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Sandler: Eine Kommissar Wengler Geschichte
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eBook257 Seiten3 Stunden

Sandler: Eine Kommissar Wengler Geschichte

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Über dieses E-Book

Kommissar Wengler hatte versprochen, in die Oper zu gehen. Mit einer alten Freundin, die ihn nach langer Zeit unerwartet angerufen hatte. Aber es kommt anders. Er trifft auf eine Obdachlose – in Bayern auch „Sandler“ genannt –, die auf der Suche nach ihrer besten Freundin ist. Obwohl nicht für verschwundene Personen zuständig, muss sich der Kommissar in den folgenden Tagen mit der Obdachlosenszene auseinandersetzen – mit all den Beziehungs- und weiteren Problemen dieser Menschen. Auch andere Leute mischen mit. Sie nehmen sich dieser verlorenen Seelen an und versuchen, unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft von ihnen zu profitieren. Für einige wird dieser Fall nicht gut ausgehen. Auch Kommissar Franz Joseph Bernrieder aus Bad Tölz, der dem Kommissar in einem anderen Fall schon einmal hilfreich zur Seite stand, ist dieses Mal wieder mit dabei. Ein Teil der Geschichte spielt in seinem Wirkungsbereich, was zwangsläufig die oberbayerische Ruhe stört, die ihm so heilig ist.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. März 2019
ISBN9783739665764
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    Buchvorschau

    Sandler - Olaf Maly

    1

    Kommissar Wengler saß vor dem Spatenhaus und genehmigte sich ein Bier. Spaten-Bier. Keineswegs seine Lieblingsmarke, aber um diese Zeit – es war schon sehr spät – war es das einzige, was er noch bekommen konnte. Außer Paulaner im Franziskaner, im Lokal nebenan, aber das trank er nur unter Zwang. Falls es wirklich nichts anderes gab. Und irgendwie war ihm das Spatenhaus lieber, da fühlte er sich besser aufgehoben. Unter seinesgleichen. Im Franziskaner, das wusste man, da gab es nur die 'Großkopferten', oder, wie man sagte, die, die meinten 'dazuzugehören'. Auch wenn sie oft die einzigen waren, die das meinten. Das Spatenhaus war genau gegenüber der Oper. Und seitlich neben der Residenz, in der es auch ein Theater gab. Das Residenztheater. Man konnte diesen Platz also fast als ein Kulturzentrum im Zentrum Münchens bezeichnen. Die Münchener Oper, auch Nationaltheater genannt, geht zurück bis ins späte 17. Jahrhundert und gilt als eines der ältesten Opernhäuser der Welt. Seit 1810 ist es im heutigen Bau untergebracht. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Denkmal für König Maximilian den Ersten, das den Bereich schwer und gewichtig optisch bestimmt. Heutzutage fährt man mit dem Auto um Maximilian herum, um in die Tiefgarage zu gelangen.

    Für den Kommissar war dies allerdings immer mehr ein Platz zum Sitzen, Anschauen und Ausruhen. Die Kultur könnte mit einer Blaskapelle an ihm vorbeirauschen und er würde es nicht einmal wahrnehmen. Weil er es nicht wahrnehmen wollte. Nicht, dass er ignorant und ungebildet sei, nein, beileibe nicht. Er liebte klassische Musik, besonders Wagner, da sie auch die Lieblingsmusik seines geliebten König Ludwigs des Zweiten war, aber er mochte den Wirbel nicht, den die Leute machten, wenn sie der Meinung waren, Kultur „tanken" zu müssen. Dann zogen sie sich an wie 'dressierte Affen', wie er immer sagte, nur um zu zeigen, was man zu Hause im Schrank hatte. Am liebsten hätte man auch noch das Preisschild dran gelassen, damit auch jeder sah, wo das Prachtstück herkam. Da lobte er sich den bayerischen Thronfolger, der in den siebziger Jahren, angezogen mit seiner alten, gut eingetragenen Lederhose und einer noch älteren Trachtenjacke, im Geländewagen zu den Opernfestspielen vorfuhr. Das war eine Art von Protest, Exzentrizität. Nur wenn der Thronfolger das machte, war es lustig. Es war eine 'Gaudi', wie man das nannte. Dann waren alle Zeitungen Münchens vertreten und machten Bilder, die man sich am nächsten Tag dann ansehen konnte. Sollt er, der Kommissar, das versuchen, verwies man ihn wahrscheinlich der Tür. Oder rief die Ambulanz. Die mit der Zwangsjacke, die man hinten verschließen konnte. Also ließ er es bleiben. Den Protest. Er revoltierte lieber in sich hinein, indem er den Trubel mied. Er ging also eigentlich nicht oft in die Oper, eher ins Konzert, wenn er schon einmal die Kraft aufbrachte, sich dementsprechend zu vergnügen. Die letzte Oper, die er sich angesehen hatte, war Carmen – und das war schon sehr lange her. Er hatte zu dieser Zeit eine Freundin, die ebenso hieß.

