangen, die zu den Trachten getragen wurden und schwere Ringe, alles aus purem Gold, wurden dort gezeigt. Exponate, die von längst vergangenem Reichtum zeugten. Im Mittelpunkt dieser Ausstellung stand jedoch ein ganz besonderes Stück, die »Goldscheibe von Moordorf«. Diese aus der Bronzezeit stammende Scheibe aus fast reinem Gold mit einem Durchmesser von über 14 cm war eine Leihgabe des Niedersächsischen Landesmuseums. Nun war sie für ein Jahr nach Ostfriesland zurückgekehrt, dorthin, wo sie 1910 beim Torfstechen, ganz in der Nähe von Aurich, gefunden worden war.

    Nach zehn Minuten hatte Eicke Husmann seinen Übergaberundgang beendet. Er ging zurück in die Pförtnerloge und setzte sich vor das Wachbuch, das Jörn Lundt ihm schon aufgeschlagen hingelegt hatte. Der Museumschef hatte sich über dieses Verfahren stets lustig gemacht und vorgeschlagen, die Übergabeprozedur durch ein Computerprogramm abzuwickeln, doch gegen die ostfriesischen Dickschädel seiner Mitarbeiter konnte er sich nicht durchsetzen. Also vermerkte Eicke Husmann handschriftlich, so wie es seine Vorgänger bereits seit vielen Jahren taten: »Schichtwechsel um 18.15 Uhr erfolgt, Kontrolle des Hauses ergab keine Auffälligkeiten. Wache übernommen.« Zum Schluss setzte er seine Unterschrift darunter und machte damit deutlich, dass er von diesem Augenblick an die alleinige Verantwortung für das Museum übernahm.

    Kaum war das Wachbuch geschlossen, machte sich Jörn Lundt auch schon auf den Weg. »Ich wünsche dir eine ruhige Nacht!«, das waren die letzten Worte, die Eicke Husmann hörte, bevor die schwere Außentür ins Schloss fiel. Auf dem Außenmonitor konnte er noch sehen, wie sein Kollege in die Kamera winkte, sich umständlich auf sein klappriges Fahrrad schwang und, ohne sich um die Verbotsschilder zu kümmern, durch die Fußgängerzone davonradelte.

    Eicke Husmann war ein pflichtbewusster Mann. Über 50 Jahre lang hatte er als Buchhalter bei einem Auricher Schiffsausrüster gearbeitet und keiner seiner Kollegen konnte sich erinnern, dass er auch nur ein einziges Mal zu spät zur Arbeit erschienen wäre. Obwohl ihn besonders in den letzten Jahren vor seinem Ruhestand verschiedene Leiden plagten, bestand die Krankenakte in seiner Firma nur aus wenigen Blättern. Sein Leben lang hatte er sich an feste Regeln gehalten, die seinem Tagesablauf Struktur gaben. Seine Kollegen hatten ihn deshalb manches Mal belächelt, doch das war ihm egal.

    So war es kaum verwunderlich, dass Eicke Husmann sich auch für seinen Dienst im Museum einen Zeitplan aufgestellt hatte, an den er sich akribisch hielt. Alle zwei Stunden begab er sich auf einen Rundgang durch das Haus. Das tat er, obwohl er von der Pförtnerloge aus über eine Anzahl von Monitoren alle Flure und Ausstellungsräume jederzeit im Auge hatte.

    Die Rundgänge um 20 und 22 Uhr hatten wie erwartet keine Beanstandungen ergeben, und pünktlich um Mitternacht erhob er sich wieder schwerfällig. Es wurde Zeit! Eicke Husmann blickte kurz durch das Fenster hinaus in die inzwischen wie ausgestorben wirkende Fußgängerzone und machte sich dann auf den Weg. Er fand es bedrückend, durch die menschenleeren Räume zu gehen, und die Mitternachtsrunde war in der Nacht von Sonntag auf Montag besonders unangenehm, denn nicht das geringste Geräusch war von draußen zu hören. Keine der Kneipen in der Umgebung hatte um diese Zeit noch geöffnet, kein Lachen von Menschen war zu vernehmen. Der bevorstehende Montag als Start in eine neue Arbeitswoche nahm den Menschen die Lust am Feiern. So fühlte er sich wie in einer Zeitblase, in die außer seinen eigenen schlurfenden Schritten und dem Licht seiner Taschenlampe nichts eindringen konnte.

