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Dezemberblues: Eine Kommissar Wengler Geschichte
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Dezemberblues: Eine Kommissar Wengler Geschichte
eBook285 Seiten3 Stunden

Dezemberblues: Eine Kommissar Wengler Geschichte

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Über dieses E-Book

Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Der Christkindlmarkt war voll in Gang. Es roch nach Kerzen, Zimtsternen, Räucherstäbchen und Jägertee. Der Weihnachtsbaum am Marienplatz strahlte in allen Farben. Ein Chor sang Weihnachtslieder. Die Heilsarmee sammelte und ließ ihr Glöckchen klingen. Die Luft war kalt. Sehr kalt. Der Schnee knirschte unter den Schuhen. In dieser anheimelnden Stille wurde in der Viscardigasse ein Toter gefunden. Steif gefroren lag er gegen die Hauswand gelehnt. Erschossen. Bekleidet nur in Hemd und Hose, ohne Jacke oder Mantel. Niemand hatte bemerkt, dass er dort hingelegt worden war. Sehr schnell stellte sich heraus, dass er ein Bauunternehmer war, der hauptsächlich alte Wohnungen saniert und teuer verkauft hatte. Ein einträgliches Geschäft, in dem man sich nicht nur Freunde machte. Nicht nur in München. Gab es da einen Zusammenhang mit seinem vorzeitigen Tod? Wollte sich jemand rächen? Niemand in seinem Umfeld schien sehr viel über ihn zu wissen – oder nicht wissen zu wollen. Er war nicht sehr kontaktfreudig. Kommissar Wengler musste langsam herausfinden, was der Tote eigentlich getan und wie er gelebt hat und was letztlich dazu geführt hat, dass man ihn auf diese Art beseitigt hatte. Eigentlich wollte er Weihnachten bei seiner Cousine in Aschau verbringen und nicht in München einen Mörder suchen. Er freute sich schon auf die Weihnachtsgans, die das ganze Jahr extra für diesen Anlass gemästet wurde. Das gab ihm nicht viel Zeit, den Fall zu lösen, noch dazu, da niemand sonderlich gewillt war, ihm hilfreich Auskunft zu geben.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. März 2019
ISBN9783743887046
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    Buchvorschau

    Dezemberblues - Olaf Maly

    Kapitel 1

    Es war kalt an diesem Abend. Sehr kalt. Saukalt, sagte man in Bayern. Oder auch arschkalt. Es gab noch viele mehr solcher Ausdrücke, die aber immer nur dasselbe bedeuteten. Dass es eben kalt war. Der kälteste Tag seit Jahren. In der letzten Woche fror sogar der Nymphenburger Kanal zu, sodass man auf ihm Schlittschuh laufen konnte. Das hatte es seit Jahren nicht gegeben. Die ganze Strecke, vom Hubertusbrunnen bis zum Schloss. Das waren fast zwei Kilometer. Nicht, dass Herbert Wengler seine Schlittschuhe aus dem Keller geholt hätte, nein, aber er hätte können, wenn er hätte wollen. Er hatte sie noch, das Paar Eishockey-Kufen, das er sich gekauft hatte, als er jung war. Er wollte eine Dame beeindrucken, die Eiskunstläuferin war. Wie das eben so ist. Es brachte nichts. Sie verließ ihn für einen Skiläufer, was er damals, in dem Moment, überhaupt nicht hatte verstehen können. Seitdem lagen die Kufen im Keller.

    Eisstockschießen wäre ihm sowieso lieber gewesen, aber auch darauf hatte er in dieser Kälte keine gesteigerte Lust. Obwohl er in seinen mittleren Jahren ganz gut darin war. Jedes Wochenende waren sie draußen, er und seine Freunde. Bei Wind und Wetter. Der Eisstock war aus niederbayerischer Eiche. Handverlesen und nach seinen Maßen gebaut. Sein Heiligtum. Keiner durfte ihn anfassen. Sie schafften es bis zur Stadtteilmeisterschaft. Giesing gegen Harlaching. Er führte die damalige Niederlage allein auf die Tatsache zurück, dass sie vor dem Wettkampf zu viel getrunken hatten. Es war einfach kalt, die Harlachinger kamen zu spät, und die Flasche Obstler war leer, bevor sie überhaupt angefangen hatten, einen Stock die Bahn hinunterzuschießen. Sie sagten das auch den Harlachingern, da man eine gewisse Taktik dieser Leute in ihrem Zuspätkommen vermutet hatte, woraufhin man sich dann auch noch ausgiebig und handgreiflich die Meinung sagte. Das Regionaltreffen fiel also aus. Man wertete das Ergebnis als unentschieden.

