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Die Akte Matthias K.
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eBook251 Seiten3 Stunden

Die Akte Matthias K.

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Über dieses E-Book

Als ich in einem kleinen Bericht über Matthias K. las, der beschuldigt wurde, eine Bank überfallen und zwei Menschen erschossen zu haben, ohne vorher jemals mit dem Gesetz in Konflikt gekommen zu sein, machte ich es mir zur Aufgabe, den Hintergründen dieser Tat nachzugehen. Der kurze Artikel gab keine Einzelheiten preis, aber es interessierte mich. Vielleicht gerade deshalb. Ich musste wissen, wie, und vor allem warum, es dazu gekommen war. Nach einigen Wochen Korrespondenz und Besuchen in der Haftanstalt war Matthias K. bereit, mir alles zu erzählen. Dies ist also die Geschichte eines Lebens, das in gewisser Weise nicht selbstbestimmt war, in dem man ganz einfach den Eindruck bekam, es musste so weit kommen, irgendwann. Die Weichen waren gestellt und es gab keinen Ausweg, auch wenn das die beteiligten Personen noch nicht wussten.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. März 2019
ISBN9783743858091
Die Akte Matthias K.

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    Buchvorschau

    Die Akte Matthias K. - Olaf Maly

    Vorwort

    Als ich den kurzen Bericht auf Seite sieben in der Tageszeitung las, links eingerahmt von einer Reklame einer Möbelfirma, die unheimlich gute Polstermöbel zu haben schien, und rechts eine für Medizin zur Beseitigung von Fußpilz, ließ mich der Gedanke nicht mehr los, herauszufinden, was wirklich geschehen war in diesen wenigen Tagen, als sich das Leben eines Menschen derartig verändert hatte. Und mit ihm das einer Handvoll anderer. Es waren nur ein paar Sätze, wahrscheinlich, um die Seite zu füllen. Eigentlich unbedeutend. Etwas, das man las und danach sofort wieder vergaß.

    Man hatte über einen jungen Mann berichtet, der sich bis zu diesem Zeitpunkt nichts hatte zu Schulden kommen lassen und der ein gemächliches, einfaches Leben in einem kleinen Dorf in Niederbayern führte.

    Die Überschrift lautete : „Lisperer endlich gefangen!"

    Der kurze Bericht besagte, dass man mit der Gefangennahme eventuell mehr Tote verhindert hatte. So dachte man. Von all diesen Vorfällen und Geschichten um diesen Täter nahm eigentlich niemand richtig Notiz. Weder das Dorf wurde berühmt, noch er selbst. Niemand kannte ihn oder seinen Namen, außer die wenigen Leute, die dort wohnten, und doch wusste in ein paar Tagen angeblich halb Deutschland, wer er war und was er getan hatte. Ich glaube nicht, dass seine Geschichte weiter als über die Grenze seines Wirkungsbereiches hinaus bekannt wurde. Es gab zu viele dieser Menschen, die für ein paar Tage im Lampenlicht standen und so schnell vergessen wurden, wie sie aufgetaucht waren. Wie ein Blitz, nach dem man sich umdrehte. Man hörte nur noch den Donner am Horizont verschallen.

    Er hatte einen Bankraub und angeblich zwei Menschen auf dem Gewissen, und laut Zeitungsbericht hatte er es nicht eine Sekunde bereut. Ganz im Gegenteil. Er meinte, die beste Zeit seines Lebens erlebt zu haben. Das war natürlich für die Menschen, die ihn nicht kannten, das perfekte Bild eines Monsters. Ein Mensch, den man für den Rest seines Lebens einsperren sollte.