    Wie schon gesagt, es war sehr lange her. In seiner überschwänglichen Begeisterung für dieses engelhafte Wesen, schlug er ihr begeistert vor, in die Aufführung zu gehen, als er eines Morgens auf dem Weg ins Büro das Plakat auf einer Litfaßsäule gesehen hatte. Es hatte ihm gefallen. Darauf war eine spanische Frau zu sehen, die sich um sich selbst drehte und dabei den weiten, roten Rock mit schwarzer Spitze schwungvoll verwirbelte. So konnte er sich auch seine neue Liebe vorstellen: rassig, mit schwarzen Haaren und feuerroten Lippen. Mit diesem eindringlichem Blick und dem halboffenem Mund, der allen Männern in diesem Alter weiche Knie verursachte. Die Carmen die er kannte, war allerdings blond und relativ klein. Auch nicht so schlank und rassig. Eher auf der runden Seite der Skala. Aber das war nebensächlich. Auch hatte er keine Ahnung, was auf ihn zukam. Aber da er verliebt war, dachte er sich, dass alles, was Carmen hieß, auch unheimlich toll sein müsse. Die Begeisterung hielt allerdings nicht lange an. Weder für die Person, noch für die Oper. Aber, wie gesagt, das war schon viele Jahre her.

    Jetzt, an diesem Abend, ging es um seine alte Flamme Gisela Spranger, die er noch aus den Zeiten der Polizeischule kannte. Eines Tages, aus heiterem, blauem Himmel heraus, hatte sie ihn angerufen und gefragt, ob er denn nicht wieder einmal in die Oper gehen wolle. Sie habe eine Karte übrig und es sei doch sehr schade, wenn diese verfiele. Und sie habe gehört, nein, eigentlich sei das ja ein offenes Geheimnis, dass er klassische Musik gerne habe. Schon damals, als sie sich näher gestanden hatten, sozusagen, sei er der Klassik nicht abgeneigt gewesen.

    „Musik, Gisela, Musik. Nicht unbedingt Oper. Weil, da versteht man eh nix, was die singen."

    „Aber die schreiben des an eine Tafel, Herbert, da kannst dann immer mitlesen. Ich mein, was die singen, kannst dann auf dem Band da lesen."

    Das war allerdings ein Argument, das seines total niederschmetterte.

    „La Bohème, hast g'sagt? Aha. War des nicht die, wo die in Paris stirbt, weil's saukalt is und die kein Geld nicht ham zum Heizen? Dann gehen die auch noch in die kalte Kirch und die kriegt dann a Lungenentzündung. Jetz weiß ich, was du meinst. Ich hab g'lesen davon. Und ich hab da mal eine Arie g'hört, die hat mir ganz gut g'fallen. Also, weil des du bist: Du hast mich überredet. Wann?"

    „Heut Abend. 7 Uhr."

    „Heut noch? Ja, aber des is ja eine sehr kurzfristige Einladung."

    „Weil du, wenn du dir des überlegen kannst, sowieso dann immer absagst."

    „Gisela, des stimmt aber nicht so..."