    Kommissar Herbert Wengler saß in seiner braunen Cordhose mit einem Holzfällerhemd und einer dicken Jacke aus Schafwolle auf seinem Sessel im Wohnzimmer, in dem er immer saß, wenn er aus dem Fenster sehen wollte. Er hörte Wagner. Götterdämmerung. Eines seiner Lieblingsstücke. Nur die Stehlampe war an und spendete gedämpftes Licht, das von der Wand verschluckt wurde. Sanfte Schatten zeichneten sich ab, von den wenigen Blumen, die er im Zimmer hatte und der Figur des heiligen Franziskus. Er hatte sie einmal auf einem Trödelmarkt erstanden. Irgendwie gefiel sie ihm. Dass es der heilige Franziskus sei, hatte ihm der Trödelhändler gesagt. Er sei sich da ganz sicher. Und dass sie sehr wertvoll sei und er sie ihm praktisch schenken würde, für die paar Mark, die er dafür bezahlte. Er ließ es dabei und nannte sie einfach Franz.

    Sein Fenster war eigentlich eine Tür, die, da er im vierten Stock unter dem Dach wohnte, ein Geländer davor hatte. Man nannte das einen französischen Balkon. Im Sommer machte er die Tür auf, um im Freien zu frühstücken. Oder fast so wie im Freien. Was allerdings nur am Sonntag ging, da sonst die Straßengeräusche und der Gestank von den Autos nicht zu ertragen waren. Am Sonntag hingegen fuhr meistens nur die Straßenbahn an seinem Haus vorbei. Bevor sie das tat, musste sie allerdings eine Kurve nehmen, was sie sehr geräuschvoll tat. Auch der Bus, der keine hundert Meter entfernt vor dem Haus, in dem er wohnte, hielt, konnte das nicht ohne ein Gequietsche tun, sodass es einem fast die Ohren zerriss. Dann, als würde dieser sich total entspannen, weil er gerade zum Halten gekommen war, zischte es laut und er entließ eine große schwarze Wolke in den bayerischen Himmel, die, wenn der Wind richtig wehte, genau am französischen Balkon des Kommissars endete und sich dort gleichmäßig verteilte. Teilweise auch im Wohnzimmer.

    „Wahrscheinlich ham die sich keinen richtigen Balkon nicht leisten können da drüben in dem Frankreich", meinte er einmal, als er von seinem Freund dem Egon Hintermeier aus der Glockenbachstraße danach gefragt wurde, warum man das einen französischen Balkon nannte.

    „Wundern würd mich des nicht – sind doch alles Hungerleider, die Franzosen", meinte dieser mit einem mitleidigen Lächeln.

    Sie saßen gerade mit dem Schäfer Franz aus Giesing bei einem gemütlichen Abend, den sie mit Schafkopfen, Bier und Brezeln verbrachten. Dazu gab es noch Romadur und Radi. Das spielte sich allerdings im Sommer ab, bei lauen Temperaturen. An einem Samstag. An diesem Tag hatte der Egon zu Mittag Kraut und Bratwurst gegessen, was den Herbert Wengler geradezu dazu nötigte, seine Tür weit aufzumachen. Wegen des Romadur natürlich auch.

    Das Hemd, das er gerade anhatte, hatte er vor ein paar Jahren von seinem Freund Egon Hintermeier bekommen. Es war ein Original aus Kanada. Nicht, dass weder er selbst noch der Egon nach Kanada gereist waren, nur um ein Hemd zu kaufen. Nein, ganz bestimmt nicht, aber der Neffe vom Egon, der Franz, der Sohn seiner Schwester, war dort. Zum Skifahren. Als ob man in Bayern nicht genug Berge hätte, sagte er zu seinem Neffen, als dieser ihm das voller Begeisterung erzählt hatte. Als Wiedergutmachung sozusagen, und um seinem Onkel eine Freude zu machen, schenkte ihm dieser also dieses Holzfällerhemd. Rote und braune Karos. Dick gewebte Wolle, schon fast wie ein Pullover. Direkt aus Kanada. Mit einem Ahornblatt im Kragen. Der Egon Hintermeier hatte dafür absolut keine Verwendung, da er immer nur Trachtenhemden trug. Da dieses Hemd als solches absolut nicht durchging, überließ er es also seinem Freund Herbert Wengler, der so ziemlich alles trug, was ihm irgendwie passte. Er hatte nie einen Sinn für Mode oder dergleichen gehabt, also war es ihm ziemlich egal, wie das Hemd aussah. Das Hemd war warm, und das war ihm wichtig. Besonders in dieser Jahreszeit.

