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Caesars Zeit: Protokoll vermeidbarer Ereignisse
Caesars Zeit: Protokoll vermeidbarer Ereignisse
Caesars Zeit: Protokoll vermeidbarer Ereignisse
eBook629 Seiten9 Stunden

Caesars Zeit: Protokoll vermeidbarer Ereignisse

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Über dieses E-Book

Tonbandprotokolle werden von den meisten Gerichten nur sehr selten als Beweise anerkannt. Geständnisse, auf Tonband gesprochen und dem Gericht übermittelt, sind ebenfalls nicht wirklich beliebt, aber doch zumindest ein Ansatzpunkt zum Motiv. Wie verhält es sich nun bei einem Geständnis, bei einem Tonbandprotokoll, dass auf Ereignisse hinweist, die in dieser Form jedoch niemals stattgefunden haben können? Weil es unmöglich ist. Weil es nicht machbar ist. Weil es zu phantastisch ist. Nur - leider ist es weder unlogisch noch unglaublich. Jahre lang hat sich der Autor mit diesen Protokollen und den darin vorkommenden Menschen befasst und sich dann entschlossen in seiner Geschichte so nahe es ging an den Fakten zu bleiben. Damit jeder für sich selbst entscheiden kann, was daran wahr ist und warum diese Geschichte erzählt wurde. Die Geschichte eines soziologischen Experimentes an den Bewohnern einer ganzen Stadt. Mit Caesars Zeit bietet Mark Gold nach Ballawatsch, Alexanders Abschied und Fata Morgana neue Einblicke in seine Welt. Eine Geschichte aus dem vergangenen Jahrhundert bei der man nur hoffen kann, dass es sich wirklich nur um eine Geschichte handelt. J.E.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Juli 2012
ISBN9783844839265
Caesars Zeit: Protokoll vermeidbarer Ereignisse
Autor

Mark Gold

Geboren 1962 im niederösterreichischen Zwettl, in jenem düster mystischen Nordwald, der auch seine Werke prägt. Nach einer kaufmännischen Ausbildung zog es ihn zum Journalismus und später als Techniker zu Film und Fernsehen. Heute lebt er zumeist auf in Wien oder auf Malta, wenn man von häufigen Arbeitsaufenthalten in ganz Europa absieht.

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    Buchvorschau

    Caesars Zeit - Mark Gold

    XXII

    I.

    7. Juni – 17.30 Uhr

    Das kleine Flugzeug neigte sich sachte über die Tragfläche und stürzte an den Klippen der hohen, schneeweißen Wolke entlang nach unten. Für einen Augenblick raste die grüne Wand des Blätterdaches auf die Beechcraft Bonanza zu, dann hatte sie den Rand der Wolke erreicht und schwang sich elegant darunter.

    Der Pilot löste die rechte Hand vom Steuersegment und klopfte mit dem Knöchel leicht gegen das Glas des künstlichen Horizontes vor sich auf dem Armaturenbrett. Er konnte sich ein stolzes Lächeln nicht ganz verkneifen, als er seine Finger durch die kurzen blonden Haare gleiten ließ, um dann nach vorne zu deuten.

    »Nur mehr ein paar Minuten, dann sind wir über der Stadt«, meinte er. »Wenn wir Glück haben, dann ist die Wolkendecke dort ebenfalls aufgerissen und die Sonne kommt durch.«

    Mit seiner braun gebrannten Haut, seinen blitzenden Augen, der alten Lederjacke und dem verwaschenen Halstuch in der hellen blauen Farbe seiner Augen sah er aus, als wäre er geradewegs einem Fliegerroman entsprungen. Seine Bartstoppeln und sein fliegerisches Können rundeten dieses Bild nur ab.