    Trotzdem zwang er sich, aufmerksam von Raum zu Raum zu gehen. Sorgsam überprüfte er alle Außentüren, warf einen Blick auf die Fenster und ließ den Lichtstrahl seiner Taschenlampe durch die schwach von einer rötlich glimmenden Notbeleuchtung erhellten Ausstellungsräume wandern. Die Runde dauerte wie immer exakt 13 Minuten, bevor er in die Pförtnerloge zurückkehrte. Noch drei Stunden, dann würde es auf den Straßen lebhafter werden. Zu dieser Zeit machten sich die ersten Lieferwagen auf den Weg, und die Zeitungsausträger ließen die Briefkästen klappern. Das empfand er an jedem Morgen wie einen neuen Eintritt in das Leben.

    In aller Ruhe ging Eicke Husmann in die kleine Teeküche, um seinen geliebten Mitternachtstee zuzubereiten. Eher zufällig schaute er dabei in die Pförtnerloge und bemerkte, dass alle Überwachungsmonitore erloschen waren. Das war ärgerlich, regte ihn allerdings nicht sonderlich auf. Es war nicht das erste Mal, dass er aus Versehen mit dem Fuß das Computerkabel, welches die Bildsignale an die Monitore leitete, aus der Buchse gezogen hatte.

    Er überlegte kurz, ob er jetzt gleich unter den Tisch kriechen sollte, um die Kabelverbindungen zu überprüfen, entschied sich jedoch dagegen. Zum einen war der letzte Kontrollgang erst vor wenigen Minuten erfolgt, zum anderen war Teezeit, und darauf freute er sich. Er genoss diese stille, einsame Zeremonie, denn sie stellte gewissermaßen das »Bergfest« seiner Schicht dar. Von nun an ging es, man musste es nur optimistisch betrachten, dem Feierabend entgegen.

    Sechs Minuten später, es dauerte immer sechs Minuten, den Tee zuzubereiten, nahm er wie in jedem Nachtdienst mit einem genießerischen »Hmmm!« den ersten Schluck aus seiner dünnwandigen, mit Rosen verzierten Teetasse. Seine Frau hatte ihm diese Tasse mit der Ermahnung, gut darauf aufzupassen, vom heimischen Service abgezweigt, doch es hatte sein müssen. Tee aus einem schnöden Becher zu trinken wäre Eicke Husmann niemals in den Sinn gekommen.

    Wie es sich für einen waschechten Ostfriesen gehörte, beendete er seine ganz persönliche Teezeremonie erst nach der fünften Tasse. Dann raffte er sich auf, ging in die Knie und kroch unter den Schreibtisch, um alle Anschlussstecker zu überprüfen. Nach einer Minute war er damit fertig und erhob sich schnaufend. Einen Fehler hatte er nicht finden können, doch die Monitore waren immer noch schwarz. Er wollte bereits zum Telefon greifen, um den Störungsdienst der Sicherheitsfirma anzurufen, da fühlte er plötzlich eine heftige Übelkeit in sich aufsteigen. Gleichzeitig spürte er eine unerklärliche Schwäche, die von Minute zu Minute stärker Besitz von ihm ergriff. Eicke Husmann ließ sich auf den Stuhl sinken und zwang sich, tief und ruhig zu atmen, doch das brachte ihm keine Besserung. Stattdessen begann nun auch noch sein Herz heftig zu pochen, und auf seiner Stirn bildete sich kalter Schweiß. Beunruhigt fühlte er seinen Puls und stellte fest, dass die Schläge viel zu schnell und unregelmäßig erfolgten.