    Und gerade das faszinierte mich. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Ein unbescholtener, junger Mann wird zum Verbrecher und meinte, es sei die beste Zeit seines Lebens gewesen. Ich wollte wissen, wie ganz einfache, normale Leute von heute auf morgen in eine solche Situation kommen konnten. Ob sie es wollten oder dazu getrieben wurden. Und ob es vermeidbar gewesen wäre. Was einen dazu bringen konnte, kriminell zu werden. Und ob es einem selbst passieren konnte, ohne dass man es wusste, wollte oder ahnte. War es Veranlagung oder nur das unglückliche Zusammentreffen ungünstiger Umstände, die dazu führten?

    In der Kriminalwissenschaft gab es keine eindeutige Erklärung für die Kriminalisierung eines Menschen. Viele Aspekte konnten dazu führen. In früheren Jahren, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, war man davon überzeugt, dass kriminelle Energie angeboren war. Menschen wurden kriminell geboren und konnten nichts daran ändern. Wie eine angeborene Behinderung. Oder die Homosexualität. Dies hatten sich dann die Nationalsozialisten als These zu Eigen gemacht und dementsprechend gehandelt. 

    Man wusste heute, dass dies falsch war. Und man wusste, dass es keine eindeutige, klare Antwort auf diese Frage gab. Unzählige Faktoren spielten eine Rolle. Das soziale Umfeld, die Sozialstruktur und der Druck von Menschen, die einen umgaben, gehörten zu den wichtigsten. Auch eine Desintegration konnte ein bestimmendes Indiz sein. Man verlor die Mitkontrolle der Menschen, die einem nah waren. Keiner sagte einem, was gut oder schlecht war, was man lieber nicht machen sollte. Dann konnte es sein, dass man deswegen mehr zu kriminalistischen Wertvorstellungen neigte. Was immer der Grund war, warum Menschen kriminell wurden, sie hatten eines gemeinsam. Sie wichen ab von den aufgestellten Normen, die sie nicht mehr als die ihren betrachteten.

    Es gab auch die These von Freud, der meinte, dass das Handeln von bestimmten Individuen eine Fehlentwicklung sei, die maßgeblich in der Kindheit ihre Ursachen hatte. Auch darüber ließe sich sicher streiten.

    Was immer der Grund auch war, dieser junge Mann hatte sich von einem ganz normalen, unbedeutenden Mitbürger in wenigen Tagen zu einem Bankräuber und Mörder profiliert. Und ich wollte wissen, wie das möglich war.

     Also rief ich die JVA an und fragte, ob ich einen Schriftverkehr mit dieser Person beginnen  könne. Ich dachte, ich sollte es langsam angehen lassen. Vertrauen gewinnen und nicht mit der Tür ins Haus fallen. Ich ließ allerdings keinen Zweifel daran, worum es mir ging. Sie meinten, ich könne es versuchen. Es gäbe keinen Grund, mich davon abzuhalten. Also schrieb ich den ersten Brief, in dem ich mich vorstellte und auch mein Anliegen darbrachte. Es dauerte einige Wochen, bis ich eine Antwort bekam.

    Keine zwei Monate später standen wir in regem Schriftwechsel. Ich stellte ihm Fragen, und er antwortete mir darauf. Und dann trafen wir uns. Wir redeten, nicht nur über ihn und was er getan hatte. Wir diskutierten über alles, was ihm zu dieser Zeit wichtig war. Und es war viel, was für ihn wichtig war. Manchmal, in diesen Gesprächen, hatte ich den Eindruck, dass es das erste Mal war, dass ihn jemand ernst nahm. Dass jemand mit ihm redete, ohne Vorurteile, ohne darauf zu achten, wie er aussah oder wie er sprach. Es erlöste ihn irgendwie. Man sah es ihm an. Er war irgendwie fröhlich, schon fast glücklich, obwohl es sicher keinen Grund gab, in seiner Situation glücklich zu sein.

    Damals, in der Zeitung, nannte man ihn nur Matthias K. Ich wollte einen Namen haben, der zu diesem Menschen passte, also nannte ich ihn Matthias Knollenberger. Er hieß nicht so, aber das tat auch nichts zur Sache. Auch die sonst noch beteiligten Personen hatten von mir Namen erhalten, die nicht der Wirklichkeit entsprachen.