    Der Mann neben ihm schien aus einer ganz anderen Welt zu kommen. Zwar war auch er von großem, kräftigem Wuchs und auch er bewegte sich mit der Gemächlichkeit, die Menschen eigen ist, wenn sie ihre Kraft und Gewandtheit kennen. Aber er trug einen dunklen, unauffälligen und doch eleganten Anzug, hatte den ganzen Flug über kaum ein Wort gesprochen und zeigte mit kühler, sachlicher Selbstverständlichkeit eine Ignoranz, die keinen Zweifel daran ließ, wer den Flug bestellt und bezahlt hatte. Als Amerikaner hatte er sich dem Piloten auf dem kleinen deutschen Flugplatz vorgestellt. Und doch konnte der Mann hinter dem Steuerknüppel keinerlei Akzent in den spärlichen Worten des braun gebrannten, schwarzhaarigen Mannes entdecken. Trotzdem, sein Deutsch hatte die Klarheit eines Gebirgsbaches und manchmal die Härte von Granit. Seine Muttersprache war es sicherlich nicht. Man fühlte es geradezu, wenn er sprach, denn es war einfach zu perfekt. Aber er sprach nun eben nicht oft. Die dunkelbraunen Augen des kühlen Mannes wanderten immer wieder über die Instrumente, so als würde er selbst fliegen und nicht der blonde Sonnyboy. Diese Blicke wirkten so selbstverständlich und routiniert, schienen so unbewusst zu kommen, dass sie schon allein deswegen den Mann am Steuersegment verwirrten.

    Ein paar Mal hatte er versucht, den schweigsamen Fremden in ein Gespräch zu verwickeln, aber seine Antworten waren so klar, präzise und trocken wie seine Aussprache. Anscheinend benötigte er auch keinerlei Karten, um sich zu orientieren. Und wozu er ausgerechnet über dieser einen kleinen, völlig unbedeutenden Stadt einige Runden drehen wollte, wo er doch weder Kamera noch Notizblock bei sich hatte, war immer noch ein Rätsel.

    Aber wenn seine Neugierde zu groß wurde, dann erinnerte sich der Pilot schnell wieder daran, dass er in einer Zeit lebte, in der es in den meisten Fällen keineswegs schlecht war, wenn man eben »nur« der Pilot war und von nichts weiter wusste.

    »Drosseln Sie die Geschwindigkeit und gehen Sie runter.«

    Jäh aus seinen Gedanken gerissen, sah er erst jetzt die Stadt sich unter ihnen aufrollen wie eine Landkarte.

    Sie kamen aus Nordwesten und es hatte wirklich aufgeheitert. Teile der Stadt lagen in der Sonne, manche im hellen Schatten der Wolken. Es war die kräftige Sonne eines frühen Sommers, alles leuchtete und strahlte ihnen entgegen.

    Aber dieser Mister Julius Caesar, wie der Amerikaner sich nannte, hatte vorerst einmal nur Augen für seine Uhr. Minutenlang konnte er sich nicht losreißen. Dann erst sah auch er zum Fenster hinaus.

    Die Stadt lag in einem Talkessel am Zusammenfluss zweier kleiner Flüsse. Und diese kleine Stadt, dieser starre See aus Stein und Beton brandete an die Kämme der Hügel ringsum, wie von einem lautlosen Sturm aufgewühlt. An manchen Stellen schwappte er über und ergoss sich in die ruhige Fläche der umliegenden Landschaft. Doch noch immer beherrschte das dunkle Grün der Bäume die kleine Stadt. Das lichtere Grün der Felder und das satte Braun der Äcker lebten ringsherum im hellen Sonnenlicht.

    »Fliegen Sie über Nordost aus, ziehen Sie eine Schleife und dann tiefer zurück.«

    Der Pilot zog seine blonden Brauen ärgerlich zusammen und nahm das Steuersegment ein wenig nach links.

    »Mr. Caesar, darf ich Sie darauf aufmerksam…«

    Mit einer ungeduldigen Handbewegung schnitt ihm der große Amerikaner das Wort ab.