    „Doch, Herbert, des stimmt. Weil des letzte Mal hast g'meint, dass du den Termin mit deine Schafkopfbrüder ganz vergessen hätt'st. Und dann hast g'sagt, wenn so was wieder is, sollt ich dich nicht ein paar Tag vorher anrufen, sondern wenn des is. Und des hab ich jetz g'macht. Also, kommst? Um 8 Uhr geht’s los. Solltest aber a bisserl früher da sein. Die lassen keinen rein, der zu spät kommt."

    Also sagte er ja. Eigentlich sagte er 'Ja, vielleicht, wahrscheinlich, werd's versuchen'. In diesem Sinne eben. Er wollte sich nicht hundertprozentig festlegen. Zumindest in dem Ton, in dem er 'ja' sagte, sollte das voll zum Ausdruck kommen. Meinte er.

    Es war ein Samstagabend, es war ruhig und noch relativ warm für die Jahreszeit, als er da vor dem Spatenhaus saß und die wenigen Menschen beobachtete, die vorübergingen. Sollten die Menschen am Wochenende ausgehen, taten sie es bestimmt nicht in dieser Gegend. Er ging zwar am Wochenende genauso wenig aus wie unter der Woche, außer seine Freunde wollten Schafkopf spielen, aber der Samstag hatte doch noch etwas Besonderes. Er musste an diesem Tag ausnahmsweise arbeiten, da sie einen Bericht fertigzumachen hatten, der am Montag auf dem Tisch vom Chef zu liegen hatte. Eigentlich kümmerte es ihn nicht sehr, wenn er solche Termine hatte, aber in diesem Fall war sein Chef, der Dr. Erdlinger, so erregt, dass er sich genötigt sah, doch einmal eine Ausnahme zu machen. Nur um des lieben Friedens willen.

    „Herbert, jetzt schließt den Fall ab oder ich schließ' was ab mit dir! Dann kannst a paar Jahr in Dauerurlaub gehen", hatte er gemeint. Und noch viel mehr, was man hier nicht wiedergeben sollte. Also war seine Präsenz vonnöten. Also war es auch für ihn sozusagen ein weiterer Wochentag, an dem man nicht lange wegbleiben sollte. Auch wenn morgen Sonntag war, aber man wusste ja nie.

    Nun saß er dort auf dem gelben Lattenstuhl vor dem Lokal, als einziger Gast, der sich dorthin verirrt hatte. Es war äußerst unbequem. Und er gähnte lange und tief. „Die machen die Stühl wahrscheinlich so unbequem, dass ma glei wieder geht, wenn ma des dünne Bier da g'soffen hat", sagte er leise zu sich selbst. Die Bedienung, die gelangweilt an ihrem kleinen Tresen stand, mit dem Handtuch spielte und ansonsten im höchsten Grade gelangweilt vor sich hin in die Gegend starrte, fragte, ob er etwas gesagt habe.

    „Na, nix. Gar nix. Hab nur g'meint."

    „Was ham's denn g'meint?"

    „Nix, net so wichtig."

    Sie wunderte sich ohnehin, was er da so machte. Ein kleines Bier nach dem anderen, und das letzte hatte er schon vor fast einer Stunde bestellt. In ein paar Minuten war sowieso Schluss, dachte sie sich, also sollte der 'alte Depp' doch da sitzen und festkleben. Sie stieß sich leicht von der Theke ab, an der sie gelehnt hatte, und fing an, langsam die Stühle zusammenzuklappen. Einen nach dem anderen. Dabei schlug sie gekonnt mit dem Fuß auf das grüne Kreuz, das den unteren Rahmen ausmachte und dem Stuhl Stabilität und Form gab. Dadurch faltete sich das Gestell zusammen und aus einem Stuhl wurde ein flaches Ding, das man stapeln konnte. Dann lehnte sie diese Gestelle gegen die Tische, ordentlich im gleichen Abstand zueinander. Fast mit religiösem Pathos. Andächtig. Immer wieder korrigierend und begutachtend, ob der Abstand auch stimmte. Dann tat sie die Aschenbecher und Salzstreuer auf ein Tablett und brachte sie in das Lokal. Jedes Mal wenn sie wieder herauskam, sah sie Kommissar Wengler fragend an, was so viel hieß wie: 'Wann bist jetz endlich fertig, du Depp?'. Das war dann eher weniger religiös, mehr profan. Und auf keinen Fall pathetisch. Dann schüttelte sie den Kopf und kümmerte sich um die Pfefferstreuer und Bierdeckel, die ordentlich in einem Ständer aufbewahrt wurden.