    Es ging nicht um einen Namen, diese sind austauschbar. Es ging um den Menschen und die Frage, ob jemand nur so, aus heiterem Himmel kriminell werden konnte. Ob es uns auch passieren konnte, und was wir dagegen tun, dass es nicht passierte. Haben wir nur das Glück „normal" zu sein? War seine Behinderung, wenn sie auch nur sehr minimal war, der Grund für seine Entwicklung, schon von Kindesbeinen an? Hätte man das aufhalten können? Hätte das Umfeld, in dem er aufwuchs, etwas ändern können? Viele Fragen, die auch nach dem Ende der Geschichte nicht beantwortet werden würden, aber doch einen kleinen Einblick in die Umstände vermittelten, die Menschen dazu brachten, auf bestimmte Reize in gewisser Art zu reagieren.

    Man wird es nicht verstehen, es bleiben mehr Fragen offen, als beantwortet werden. Die Abläufe sind zu komplex. Es gibt Dinge, die wir glauben zu verstehen, die dann allerdings mit Ereignissen verwoben sind, von denen wir in diesem Moment keine Ahnung haben. Und doch haben sie Einfluss gehabt auf die Taten , die viele Jahre später verübt  wurden. Ich denke, dass nicht einmal die Person, die diese Taten verübt hatte, sich dessen bewusst war, woher es kam, was ihn dazu trieb. Es mochte Jahre dauern und ein langer Gedankenprozess gewesen sein, selbst herauszufinden was der Auslöser gewesen sein konnte. Und wenn man meinte, den Grund gefunden zu haben, konnte das auch noch falsch sein.

    Ich habe die Geschichte so wahrheitsgetreu wie sie mir erzählt wurde niedergeschrieben. Sollten bestimmte Tatsachen nicht der Wirklichkeit entsprechen, ist das nicht meine Verantwortung. Vielleicht doch ein wenig, da ich eventuell bessere Fragen hätte stellen können. Oder die Antworten besser hätte einordnen sollen. Was immer es war, dies ist die Geschichte, so wie ich sie verstanden habe. Und wie sie mir erzählt wurde.  

    Neben Matthias Knollenberger hatte ich mich auch mit den Polizisten unterhalten, besonders mit Kommissar Schrammiger, der mir sehr dabei geholfen hatte, zwischen den Zeilen zu lesen. Seine langjährige Erfahrung in diesen Angelegenheiten  war absolut kritisch, der Wahrheit auf den Grund zu kommen. Seine Person existierte, der Name wurde, wie bei allen anderen Personen auch, geändert. Er lebte wirklich in einer alten Burg, von der nur noch der Turm stand, in dem er wohnte. Der Rest war in sich zusammengefallen und bildete eine Art Karree, an dem der Turm an einer Ecke als Säule den Platz beherrschte. Der Rest der Ruine sah aus wie ein niedriger Zaun aus alten Steinen. Im Sommer hatte der Kommissar in diesem Karree einen Tisch aufgestellt, an dem wir die meiste Zeit verbrachten. In einer Ecke war auch ein kleiner Fischteich, mit vielen Pflanzen und Fröschen. Es war ein kleiner, zierlicher Ort des Vergessens. Man schaltete die Welt, die sich vor den niedrigen Mauern abspielte, komplett aus. Nichts war zu hören oder zu sehen, als die grüne Fläche Rasen und ein paar Mauerreste. Das einzige Geräusch war der Wind, der mit dem Laub der Bäume spielte.

    „Es kostete mich meine Ehe", meinte er einmal.

    „Aber es war es wert", schob er sofort, ohne zu zögern, nach.

    „Wieso war es das wert?"