    Es war ein paar Wochen vor Weihnachten. Am nächsten Tag sollte der zweite Advent sein. Die stille Zeit, in der man sich des vergangenen Jahres besann und nachdachte, warum es so schnell verflogen war. Es hatte doch gerade erst angefangen, und schon war es wieder vorbei. Die Lichtbänder der Geschäfte, die man für die vorweihnachtliche Zeit angebracht hatte und die wie Eiszapfen aussahen, waren um diese Zeit noch an. Auch einige Bäume hatte man mit kleinen Lampen ausgestattet, die dann erleuchtet wurden. Es sah seltsam aus, wie er sie so von seinem Fenster aus betrachtete. Leuchtende Bäume. Irgendwie passte das nicht. Bäume leuchten nicht, dachte er sich. Wenn sie leuchten sollten, hätten sie Lampen, die daran wachsen.

    Er freute sich auf Weihnachten. Es würde wieder nach Aschau fahren, zu seiner Cousine. Wie jedes Jahr. Er dachte an den Schnee, der so schön unter den schweren Sohlen seiner Stiefel knirschte, wenn er die verschneiten Wege den Bach entlangging. Ins Dorf. Um sich ein Bier zu genehmigen. Man kannte ihn bereits. Er war der Kriminaler aus der Stadt. Man hatte Respekt vor ihm und lud ihn ein, am Stammtisch Platz zu nehmen. Was keineswegs normal und eine gewisse Ehre war. Und den Kommissar oft eine Runde kostete.

    Dann, am Heiligabend würde es Weißwurst geben, und danach würden sie den Weg zur Christmette in die kleine Kirche gehen. Mit einer Kerze in der Hand, wie in einer Prozession. Seine Cousine sang immer leise Weihnachtslieder, wenn sie diesen Weg gingen. In der Kirche war immer ein kleiner Weihnachtsbaum aufgebaut, mit ausschließlich roten Kugeln und viel Lametta. Alle waren festlich gekleidet, hatten ihre schönsten Trachten und den Schmuck an, den schon die Vorfahren getragen hatten. Entlang der Bänke waren große Kerzen aufgestellt und daran mit roten Schleifen grüne Tannenzweige befestigt. Der Pfarrer hielt seine Ansprachen, man sang feierliche Lieder und nach der Messe würde jemand „Stille Nacht, heilige Nacht" singen und dabei auf der Gitarre leise die Saiten zupfen. Wie es war, als man das Lied das erste Mal aufgeführt hatte. Schöne Gedanken. Und er freute sich auf die Gans, die seine Cousine das ganze Jahr gemästet hatte. Nur für diesen Tag.

    Ein schrilles Klingeln schreckte ihn aus seinen Träumen. Wie es eben so war. Man lehnte sich zurück, dachte an nichts Böses und wurde einfach so herausgerissen aus der Stille, an die man sich gewöhnt hatte. Gnadenlos. Es war das Telefon. Er hatte sich erst vor Kurzem eines zugelegt, eins, das man mitnehmen und durch die ganze Wohnung tragen konnte. Ohne Schnur. Irgendwie war das besser, dachte er sich, als er bei seinem Freund, dem Schäfer Franz war und es gesehen hatte. Dann ging er auf dem Weg vom Büro kurz im Kaufhof vorbei und nahm sich eines mit. Die Verkäuferin, ein junges Mädchen mit engen Hosen, die fast vollständig aufgerissen waren, und einem noch engeren Oberteil, die ständig lächelte, als wäre ihr Gesicht eingefroren, versuchte, ihm zu erklären, wie das funktionierte. Nach vergeblichen Bemühungen ihrerseits, die Betriebsanleitung, die in einer unverständlichen Sprache abgefasst war, zu entziffern, gab sie endlich auf. Dann meinte sie, dass sie so etwas nie gebrauchen würde, also eigentlich gar nicht daran interessiert war, wie so ein Ding funktionierte. So ein altes Modell, das gehöre ins Museum, aber wenn er es denn unbedingt wolle, solle das nicht ihr Problem sein. Auf den Gedanken, dass dieses Gerät nicht für sie, sondern für ihn war, schien sie nie gekommen zu sein.