    »Ich weiß, dass wir etwas tief kommen.«

    Der blonde Mann zuckte mit den Schultern und zog eine enge Schleife. Aus Osten kamen sie wieder herein. Über eine lange, ziemlich geraden Straße. Automatisch und unbewusst taxierte sie der Pilot, ob man im Notfall auf ihr landen könne. Zwar war sie etwas abschüssig, aber immer noch besser als ein Rübenacker, befand er. Dann brummte die Bonanza schon über die flachen Dächer weitläufiger Hallen dahin. Es ging wieder bergab. Hinweg über monotone Reihen von Einfamilienhäusern, dann ein kleiner Abhang und eine breite, ebene Umgehungsstraße quer zur Flugrichtung. Über die Altstadt donnerten sie hinweg, sanft den nächsten Hügel hinauf, und schon waren sie über einer kleinen Gartensiedlung und einem Tanklager Richtung Nordnordwest wieder aus dem Talkessel.

    Erwartungsvoll blinzelte der blonde Mann nach rechts.

    »Wenden Sie über Ost und ziehen Sie in Südsüdwest wieder hinaus.«

    Seine Angaben waren klar und unmissverständlich. Irgendwie war es ja schon ein Vergnügen, für diesen Amerikaner zu fliegen.

    »Und gehen Sie noch etwas tiefer.«

    Na ja, so viel Vergnügen machte es nun auch wieder nicht. Denn jetzt waren sie wirklich schon tief genug, um straffällig zu werden. Aber eigentlich konnte es ihm ja egal sein. Dieser komische Amerikaner übernahm die Verantwortung und bezahlte. Und er bezahlte gut. Zu gut, um auf den Gedanken zu kommen, irgendwelche Fragen zu stellen oder dumme Bemerkungen zu machen.

    Diesmal kamen Sie über einem kleinen Bahnhof herein, zogen quer zur Altstadt und überflogen wieder den Hauptplatz, auf dem sich schon eine kleine Menschenmenge angesammelt hatte, um nach oben zu starren. Wieder kreuzten sie einen der Flüsse und waren dann nach einem mittelalterlichen und einem hypermodernen Gebäude wieder über der freien Landschaft.

    »Über Süden hinein und Richtung Westnordwest hinaus.«

    Caesar hatte nicht ein einziges Mal seinen Blick von der Stadt abgewandt, die sich ihm da draußen bot.

    Für die Leute da unten, für sich selbst und um seinen Passagier ein wenig zu ärgern, setzte der Pilot an zu einem halben Looping. Als die Maschine absackte, um Schwung zu holen, sah er aus den Augenwinkeln hinüber zu Caesar. Der saß so ruhig und gelöst wie zu Hause am Strand. Keine Freude, keine Spannung, kein Ärger war ihm anzumerken.

    Gemächlich, aber unbeirrbar schob das kleine Flugzeug seine Schnauze in den blauen Himmel hinein. So lange, bis es auf dem Rücken lag und der Horizont am oberen Fensterrand wieder auftauchte. Einen kurzen Augenblick ließ der Pilot es auf dem Rücken dahingleiten, dann wendete er es mit einem trockenen Ruck um die eigene Achse wieder in Bauchlage.

    »Westnordwest?«, überlegte er. Das konnte ohne Weiteres bedeuten, dass es nun wieder nach Hause ging. Wenn dies nicht schon die sechste Stadt gewesen wäre, über der dieser verrückte Amerikaner seine Mätzchen trieb, dann hätte er sich vielleicht noch gewundert, ob das denn alles sei. Aber seit er für diesen Mann flog, hatte er es sich abgewöhnt, verwundert zu sein.

    Langsam und seiner Meinung nach viel zu tief zogen sie über die Häuserreihen dahin. Dann lag rechter Hand ein Fußballplatz, und schon musste er die Maschine wieder nach oben ziehen. Denn da kam ein bewaldeter, ziemlich steiler Hügel und obenauf, über der Stadt, ein großes Haus mit einer lang gestreckten Lagerhalle. Als sie viel zu tief über dieses Haus hinwegdonnerten, glaubte der Pilot zum ersten Mal in den Mundwinkeln des Amerikaners so etwas wie ein Lächeln zu entdecken. Aber er konnte sich ebenso gut auch getäuscht haben.