    „Sehen Sie, junger Mann, wenn man zusammenlebt, macht man alles zusammen. Man versteht sich. Man weiß, was der andere denkt. Wenn man dagegen ist, was der andere macht, ist es vorbei. Dann lebt man nur noch für sich und seine Ideen. Es ist auch meine Schuld, da ich die Wünsche und Träume meiner Frau nicht gesehen habe. Ich habe nur den Turm gesehen, nicht was sie wollte. Und der Turm war nur mein Traum, nicht der ihre. Wir haben uns beide keine Mühe gegeben, das zu ändern."

    Dann stießen wir darauf an. Wir redeten nie wieder darüber.

    Auch habe ich alle die Orte besucht, in denen die Handlung ablief. Hauptsächlich, um mir ein besseres Bild davon zu machen, ob es einen grundlegenden Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung von Matthias Knollenberger gehabt haben könnte. Vielleicht, dachte ich mir, musste man dort leben, um zu verstehen, wie es war. Was Einsamkeit bedeutete, Verachtung und das ausgeschlossen sein vom Rest der Welt. Wie ich festgestellt hatte, lief an diesen Orten die Zeit anders. Sie war nicht kontinuierlich. Manchmal blieb sie stehen, manchmal raste sie vor sich hin. Die meiste Zeit merkte man sie nicht, sie war irgendwie nicht vorhanden. Wenn man in diesen Ansiedlungen, in denen nie etwas passierte, die wenigen Menschen beobachtete, wie sie nur vor sich hinstarrten und warteten, dass die Sonne unterging, kommt man auf die seltsamsten Gedanken. Ich habe dort ein paar Tage gewohnt und mich immer gefragt, wie man nur so leben konnte. Ich hatte es versucht. Mich in einem Zimmer eingemietet, wollte dort leben und das Gefühl spüren, das Matthias Knollenberger gehabt haben musste, als er dort wohnte. Es gelang mir nicht. Nach zwei Tagen war es mir zu viel. Ich reiste ganz einfach wieder ab. Auch die nachfolgenden Besuche sollten nur immer Tagesausflüge sein. Ich hoffe dennoch, dass ich den Ton ein wenig getroffen habe, der einen dort umgab. Die Einsamkeit, die Verzweiflung, die längst in Resignation übergegangen war. Die Gleichgültigkeit gegenüber seinem eigenen Leben, das nichts wert zu sein schien. Die erschreckende Erkenntnis, dass das eigene Dasein an einem vorbeiging und man es nicht einmal merkte. Stumpfsinnig, sich ganz einfach treiben ließ.

    Nach vielen Besuchen dort an all den Schauplätzen, die sich nur dem Namen nach unterschieden, die ansonsten aber alle gleich aussahen, war mir vieles klar. Ich verstand ein wenig besser, wie man dort dachte, wie man versuchte, sein Leben zu meistern, wie man vergessen vom Rest der Welt auf sein Ende wartete. Das war das Umfeld, in dem alles begann. Im Speziellen an einer alten, nicht mehr benutzter Tankstelle.

    An der Tankstelle

    Matthias Knollenberger stand hinter der Ecke des kleinen Gebäudes, das die Tankstelle ausmachte. Es war Sonntag. Ehemals ausmachte, musste man sagen. Sie gab es nicht mehr. Das Gebäude stand noch, die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Tür fest im Rahmen verschraubt. Die Zapfsäulen waren abgerissen, nur die Drähte der Elektrik sah man noch wirr am Boden liegen. Als hätte man Adern aus einem Körper gerissen, sie irgendwo abgetrennt und einfach liegen gelassen. Und ihm damit das Leben genommen. Das Dach über den Zapfsäulen blätterte  langsam ab. Wenn es windig war, schlug es unentwegt auf die verrosteten Stahlträger, die es eigentlich halten sollte. Es war auch einmal eine Reparaturwerkstatt für Autos und Motorräder mit angeschlossen, wie ein verwittertes Schild über dem Rolltor anzeigte, das kaum noch zu lesen war. Aber das war lange her . Nur noch Graffiti war zu sehen, verwaschen und undeutlich. Buchstaben, Symbole, Geschmiere. Das übliche.