    Er hätte jetzt zum Telefon greifen können, um Hilfe zu holen, denn dass er ein schwaches Herz hatte, wusste er. Aber es widerstrebte ihm, unter Umständen falschen Alarm auszulösen. »Vielleicht war alles nur eine Folge der Krabbelei unter dem Schreibtisch«, dachte er und dass es ihm wieder besser gehen würde, wenn er sich einfach kaltes Wasser in das Gesicht spülte. »Es wird der Kreislauf sein, der muss wieder auf Trab gebracht werden!« Er machte sich auf den Weg zur Toilette, doch schon auf dem Flur merkte er, dass er zu wanken begann. Er versuchte, sich an dem hölzernen Handlauf festzuhalten, doch er griff ins Leere. Im selben Moment begann sich alles um ihn herum rasend schnell zu drehen, gleichzeitig zog ein scharfer Schmerz durch seine Brust und ihm wurde schwarz vor Augen. Den Aufschlag auf den gekachelten Boden spürte Eicke Husmann schon nicht mehr.

    *

    Am Montagmorgen, wenige Minuten vor sechs Uhr, erschien Bernd Seedorf zum Frühdienst, um seinen Kollegen Eicke Husmann abzulösen, und wunderte sich. Unmittelbar vor der Eingangstür des Museums parkte der quietschgrüne dreirädrige Piaggio-Kleintransporter des Händlers, der wie an jedem Morgen Obst und Gemüse für das Museumsrestaurant lieferte.

    »Was ist los bei euch? Ich vermute, dein Kollege ist eingeschlafen. Seit einer Viertelstunde stehe ich hier schon, aber er macht nicht auf.« Der Mann war ungeduldig. Die Kisten mit der Lieferung hatte er neben der Eingangstür aufgestapelt, doch niemand wollte sie ihm abnehmen.

    Bernd Seedorf war nach dem dritten Läuten klar, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein musste. Er kannte Eicke Husmann gut genug, um zu wissen, dass er niemals im Dienst schlafen würde. Warum hatte er also nicht wie üblich die Lieferung quittiert und in den Flur gestellt?

    Als Oberpförtner war Seedorf einer der wenigen Museumsmitarbeiter, der über einen Hauptschlüssel verfügte. Abgesehen vom Direktor und seinem Stellvertreter mussten sich alle anderen Mitarbeiter aus Sicherheitsgründen stets vom Pförtner die Tür öffnen lassen. Er kramte in seiner Jacke, um nach dem Schlüssel zu suchen, während die Uhr über der Toreinfahrt auf 6.00 Uhr sprang. Ich selben Augenblick erklang markerschütternd das Heulen einer Alarmanlage. Bernd Seedorf erschrak, schloss mit zitternden Händen die Tür auf und stürmte in die Pförtnerloge, doch die war leer.

    »Eicke, was ist los? Wo steckst du?« Er hoffte immer noch auf einen Fehlalarm, doch als er in den Flur in Richtung der Toiletten gelangte, fand er Eicke Husmann leblos auf dem Boden liegend. Der Körper war zusammengekrümmt und das aus einer Kopfplatzwunde ausgetretene Blut längst schon getrocknet. Trotz seiner Betroffenheit reagierte Bernd Seedorf schnell und überlegt. Er zog sein Handy aus der Tasche, wählte die 112 und schilderte die Situation. Auf die Frage, ob er Lebenszeichen feststellen könne, meinte er unsicher: »Ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber ich glaube nicht.« Noch während des Gesprächs lief er zum großen Ausstellungssaal hinüber, um die Ursache für den Alarm zu finden. Er trat durch die Tür und blieb sofort schockiert stehen. Obwohl immer noch lediglich die Notbeleuchtung eingeschaltet war, sah er es auf den ersten Blick und bat: »Bitte schicken Sie auch die Polizei vorbei, hier wurde eingebrochen!«