    »Kurs Heimatflughafen«, beendete Caesar kurz wie immer die Flugshow und schickte sich dann an seinen Sitz nach hinten zu klappen, um den Rest des Fluges wie gewohnt zu verschlafen. Als er sich bequemer in den engen Sitz schob, sah der blonde Pilot nach ihm, und da war ein eindeutiges Lächeln in dem Gesicht des großen, dunklen Mannes. Nur für einen Augenblick stockte er allerdings und zog erschrocken die Brauen zusammen. Aber gleich darauf schüttelte er unwillig den Kopf wie über ein unvermutetes Schwindelgefühl.

    Verwundert und ebenfalls kopfschüttelnd ließ der Pilot die Maschine wieder bis an die weich gebauschten Wolkenränder steigen. Sein Bauch sagte ihm, dass dies ihr letzter Flug gewesen war.

    17.30 Uhr

    Im vorderen Teil der Wohnung wurde es mit einem Mal heller. Für einen kurzen Augenblick war es der Sonne gelungen, zwischen den Wolken hervorzukommen. In wenigen Minuten würde es wieder düster sein wie zuvor.

    Der Mann in der kleinen Wohnung hatte es sicherlich bemerkt, aber er nahm keine Notiz davon.

    Wie alle kommunalen Wohnbauten des ausklingenden 20. Jahrhunderts, so war auch diese Wohnung zusammengepfercht und mikroskopisch genau geplant. Und dass dem logischen Verständnis des Zirkels und der sturen Geradlinigkeit des Lineals manch Menschliches unverständlich und fremd war, durfte nicht verwundern. So konnte es schon mal vorkommen, dass die Lüftungsklappe der Toilette nicht ins Freie ging, sondern in die Küche. Dafür hatte man aber sicherlich etliche oder einen halben Quadratmeter gewonnen.

    Mit seinen über ein Meter neunzig stand Christoff Pensant etwas gebeugt, als er in den kleinen Topf hineinsah und den Reis beim Quellen beobachtete. So in sich versunken, wie er dastand, hätte niemand vermutet, dass dieser Mann erst Mitte zwanzig war, und noch weniger hätte man vermutet, dass dieser dürre Körper irgendwelchen Belastungen standhielt.

    Er rührte noch einmal durch den Topf mit dem Gemüse auf der zweiten Platte und fuhr sich durch die kurzen brünetten Haare. Vorne zumindest waren sie kurz, aber hinten lagen sie lang genug, um den Kragen seines Hemdes zu verdecken. So war die kommende Mode, hatte ihm der Friseur erklärt.

    Auf die dritte und letzte Platte seines Elektroherdes stellte er eine Pfanne und goss etwas Öl hinein. Aus dem Kühlschrank angelte er eine bereits geschälte und angeschnittene Zwiebel und begann, sie in feine Stückchen zu schneiden. Sie hatte noch Saft und Kraft genug, um ihm ein leichtes Brennen in den Augen zu verursachen. Die Hälfte der Zwiebel legte er wieder zurück und nahm dafür ein großes Stück Wurst heraus. Aus zwei etwa fingerdicken Scheiben schnitt er gemächlich halbzentimetergroße Würfel. Denn er dachte nicht daran, dass er schnitt. Er dachte an gar nichts. Er hatte abgeschaltet. Dies war auch oft die einzige Zeit am ganzen Tag, in der er es sich leisten konnte. Leisten wollte. Doch nicht einmal dann gelang es ihm, wirkliche, vollkommene, erholsame Leere in seinem Gehirn zu verspüren. Aber wenn er kochte, dann ließ er die Gedanken einfach los, ließ sie planlos durch seinen Kopf sausen, wie sie wollten, ohne ihnen die geringste Beachtung zu zollen. Und allein schon das ermöglichte eine gewisse Erholung.

    Die Zwiebel kam zu dem Öl in die Pfanne und gab keinen Laut von sich. Überrascht gestand er sich ein, dass er die Herdplatte wohl hätte einschalten müssen.

    Pensant fluchte leise zwischen den Zähnen, während er die sich voll saugenden Zwiebelstückchen umrührte und sich das Öl nur allmählich erwärmte.

    Diesen einen Brief, überlegte er, den hatte er noch aufgeben wollen, und der lag jetzt, allem zum Trotz, noch immer auf seinem Schreibtisch. Aber noch einmal in sein Büro fahren? Nein, entschied er, so wichtig war das Ganze auch wieder nicht.