    Es klingelte also. Man konnte den Klingelton ändern, hatte er gelesen, aber nach einigen vergeblichen Versuchen diesbezüglich fand er, dass der eingebaute Ton schon in Ordnung sei.

    „Ja, was is?", meinte er etwas aufgebracht, als er den Knopf gedrückt und die Verbindung hergestellt hatte.

    „Herr Kommissar ..."

    „Armin, ich hätt des wissen sollen. Und ich Depp hab auch noch abg’nommen. Hamma an Toten, oder warum störst du mich an einem beschaulichen Samstag? War grad so schön dag’sessen."

    „Ja, Herr Kommissar. Leider muss ich Sie stören, weil wir wirklich einen Toten haben. Mitten in München. Ich könnte Sie abholen, wenn Sie wollen. Ist doch ziemlich kalt heute."

    „Des machst, Armin, weil ich heut nicht mehr mit der U-Bahn fahr."

    „Dann bin ich in zwanzig Minuten da."

    Ohne darauf zu antworten, drückte der Kommissar den Knopf, um das Telefon auszuschalten und steckte den Hörer wieder in die Ladevorrichtung.

    „Ja, Richard, musst a bisserl warten. Werd schon wiederkommen."

    Damit meinte er Richard Wagner, mit dem er ein besonders inniges Verhältnis hatte. Er hätte gerne in dieser Zeit gelebt. Nicht nur wegen Richard Wagner, auch wegen seinem König Ludwig, den er sein ganzes Leben verehrte. Manchmal dachte er sich, dass er wahrscheinlich deswegen Kommissar geworden war, da er es nicht verwinden konnte, dass sein König so hinterlistig umgebracht worden war. Und man nie den Täter gefunden hatte. Er wollte, mehr unterbewusst vielleicht, sicherstellen, dass Mörder gefasst werden. Wenn er auch für seinen König ein paar Jahre zu spät auf die Welt gekommen war.

    Langsam zog er sich seine Pelzstiefel an, die er aus dem Fundus der Bundeswehr erstanden hatte. Sie waren schwer und warm. Beides gute Attribute im Zeichen der Kälte. Nachdem er sich noch den Parker übergeworfen hatte, ging er langsam die Treppen hinunter.

    Kapitel 2

    Der Anruf kam gegen neun Uhr abends. Das Protokoll besagte einundzwanzig Uhr zwei. Eine Frau Krämer, Sigrid Krämer, war auf dem Weihnachtsmarkt und wollte gerade von der Theatinerkirche in Richtung Marienplatz gehen, an den Buden vorbei. Sie wollte möglichst schnell zur U-Bahn kommen, da es sehr kalt war und das schon eine Weile ertragen hatte. Sie war nicht in der Kirche, sondern eben auf dem Markt. Der Weg an den Buden vorbei war sehr verstopft. Wie die Autobahn am Wochenende nach Kufstein im Winter. Die Leute strömten in alle Richtungen, blieben plötzlich stehen, rempelten sich an, fluchten und warfen sich giftige Blicke zu. Manche standen mit roten Nasen an den hohen Tischen neben den Ausschankstationen und ließen sich mit Glühwein volllaufen. Oder Jägertee. Jedenfalls mit viel Alkohol. Ein Kinderchor hatte sich vor der Theatinerkirche aufgebaut und sang alte Weihnachtslieder. Die Frau, die sie dirigierte, sang leise aber bestimmt mit. Alle hatten einen dicken Schal um den Hals gewunden, um ihre Stimmbänder anzuwärmen.

    Der einzige Weg, schnell zum Marienplatz zu kommen, war, sich einen Weg hinter den Buden zu suchen. Also überquerte sie die Theatinerstraße und verschwand im Dunkel zwischen den Häusern und den Buden. Es war eng, aber es ging. Als sie ein paar Schritte gegangen war und nach links blickte, sah sie in ihrem Blickfeld einen Mann dort in der Viscardigasse gegen die Mauer gelehnt sitzen. In der Kälte, auf einem kleinen Berg von Schnee.