    Seedorf schaltete die nervtötende Alarmanlage aus, doch die Ruhe war nur vorübergehend. Das Signalhorn eines Rettungswagens war zu hören, dem kurz danach drei Streifenwagen folgten. Er lief zur Eingangstür, winkte aufgeregt und wies dem Notarzt und seinem Assistenten den Weg zu Eicke Husmann. Als der Doktor sich neben Husmann auf den Boden kniete, wusste er sofort, dass auch er nicht mehr helfen konnte. Nach nur einer Minute stand er wieder auf und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber da ist nichts mehr zu machen«, sagte er zu den inzwischen eingetroffenen Polizisten. »Der Mann ist schon seit geraumer Zeit tot. Die Platzwunde ist ohne Belang. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem Herzinfarkt aus. Doch das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich denke, als er auf dem Boden aufschlug, war er bereits verstorben. Trotzdem sollten Sie die Kriminalpolizei verständigen, denn auf dem Totenschein werde ich »Todesursache unbekannt« ankreuzen müssen.«

    Bernd Seedorf stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Trotzdem wusste er, was zu tun war und rief den Museumsdirektor an, denn was um ihn herum passierte, überforderte ihn. Der Direktor versprach, sich sofort auf den Weg zu machen, und erst jetzt kam der Oberpförtner dazu, sich seiner eigentlichen Aufgabe zu widmen. Er ging in die Pförtnerloge, wandte sich dem Wachbuch zu und machte einen Vermerk, dass er infolge eines Todesfalls seine Schicht erst um 6.45 Uhr habe antreten können. Danach ging er in den großen Saal mit der Sonderausstellung »Ostfriesisches Gold«, um sich ein genaueres Bild zu machen. Die Polizisten hatten inzwischen die Hauptbeleuchtung eingeschaltet. Im kalten Schein der Halogenstrahler sah er nun die Bescherung. Der Boden war mit Glassplittern übersät, alle Vitrinen waren ausgeräumt, und das Gold war verschwunden.

    Montag

    Zwischen die Augen

    Üblicherweise trug Stine die Dienstpistole im Gegensatz zu ihrem Chef nie am Körper, sondern in ihrer Umhängetasche, die von den ostfriesischen Nationalfarben schwarz, rot und blau dominiert war. Mitten drauf, nicht zu groß, aber doch deutlich lesbar, stand »I love Ostfriesland«. Grote sah diese Eigenart seiner jungen Kollegin kritisch und immer, wenn sie eine Begründung für diese außergewöhnliche Unterbringung ihrer Waffe vorbrachte, zog er skeptisch die Augenbrauen hoch.

    »Schau mich doch mal an, Stefan! Ich bin klein und zierlich. Wenn ich dieses Ungetüm am Gürtel trage, bekomme ich auf der Hüfte Druckstellen und auf Dauer Haltungsschäden. Möchtest du schuld daran sein, wenn ich in ein paar Jahren als orthopädischer Krüppel am Stock durch Aurich schleiche?«

    Dabei lächelte sie so verschmitzt, dass er den Verdacht nicht loswurde, dass in Wahrheit ausschließlich modische Gründe gegen das Tragen eines Pistolenholsters sprachen. Grote musste zugeben: Stine im eleganten Hosenanzug, dazu wie üblich hochhackige Schuhe und dann die »Zimmerflak«, wie er seine Pistole gerne nannte, am Gürtel? Das war kaum vorstellbar. Aber Stines Umhängetasche hatte auch Vorteile. Denn darin ließ sich problemlos ein Laptop verstauen, und ohne den ging Stine selten in den Einsatz. Also hatte er sich irgendwann zähneknirschend an ihre Marotte gewöhnt.