    Allmählich wurde die Zwiebel glasig, aber Pensant achtete nicht besonders darauf. Seine Gedanken hatten begonnen, um ein neues Zentrum zu kreisen. Warum hatte er eigentlich diesen Brief vergessen? Ach ja, Alexander Ferner war gekommen, um eine Kleinigkeit zu kaufen, und Pensant hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen Freund selbst zu bedienen.

    Während er die Wurststücke in das nun heiße Öl zu der schon bräunlichen Zwiebel warf, konnte er sich ein zynisches Lachen nicht verkneifen.

    Freund! Es war schon lange her, dass sie so etwas wie Freunde gewesen waren. Irgendwie, Pensant wusste eigentlich nicht so recht wie, war diese eher zweckmäßige Kooperation stumpf geworden. Ein schiefes Lächeln wie bei einem bitteren Geschmack zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Natürlich wusste er, wie das Ganze gekommen war! Ferner war wie eine Zwiebel! Je mehr von den Schalen man entfernte, desto mehr war einem zum Weinen zumute. Tatsache war jedenfalls, je besser Pensant ihn kennenlernte, umso bewusster ging er ihm aus dem Weg. Oder er redete auf ihn ein und versuchte, ihm den Kopf zurechtzurücken. Aber Alexander Ferner gehörte zu jenen Menschen, die fest und unbeirrbar in sich ruhen, die sich ihrer Wichtigkeit und Unfehlbarkeit durchaus bewusst sind, und so stießen Pensants halbherzige Versuche der Erziehung auf wenig Gegenliebe und so gut wie kein Verständnis. Was wiederum dazu führte, dass auch Ferner angefangen hatte, Pensant aus dem Weg zu gehen, wo immer es möglich war, ohne Aufsehen zu erregen oder es sich selbst eingestehen zu müssen.

    Der große Mann atmete tief durch, drehte die Platte ab und achtete darauf, dass die Wurst nicht mit großem Geprassel anbrannte.

    Und dann war da noch dieses Mädchen. Angela Rogger. Natürlich ein Mädchen! Sie hatte plötzlich zwischen ihnen gestanden, und wer es nicht besser wusste, der hätte meinen können, sie sei wohl der Grund dafür, dass eine wunderbare Freundschaft in die Brüche gegangen war. Doch sowohl Ferner als auch Pensant wussten nur zu gut, dass dem keineswegs so war.

    Angela Rogger, das war eine Geschichte für sich. Verlobt, ganz offiziell, war sie mit Alexander Ferner. Doch wann immer sie einen Rat oder etwas handfestere Hilfe benötigte, dann kam sie damit zu Pensant. Was immer sie benötigte, holte sie sich von Pensant. Alles, nur nicht das eine, das sie auch Ferner zumeist verweigerte. Aber da sie und Pensant oft dieselben Dinge dachten oder taten, da sie sich über dieselben Dinge freuen oder ärgern konnten, kamen sie ganz gut miteinander aus.

    Viel zu gut, meinte wiederum Ferner.

    Pensant nahm die Pfanne mit der angebratenen Wurst von der Platte und stellte sie daneben. Dann drehte er auch die beiden anderen Platten auf null und begann, alles in den Topf mit dem Reis zu leeren. Zuerst das Gemüse, dann die Wurst.

    Bei Gerda Seeber, da war wiederum alles ganz anders. Auch mit ihr konnte man viel Spaß haben. Aber der endete unvermeidlich über kurz oder lang irgendwo in einem Bett. Oder irgendwo anders, es musste nicht unbedingt ein Bett sein. Bei ihr war alles um so vieles einfacher als bei Rogger. Oder bei den meisten anderen Frauen. Jedenfalls für Pensant. Denn auch sie dachten das Gleiche. Zumindest über Sex und zumindest meistens. Was er wirklich an ihr schätzte, war ihre Offenheit, mit der sie sagen konnte: »Ich will nicht«, wenn sie wirklich nicht wollte, anstatt sich zu zieren und Ausreden zu erfinden. Und ihn faszinierte dieses Phänomen, dass es anscheinend kein zweites Mal gab – eine Frau, die ihm ohne falsche Scham und ohne irgendwelche Umschweife auch zu verstehen geben konnte, dass sie ihn jetzt und hier und auf der Stelle zu benutzen gedachte. Dass es trotz allem keine feste Bindung zwischen ihnen gab, lag nicht zuletzt an Pensant, der seine Freiheit und Ungebundenheit über alles liebte und scheinbar bereit war, was auch immer dafür zu opfern.