    Das mit der Einladung von der Gisela hatte ihn noch den ganzen Nachmittag beschäftigt. Er hatte schon lange nichts mehr von ihr gehört, also wunderte er sich, warum sie gerade jetzt angerufen hatte. Sogar seinem Assistenten, dem Armin Staller, fiel nach dem Anruf das veränderte Wesen des Kommissars auf. Nicht, dass er den ganzen Tag, gewissermaßen ständig, wenn man so wollte, 'normal' aussah, wie man so sagte. Nein, er hatte seine Mucken, die er auch öffentlich zur Schau trug, da es ihm ziemlich egal war, was die Leute von ihm dachten. Weder seine Einstellungen zu bestimmten Themen, mit denen er manche seiner Kollegen immer wieder vor den Kopf stieß, noch seine mehr als ungewöhnliche Kleidung taten seinem Ruf irgendwie Abbruch. Man wusste, mit wem man es zu tun hatte. Und kümmerte sich nicht sonderlich darum.

    „Haben Sie ein Problem, Herr Kommissar?", fragte Armin vorsichtig, da er untrüglich sah, dass dieser sich sein Hirn zermarterte.

    Normalerweise las er am Nachmittag, nachdem er vom Essen zurückkam, immer seine Süddeutsche. Die aktuellen Teile waren am Vormittag dran, die Kommentare dazu am Nachmittag. Daran hielt er sich. Außer, es gab einen Fall, der ihn daran hinderte, eben das zu tun. Gegenwärtig war alles ziemlich ruhig. Die Ruhe vor dem Sturm, wie er zu sagen pflegte, wenn ihn jemand darauf ansprach, dass seine Abteilung wohl die beste im Haus sei. Man arbeitete immer nur, wenn einer auf unnatürliche Art starb. Wenn alle lebten, gäbe es nichts zu tun. Sein Kommentar darauf war immer, dass sie keine Ahnung hätten, wie schwer sie schuften mussten. Tag und Nacht. Nur sähe man das eben nicht, weil sie das so effektiv und professionell machten, dass es eben wie ein Uhrwerk funktionierte. Deswegen sähe es so einfach aus.

    „Armin, nix Tragisches. Nur, die Gisela hat ang'rufen, eine alte Liebe aus lang vergangenen Zeiten, und will mit mir in die Oper. Jetz überleg ich schon die ganze Zeit, warum die mit mir in die Oper gehen will. Des hat die seit Jahren nicht von mir verlangt, dass ich mich da martern muss."

    „Wahrscheinlich will sie nicht alleine gehen und wollte Sie nur einfach mal einladen. Frauen gehen nicht gerne alleine aus. Die brauchen immer jemanden, der ihre Hand hält. Und dann wollen die auch allen anderen Frauen zeigen, dass sie jemanden haben. Und die, die keinen haben sind dann neidisch. Und auch das ist Teil des Planes."

    Der Kommissar sah Armin an, als käme er von einem anderen Planeten. Sirius, vielleicht, dachte er sich. Er hatte gerade vor ein paar Wochen so eine Geschichte über ein Depot in den USA gelesen, wo man angeblich solche Wesen aus dem All aufbewahrte. Und einer solle von Sirius kommen, stand dort geschrieben. Irgendwie Gebiet 51, nannte man das. Natürlich war das, wie das in dem Artikel beschrieben wurde, streng geheim und in Wirklichkeit gab es dieses Gebiet 51 überhaupt nicht. Nur, dachte er sich, wenn es so geheim war, warum stand es dann in der Zeitung? Ein Grund konnte natürlich sein, dass es Sommer war und man nichts anders hatte, worüber es sich zu berichten lohnte. Das war auch die Zeit, in der man immer wieder das Monster im Loch Ness erblickte. Oder der älteste Mann der Welt in einem vergessenen Tal im Himalaya gefunden wurde, der sich noch gut an Edmund Hillary erinnerte, als er so Anfang zwanzig mit gerade diesem die größten Berge der Welt bestiegen hatte. Das machte ihn über 110 Jahre alt.