    Für die Leser, die nicht mit dieser Gasse vertraut waren, eine kurze Einführung. Die Viscardigasse erstreckte sich, auf gerade einmal fünfzig Metern, zwischen Theatinerstraße und Residenzstraße, direkt hinter der Feldherrnhalle. Im Volksmund wurde sie auch Drückebergergasse genannt. Das kam daher, dass im Dritten Reich die Feldherrnhalle eine besondere Bedeutung hatte. In der Hauptstadt des Führers, der Bewegung. Es war der Platz des ersten Putschversuches. Man hatte dann im Dritten Reich, zum Gedenken an die Gefallenen dieses Ereignisses, ein Denkmal an der Feldherrnhalle errichtet, das immer von zwei Soldaten bewacht wurde. Jeder, der an diesem Mahnmal vorbeiging, war angehalten, die Hand zu heben und zu grüßen. Wer das nicht wollte, nahm dann eben die Viscardigasse. Damit bekam sie ihren Namen, die Drückebergergasse.

    Dort saß also dieser Mann, der scheinbar schlief, auf diesem kleinen Hügel aus Schnee. Ein bisschen zu kalt, um dort Rast zu machen, dachte sich Sigrid Krämer. Aber vielleicht hatte er ja zu viel getrunken und war ganz einfach umgefallen. Man sah ja all die Leute, die nicht mehr gerade gehen konnten. Nur seine Kleidung passte irgendwie nicht zur Umgebung. Er hatte nur ein weißes Hemd an, mit einer schwarzen Fliege, die aufgelöst um seinen Hals hing. Die dunkle Hose sah sehr fein aus, nicht gerade etwas, was man an einem so kalten Tag im Freien tragen sollte. Mehr zu einer Weihnachtsfeier oder jedenfalls einer in geschlossenen Räumen stattfindenden Veranstaltung. Auch seine feinen Schuhe waren nicht gerade für Schnee geeignet. Sie ging zu ihm, da sie dachte, es sei nicht gut, gerade an dieser Stelle in dieser Kälte ein Schläfchen zu halten. Noch dazu ohne Mantel oder Jacke. Sie wollte ihm das sagen. Sie stupste ihn an. Ganz leicht. Er bewegte sich nicht. Noch einmal ein bisschen stärker. Dann sagte sie noch:

    „Hallo, Sie. Des is keine gute Idee, hier zum Schlafen bei der Kält’n. Sie sollten sich schon amal woanders hinsetzen."

    Mit dem ein wenig heftigeren Stoß fiel der Mann zur Seite um. Wie ein Stück Eis. Gefroren, steif und unbeweglich. Sie stand dort und sah sich um. Schaute, ob jemand das gesehen hatte. Niemand war in der Nähe. Irgendwie fühlte sie sich schuldig, dass er umgefallen war. Keiner sah, wie sich ihre Augen weiteten und wie ihr vor Angst die Knie weich wurden, dass sie fast umgefallen wäre. Nur ein schneller Griff an die Hauswand, die neben ihr war, verhinderte das. Langsam ging sie zurück und nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche. Ihre Hände zitterten. Dann wählte sie 110 und wartete, dass sich jemand meldete. 

    Kapitel 3

    Kommissar Wengler stand im Gang, unten vor der Haustür, und trat von einem Fuß auf den anderen. Er hatte seinen Parker bis oben hin zugemacht, was aber nur bedingt gegen die Zugluft half. Das Gesicht war frei, und dort tat es am meisten weh. Zwar hatte er noch seinen Hut aufgesetzt, aber das half auch nur wenig. Er hatte vor Kurzem gelesen, dass im Gesicht die empfindlichsten Nerven am ganzen Körper wären. Eigentlich, genau gesagt, rangierte das Gesicht nur an zweiter Stelle. Die erste war weiter unten, in der Mitte, wie man sich denken konnte. Die war allerdings gut eingepackt. Also nahm in diesem Moment das Gesicht den ersten Platz ein.

    Alle zwei Minuten musste er das Licht einschalten, das immer wieder automatisch ausging. Er wartete auf Armin. Vor der Tür zu warten, war ihm zu kalt. Der Wind hatte aufgefrischt und ließ die Eingangstür leicht gegen den Rahmen schlagen. Es hatte angefangen, leicht zu schneien. Ganz winzige Flocken. Vielleicht war es auch der aufgewirbelte Schnee der Straße. Genaues konnte man nicht ausmachen. Es war ihm auch ziemlich egal. Jedenfalls schwebten die Flocken durch den offenen Spalt und sammelten sich in der hinteren Ecke, wo der Wind keine Macht mehr hatte.

    Das Schloss passte schon lange nicht mehr. Der Rahmen war verzogen, die Tür selbst hielt sich nur noch mit gutem Willen in den Angeln. Der Hausmeister reparierte, was möglich war, ohne es wirklich endgültig zu schaffen.