    Eigentlich könnte er wirklich wieder einmal bei ihr anrufen. Pensant spürte an der Reaktion seines Körpers bei diesem Gedanken, dass dieser Entschluss keineswegs unpassend kam. Aber erst nach dem Essen, entschied er.

    Er hatte eine Handvoll Rosinen in den Topf gestreut und alles gut durchgerührt. Nun würde er mit viel Fingerspitzengefühl das Würzen erledigen. Curry, Rosmarin, Oregano, Muskatnuss und viele andere Gewürze gehörten dazu, was er eben gerade so zu Hause hatte. Für einen kleinen Augenblick zögerte er, mit welchem er beginnen sollte.

    Das Brummen des Flugzeuges wurde rasch kräftiger und erfüllte die kleine Wohnung mit seinem Dröhnen. Aber da war mehr als nur dieses Brummen. Seine ausgestreckte Hand verkrampfte sich und für einen winzigen Augenblick hatte er das Gefühl eines leichten Schwindels, als würde dieses Flugzeug eine tödliche Ladung an Bord tragen. So wie ein Bomber, bereit, wahllos Tod und Verderben unter sich zu streuen. Es war ein Gefühl von Bedrohung, von Angst – erschreckend fremd und gleichzeitig auf noch erschreckendere Weise vertraut. Für einen Atemzug lang versuchte er, dieses Gefühl zu entschlüsseln, sich ihm entgegenzudrängen, aber es war so irrational und kam so tief aus dem Unterbewussten, dass er nur unwillig den Kopf schütteln konnte, um sich von dieser unverständlichen Aufwallung zu befreien, bevor er mit einem Schulterzucken nach dem Curry griff.

    17.30 Uhr

    Wenn man das Einrichtungshaus betrat, dann sah man noch nichts von den großen Nebenräumen, den Ausstellungsflächen und den verschiedenen Abteilungen. Zuerst einmal tauchte man ein in einen langen, verwirrend düsteren Gang, der an einem Kassenpult begann und sich irgendwo weit hinten zwischen den verschiedensten Gegenständen des täglichen Bedarfes verlor. Hier war es so ruhig und beschaulich düster wie im Seitenschiff einer großen Kathedrale. Selbst die verheerende Vielfalt von Tapeten, Vorhängen, Stoffen und dazu passendem Kleinkram konnte in ihrem bunten Durcheinander die bedächtige, düstere Majestät dieses Raumes nicht beschneiden. Um den Hort der Nibelungen schien es sich zu handeln. Die Höhle des Ali Baba. Ein verwunschener Ort tief in der Erde, an dem Schätze aus allen Winkeln dieser Welt zusammengetragen worden waren. Alles, was auch immer man suchte, hier bekam man es. Wenn man es fand.

    Genau dieser Gedanke schoss Marian Jollek durch den Kopf, als sie kreuz und quer durch diese Räume streifte auf der Suche nach Alexander Ferner.

    Nur finden musste man ihn erst einmal.

    Vor der Abteilung mit den Schlafzimmern blieb sie wieder einmal stehen und sah sich um. Aber auch hier war keine Menschenseele zu entdecken. Keine Kunden, was an sich schon schlimm genug war, aber auch kein Alexander Ferner. Sie wollte schon ärgerlich weiter, aber sie verharrte regungslos.