    Matthias wurde am Tag davor zweiundzwanzig. Zwar hatte das keine Bedeutung, weder für ihn noch für die Geschichte, aber es war eben so und ist schon deswegen erwähnenswert. Er feierte den Tag im Kreuzeck. Seiner Stammkneipe. Warum die Kneipe Kreuzeck hieß, erklärte ihm der Wirt, Alfons Kloser, einmal eingehend:

    „Schau, Matthias, wir sind an einer Kreuzung und des  Lokal hier ist an einem Eck von  der Kreuzung. Also heißt des Kreuzeck. Wenn wir nicht an einem Eck wären, sondern weiter drin in der Straße, würde des natürlich auch nicht so heißen, aber weil des so is wie des is, heißt mein Etablissement  eben Kreuzeck."

    Etablissement sagte er so, wie man es schrieb. Damit war die Erklärung abgeschlossen. Matthias nickte verständnisvoll und gab sich damit zufrieden. Eigentlich war es ihm sowieso egal, wie die Kneipe hieß, hauptsache, es gab etwas zu trinken.

    Und das gab es an diesem Tag genug. Irgendwie hatte es sich herumgesprochen, dass heute sein Geburtstag war. Als er, es war ein Samstag, dort gegen zwei Uhr nachmittags auftauchte, war sein erster Gang der zum Wirt.

     „Fonsi, sagte er bedeutungsschwer und leise, damit es niemand hörte, als er sich auf einen der hohen Stühle schwang und sich selbst über den Tresen hievte, „bitte sag niemandem, dass ich heute meinen Geburtstag hab. Sonst muss ich noch einen ausgeben, und des will ich schon gar nicht, verstehst?

    „Selbstredend, Matthias, keiner wird davon wissen, dass des heut dein Geburtstag is. Ich werd des niemandem nicht  sagen."

    Das wiederum sagte der Wirt, vielsagend lächelnd, so laut, dass alle Anwesenden ihre Hälse reckten, sich gegenseitig ansahen und dann nacheinander zu Matthias gingen, um ihm handfest zu gratulieren. In diesem Moment bereute er es natürlich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Aber damit war es natürlich gelaufen. Nicht, dass sie ihn besonders mochten, nein. Aber einen Anlass für Freibier hatte man noch nie ausgeschlagen. Da sah man nicht so genau darauf, ob man einen mochte oder nicht. Kennen war da schon ein guter Grund. Ein Bier nach dem anderen musste er spendieren, auch wenn er nicht wollte. Der Tag streckte sich bis in den frühen Abend.  Nur die Tatsache, dass Bayern München gegen Schalke 04 spielte, machte seinem Geburtstagsfest ziemlich schnell ein Ende. So wichtig war nun sein Geburtstag auch wieder nicht, als dass man das Spiel hätte vergessen können. Wenn man auch vorher schon wusste, wer gewinnen würde, starrte man dennoch auf den alten Bildschirm, der auf einer Konsole oben in der Ecke montiert war.

    Matthias stand also am Sonntagnachmittag an diesem verlassenen Haus, das einmal die Kasse und das Büro des Unternehmens war. Damals waren diese Einrichtungen einer Tankstelle noch, was sie sein sollten, nicht kleinere Supermärkte, in denen man sich auch noch am Samstagabend eine Pizza holen konnte. Es gab nur einen Tisch mit der Kasse und einem Regal mit verschiedenen Ölen. Daneben noch Filter und Mittel, den Motor zu reinigen. Von innen. Sollte Wunder wirken und ihn wie neu aufleben lassen. Und Zündkerzen waren fein säuberlich aufgereiht. Keiner hatte sich je die Mühe gemacht, alles leer zu räumen. Verstaubt lagen viele Sachen noch verstreut herum.