    „Ja, des wird’s sein. Die will die andern neidisch machen. Des glaub ich auch. Da zieh ich mir dann extra eine alte Hos'n an, dass die b'sonders livid sind, die andern Frauen."

    Der Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme.

    „Armin, eine Weisheit für's Leben: Eine Frau macht nichts, absolut nullkommanichts, nur so aus Vergnügen. Verstehst? Da steckt immer was dahinter. Nur dass wir des halt immer viel zu spät rausfinden, weil wir nicht den entsprechenden Denkapparat ham. Wir denken halt mehr grad aus, verstehst? Gedanklich in einer Einbahnstraße, immer vorwärts. Dann warten wir auf eine Kreuzung und geh'n in die andere Richtung. Wieder grad aus. Nur die Frauen, verstehst, die drehen auf einmal um, einfach so. Ohne Grund. Des haut dich dann immer aus der Bahn. Ein jedes Mal. Dann, wenn die Sach schon nicht mehr zum retten is, dann fällt uns des alles ein, was wir hätten machen sollen, dass wir nicht in diese Situation kommen. Aber dann is des zu spät, verstehst? Und deswegen denk ich nach, was sie von mir will. Damit ich drauf vorbereitet bin."

    Dann versank er wieder in seine Welt.

    „Bleiben's noch lang?"

    Die Bedienung stand hinter ihm. Der Kommissar drehte sich kurz um, nur um zu sehen, wer ihm diese Frage gestellt hatte. Er hatte nicht bemerkt, wie sie aus dem Lokal gekommen war. Die Türen zum Lokal waren offen, sie machte auf ihren weichen Gummisohlen kein Geräusch, als sie sich ihm näherte.

    „Warum? Brauchen's den Stuhl für die andern Gäst, die da rein drängeln?"

    Pausenlos fuhren Fahrräder an ihm vorbei. Ein blass roter angemalter Streifen auf dem schwarzen Asphalt bedeutete, das der Weg vor seinem Tisch ein Fahrradweg war. Es hätte aber auch eine Rennstrecke für Motorräder sein können. Jedenfalls der Geschwindigkeit nach, mit der diese Räder an ihm vorbeirauschten.

    „Oder wolln's heimgehen?", fragte der Kommissar, ohne sich nochmals umzudrehen. Er sagte es mehr in die Nacht, als zu jemandem.

    „Na, aber wir woll'n da aufräumen, und weil Sie der einzige sind, der da noch sitzt, hamma uns denkt, dass mir amal fragen. Aber Sie können auch da bleiben, weil da räumen wir halt alles um Sie herum auf. Sie können aber auch reingehen, da is eh a bisserl wärmer. Da is auch noch a bisserl länger offen. Und allein sind's da auch nicht. Wenn's kein daheim nicht ham, müssen's halt dann umzieh'n, weil schlafen können's hier nicht."

    Der Kommissar reagierte nicht, verschränkte nur seine Arme und gab der Bedienung und der gesamten Welt damit zu verstehen, dass er sehr wohl nicht daran dachte, sich irgendwo hin zu verlegen. Er wollte draußen sitzen, gerade an diesem Tisch, da er auf die Gisela warten wollte, wenn sie aus der Oper kam. Er war noch am Nachmittag, nach reiflicher Überlegung und gedanklichen Ringkämpfen mit sich selbst, zu dem untrüglichen Schluss gekommen, es nicht zu riskieren. Das Treffen in der Oper. Mit der Gisela Spranger. Aber, da er kein Unmensch war, wollte er vor der Oper auf sie warten und sich dafür entschuldigen, dass er sie hat sitzen lassen. Und fragen, warum sie ihn hatte einladen wollen. Die extra Karte sah er als ziemlich schwache Ausrede an. Er vermutete Schlimmeres.