    „Des is a alt’s G’lump, die Tür", sagte er immer, wenn man ihn wieder etwas festschrauben sah. Dann fluchte er leise vor sich hin. Kommissar Wengler dachte immer, dass er nur so viel reparieren würde, wie nötig, damit ihm die Arbeit nicht ausging. Aber sicher war er sich da nicht.

    Ein junges Paar, das sich aneinanderschmiegte, kam herein. Sie lachten und küssten sich ununterbrochen. Beide waren scheinbar ziemlich betrunken. Sie hatten ihre Mäntel weit offen und schienen trotzdem nicht zu frieren. Sie gingen an ihm vorbei und registrierten ihn nicht. Als würde er nicht existieren. Der Kommissar kannte sie nicht, wie er viele hier in diesem Haus nicht kannte. Zu viele zogen aus und andere wieder ein. Es war ein altes Haus, und die Mieten waren verhältnismäßig billig. Ein Glücksfall in München. Die Wohnungen standen keine zwei Tage leer, bevor wieder jemand Neues einzog. Die zwei Turteltauben schwankten verdächtig schlendernd die Treppe hinauf. Sie machten sich keine Mühe, leise zu sein. Im ersten Stock fiel eine Tür ins Schloss. Das Licht ging wieder aus. Jemand rief „Ruhe" durch das Haus. Dann war es wieder still.

    Alte Zeitungen lagen herum, Reklame, die die Leute einfach auf den Boden geworfen hatten. Jeder der ramponierten Briefkästen hatte einen Aufkleber, keine Reklame hineinzuwerfen, aber das interessierte den Postmann nicht im Geringsten. Der Reinigungsdienst, den man hatte, kam dann einmal die Woche und schaufelte alles weg.

    Die Straßenbahn mühte sich um die Kurve und verursachte ein die Ohren zerreißendes Geräusch, das durch die Stille der Nacht noch stärker zu sein schien als am Tage. Funken, die man durch einen schmalen Spalt sehen konnte, stoben von der Oberleitung und den Schienen.

    Ein Auto hielt vor dem Haus. Langsam öffnete Kommissar Wengler die Tür und blickte nach draußen. Es war, wie er vermutet und auch gehofft hatte, Armin, der auf dem Bürgersteig parkte. Es war Samstagabend, also kein großartiger Verkehr. Aber das hätte er auch im Feierabendverkehr gemacht. Da kannte er keine Hemmungen. Immerhin war er im Dienst.

    Das Licht ging an im Auto, als der Kommissar sich näherte. Und die Tür wurde von innen aufgemacht. So schnell es ging, wandte er sich seitlich herum und ließ sich schwerfällig in den Sitz fallen.

    „Armin, morgen beantragst so an SUV, weißt schon, was die Frauen immer ham, damit’s ihre Bagage in den Kindergarten fahren können. Da sitzt ma wie auf einem Stuhl und nicht so tief wie in einem Sportauto. Des is nix mehr in meinem Alter."

    „Auch einen schönen Abend, Herr Kommissar. Ich hoffe, es geht gut?"

    „Wie kann des gut geh’n, wenn wir da raus müssen bei dem Wetter?"

    „Na ja, die Toten suchen sich das nicht aus."

    „Da hast recht. Und dene ist des auch ziemlich egal, wie des Wetter is."

    Das nächste, was der Kommissar tat, war, das Radio auf Bayern 4 zu stellen. Ohne das wäre er keinen Meter weitergefahren. Die Heizung lief auf Hochtouren. 

    „So, erzähl, was is los?"

    „Viel weiß ich nicht, aber eine Frau hat einen Toten in der Viscardigasse gefunden. Sie wollte zur U-Bahn und meinte, das sei ein schnellerer Weg, da hinter den Buden zu gehen. Das hat sie natürlich bereut, meinte sie, weil sie nun schon seit einer Stunde auf uns wartet. Die Polizisten, die dort auf uns warten, meinten, sie solle so lange bleiben, bis wir da sind."

    „Was ein totaler Schmarren is, weil die sowieso ins Präsidium muss. Und was kann die schon erzählen?"

    „Wissen wir nicht, werden wir aber bald wissen."

    „Dann fahr. Und schalt die Heizung auf meine Füß ein, weil die schon wie Eiszapfen sind. Die Bundeswehrstiefel war’n auch schon amal besser."

    Kapitel 4

    Als Frau Sigrid Krämer die 110 gerufen hatte, standen wenige Minuten später zwei uniformierte Polizisten neben ihr. Sie sahen die kleine Menschenmenge, die sich mittlerweile um

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