    Es wurde langsam kalt. Herbst war es. Die Sonne schien und machte die Welt bunt. Sehr schwach zwar, aber dennoch. Blauer Himmel gegen die gelben Blätter der Ulmen, die sich um das Areal selbst angesiedelt  hatten. Es war keine feste Zeit mit den Leuten vereinbart, die er dort treffen wollte, also wartete er. Nur nachmittags, sagten sie. Er sollte dort warten.

    Nun, da es langsam dunkel wurde, verblassten auch die Farben und wurden selbst dunkel . Die Äste schwarz, die Blätter grau. Wind frischte auf und trieb den Abfall in kleinen Wirbeln in die Ecke. Es war immer derselbe Abfall, der sich mal dorthin, mal dahin verteilte und doch immer wieder den Weg zurück fand.

    Ab und zu kam ein Auto vorbei, das den Wind auffrischen ließ und den Dreck der Straße gleichmäßig zur Tankstelle wehte. Matthias hatte einmal gelesen, dass der Sand von der Sahara bis nach Amerika geblasen würde. So ein Schmarren, dachte er sich damals. Das können die mir erzählen. Sahara-Sand in Amerika. Daran musste er denken, als er den feinen Staub ausspuckte, der seinen Mund gefunden hatte.

    Matthias trat von einem Fuß auf den anderen, sah in eine Richtung, dann wieder in eine andere, zündete sich wieder eine Zigarette an und fluchte leise vor sich hin. Er wollte nach Hause, und nicht die halbe Nacht dort an der Tankstelle verbringen. Er wollte, dass es endlich vorüber war. Dann kam ein Fahrzeug, das, als es sich der Tankstelle näherte, langsamer wurde und vor ihm an die Seite fuhr.

    „Das muss er sein", dachte sich Matthias und trat näher an die Straße. Das Fahrzeug, ein kleines Auto das er nicht kannte, hielt mit quietschenden Bremsen vor ihm an. Die Scheinwerfer leuchteten, auch wenn diese schon sehr blind waren und nur fahles gelbes Licht abgaben. Das Licht wurde mit der Drehzahl des Motors heller und dunkler. Obwohl  er neben dem Wagen stand, konnte Matthias nicht sehen, wer in dem Fahrzeug saß. Auch nicht, ob es einer oder mehrere waren. Das Fenster wurde heruntergelassen. Musik dröhnte ihm in den  Ohren. Lauter Rap mit tiefem Bass. Es vibrierte in seinen Eingeweiden mit jedem Schlag. Jemand streckte eine Hand aus. Die Finger machten eine Bewegung, die bedeutete, er solle näher herankommen. Langsam ging Matthias ans Fenster und versuchte hineinzusehen. Eine große, viereckige Taschenlampe, die genau in sein Gesicht schien, verhinderte den Blickkontakt. Reflexartig hob er seinen Arm und versuchte seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen.

    „Das Geld", kam es aus dem Auto.

    „Wirf es durch das hintere Fenster."

    Matthias sah nach rechts und bemerkte schemenhaft, dass das hintere Fenster offen war. Er nahm das kleine Paket, das er in der Seitentasche seiner Hose hatte und warf es ins Auto. Jemand muss dort gesessen haben, wenn er es auch nicht sah, aber dieser „Jemand" sagte kurz darauf etwas in einer für ihn unverständlicher Sprache. Auch die brüllende Musik verhinderte, dass er verstand, was gesagt wurde. Unmittelbar danach flog ein Paket durch das vordere Fenster, das ihn an seinem Oberschenkel traf und auf dem Boden landete. In diesem Moment gab das Auto Gas und fuhr davon. Matthias stand allein neben der ehemaligen Zapfsäule, schloss langsam die Augen, um sich

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