    Er wusste, dass sie die U-Bahn am Marienplatz nehmen würde, um damit nach Forstenried zu fahren, wo sie in einem kleinen Häuschen im Maxhof wohnte. Sie hatte es von einem Onkel geerbt, damals vor vielen Jahren, als sie noch zusammen waren. Als sie ihm dieses Haus gezeigt hatte, waren sie noch sehr innig ineinander verliebt gewesen. Bei der Führung kam man ins Wohnzimmer, dann ins Schlafzimmer und danach ins Kinderzimmer. An diesem Ort hatte sie ihren Arm um Herbert Wengler gelegt und angefangen davon zu reden, wie viele Kinder sie doch gerne haben wollte. Das war das untrügliche und sichere Zeichen für ihn, es langsam aber sicher auslaufen zu lassen. Das mit der Liebe und dem zufriedenen Leben. Der Sicherheit, dem Kindergeschrei und den ständig laufenden Nasen. Den schmutzigen Windeln und dem damit verbundenen Geruch. So viel er wusste, wurde das Kinderzimmer nie als solches benutzt.

    Um also dort hin zu gelangen, in ihr Haus, in dem sie immer noch wohnte, musste sie nahe an seinem Tisch vorbeikommen. Nahe genug, dass er sie sehen und nach ihr rufen konnte. Die Bedienung fing wieder an, Stühle an die Tische zu stellen und die Tischdecken zusammenzulegen. Ab und zu warf sie einen fragenden Blick auf den Kommissar, da sie nicht verstand, warum er immer noch da saß.

    Taxis kamen und fuhren vor die Treppe, die hinauf zum Eingang der Oper führte. Das war das untrügliche Zeichen, dass die Aufführung in Kürze zu Ende war. Sein Freund und Stammtischbruder, der Ebner Rudi, war Taxifahrer. Daher wusste Wengler, wie das System funktionierte. Es gab eine Quelle im Theater, die die Zentrale anrief und Bescheid gab, dass in wenigen Minuten die Türen aufgingen. Diese Mitteilung wurde als Aufruf an alle Fahrer weitergegeben. Und dann ging das Rennen los. Der Rudi erzählte immer aufregende Geschichten von seinem bewegten Leben, wenn man sich zum Stammtisch traf. Die traurigsten waren die, in denen er nach Mitternacht einsame Frauen abholte. Dann fuhr man in der Stadt herum, sie saßen bei ihm im Wagen und redeten. Sie wollten nirgendwo Bestimmtes hin, nein, sie saßen nur da und sprachen von ihrer Einsamkeit, von der Schlechtigkeit der Männer, die sie verlassen hatten, der beschissenen Welt und wieder ihrer Einsamkeit. Und die Uhr lief. Und der Rudi Ebner hörte zu. Er hatte sogar Stammkundinnen, die nur nach ihm verlangten, wenn sie die Zentrale anriefen. Dann hieß es von der Maria, die dort am Mikrofon saß: „Rudi, Schwanthaler 7, dritter Stock. Weißt eh." Und er wusste: Des wird wieder lang werd'n.

    Vor dem Theater dauerte es keine fünf Minuten mehr und alle Türen gingen wie auf Kommando auf. Die Menschen strömten wie ein Tsunami nach draußen. Nichts konnte sie aufhalten. Der Stärkere gewann. Es wunderte Wengler, dass man sich nicht gegenseitig niedertrampelte. Aus dem bis dahin ruhigen Platz wurde ein chaotisches Gewimmel von Menschen, Autos, Bussen, Motorrädern und allen möglichen technischem Gerät, das diesen Menschen half, möglichst schnell dem Durcheinander zu entfliehen. Irgendwie konnte man sich des Eindruckes nicht verwehren, dass diese Menschen auf der Flucht waren. Ein weiteres Indiz für Herbert Wengler, die Oper zu meiden. Warum erst hingehen, wenn man dann nicht schnell genug weg kommen konnte?

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