    An diesem Morgen war es jedoch anders. Stine trug ihre Waffe genau dort, wo sie nach Meinung ihres Chefs hingehörte. So standen die beiden nebeneinander in der Dunkelheit und starrten auf ein verlassenes Wohnhaus, in dem von Zeit zu Zeit das Flackern einer Taschenlampe zu erkennen war. Plötzlich, ohne jegliche Vorwarnung, trat von rechts ein Mann aus dem Eingang und stürmte auf die beiden zu. In der Hand hielt er ein Messer und war nur noch wenige Messer entfernt, doch Grote hatte ihn rechtzeitig erkannt. »Achtung, von rechts!«

    Stine riss ihre Waffe aus dem Holster, zielte nur kurz und gab in schneller Folge drei Schüsse ab. In diesem Moment wurde es hell um sie herum und Grote ging einige Schritte nach vorne. Dann drehte er sich zu seiner Kollegin um und konstatierte: »Der ist mausetot, Stine. Du hast ihn wie Wyatt Earp genau zwischen die Augen getroffen. Besser hätte es der Revolverheld auch nicht machen können.«

    Stine lächelte verkrampft, sicherte die Pistole und steckte sie zurück in das Holster, während Grote noch die Leinwand des Schießkinos der Polizei Aurich absuchte. Schließlich hatte seine Kollegin drei Schüsse abgegeben, doch wo waren die beiden anderen Projektile hingegangen?

    Ein Mann trat von hinten langsam in das Licht. Mittelgroß, kräftig, die Hände in den Taschen vergraben. Man hätte ob dieses Anblicks auf eine gewisse Gelassenheit schließen können, doch die tiefen Falten auf der Stirn sprachen eine andere Sprache. »Mein Gott, Stine, was hast du denn nun angestellt?« Frank Becker, der Schießlehrer, hatte das Drama kopfschüttelnd beobachtet. »Es ging mir darum, dass ihr beide als Team in der Situation abgestimmt reagiert. Das hat am Anfang ganz gut funktioniert. Stefan hat den Angreifer erkannt und dich gewarnt. Du standest günstig und musstest schießen.« Dann stöhnte er hörbar auf und fügte hinzu: »Aber doch nicht so! Der Angreifer sollte durch Schüsse in Arme oder Beine gestoppt und nicht hingerichtet werden. Nach den anderen beiden Schüssen braucht ihr nicht zu suchen. Einer ging in die Decke, der andere als Querschläger vom Boden in die Seitenwand. Ich hab’s genau gesehen.«

    Stine stand eingeschüchtert da und schaute hilfesuchend zu Grote rüber. Ihre Wangen glühten vor Aufregung, und nervös pustete sie sich eine feuerrote Haarsträhne aus dem Gesicht. Schießen war einfach nicht ihr Ding. Immer wieder gab es bei der halbjährlichen Leistungsüberprüfung Probleme.

    Grote sah ihren flehenden Blick und versuchte, die Situation zu retten. »Hast ja recht, Frank, aber du musst ehrlich zugeben: Dieser eine Schuss war ein Meisterschuss! Außerdem ist es geradezu unchristlich, uns um 7.30 Uhr morgens auf den Schießstand zu bestellen.«

    »Mag sein, Stefan, das allerdings ist kein Grund für dieses desaströse Schießergebnis. Und wenn du Stines Blattschuss meinst, wir alle wissen, dass es reiner Zufall war. Weiß der Teufel, wo sie hingezielt hat!«, meinte Becker. »Mit diesem Ergebnis kann ich beim besten Willen nicht zufrieden sein. Um es auf den Punkt zu bringen, Stine: Das war wirklich keine Heldentat!«

    Stine stand immer noch bedröppelt da. Dann sagte sie mit einem gequälten Lächeln: »Wir können nicht alle Helden sein, weil ja irgendeiner am Bordstein stehen und klatschen muss, wenn sie vorüberschreiten.«

    Mit diesem Zitat schaffte es Stine tatsächlich, sogar den strengen Schießlehrer zum Grinsen zu bringen. Dem lag eine passende Antwort auf der Zunge, aber in diesem Moment kam ein Kollege dazu, der von einem Steuerstand heraus das Schießkino bediente. Er wirkte konsterniert.

    »Ich habe da eben einen merkwürdigen Anruf von einer Frau bekommen, deren Namen ich gar nicht verstanden habe. Sie

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