    Da war etwas. Sie fühlte es ganz deutlich. Da war etwas, das sie an ihrem rechten Bein berührte, sich zuerst gemächlich auf ihrem Knöchel über den hohen Absätzen niederließ, dann die sanfte, gebräunte Rundung der Wade hinaufwanderte, um für einen kurzen Augenblick in der warmen Tiefe der Kniekehle zu rasten. An der Innenseite ihrer Schenkel tastete es sich vorsichtig noch weiter nach oben. Mit einer unbewussten Bewegung strich sie den engen Minirock glatt, als könnte sie ihn dadurch in die Länge ziehen. Dabei wandte sie sich wie zufällig um und sah den Gang hinunter. Den Mann kannte sie nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber sie fühlte, wie ihre Haut unter der Berührung seiner Blicke nervös zu vibrieren begann.

    Höher wanderten diese Blicke jetzt und blieben schwer auf den stolzen Hügeln ihres dünnen Pullovers liegen. Sie fühlte es. Sie fühlte ganz deutlich, wie sich seine Blicke auf sie legten mit einem weichen, warmen Druck, sie vorsichtig betasteten, streichelten. Voller Verachtung und Ekel wollte sie sich abwenden und blieb doch wie angewurzelt stehen. Das Gefühl, ausgeliefert zu sein, ergriff wie immer von ihr Besitz und lähmte ihre Bewegungen. Wie immer, wenn irgendein Mann sich dazu hinreißen ließ, ihren herausfordernd verpackten Körper, diese schwindelerregenden Kurven ihrer Figur lange und intensiv genug zu bestaunen. Sie hasste dieses Gefühl und sie hasste diese Männer, die es nicht lassen konnten, sie mit ihren Blicken wie mit schleimigen Fühlern zu betasten, und sie hasste diese eiskalten Schauer, die an ihrem Rückgrat entlang heiß in ihren Leib liefen. Am meisten aber hasste sie diesen Körper, hasste sie sich selbst, dass sie wie immer nicht die Kraft aufbrachte, sich abzuwenden und zu gehen. Hasste sie diese unheimliche Wärme an ihren Schenkeln bis tief hinein in ihren Leib. Dieses Gefühl, diese Wärme war so stark, dass sie machtvoll und ohne Rücksicht von ihr Besitz ergriff. Und das Mädchen bemerkte weder, wie ihre Hände leise zitterten noch wie ihre braunen Augen sich zu Schlitzen verengten, oder gar, dass sie immer schwerer atmete. Immer heftiger wurden diese Wogen aus Wärme. So als wollten sie diesen Körper verbrennen, als verkrampfe sich ihr Leib.

    Da machte der Mann einen Schritt auf sie zu und schreckte sie auf, brach den Bann. Schnell wandte sie sich ab und ging hastig weiter zur nächsten Abteilung. Dabei fühlte sie noch immer seine Blicke auf ihren Beinen und etwas höher. Aber jetzt war alles vorbei. Jetzt war von all diesen verwirrenden Gefühlen nur noch die Angst übrig geblieben. Diese Angst, er könnte sie einholen. Sie ansprechen. Sie – berühren!

    Sie ging schneller, an der nächsten Abteilung vorbei, und musste dabei mit sich selbst kämpfen, damit sie nicht anfing zu laufen.

    Da, endlich, entdeckte sie ihn.

    Alexander Ferner lehnte im ersten Stock am schmiedeeisernen Geländer und sah nach unten. Genau betrachtet war auch er nur ein ganz gewöhnlicher Verkäufer, so wie Marian Jollek und andere in diesem Haus. Aber einem zufälligen Beobachter wäre diese Einsicht wohl nur sehr langsam gedämmert. Obwohl er erst zweiundzwanzig Jahre alt war, zeigte er schon die besten Anzeichen eines gut situierten, selbstzufriedenen Wohlstandsbürgers. Seine brünetten Haare begannen sich besonders über der Stirn zu lichten. Und sein Körperumfang machte Anstalten, der Verniedlichungsform entwachsen zu sein.

    Gelangweilt lehnte er am Geländer des Obergeschosses und sah auf das wenig emsige Treiben unter sich. Dabei konnte sich aber niemand so richtig sicher sein, ob er auch wirklich etwas sah. Denn wenn er etwa das Mädchen gesehen hatte, und übersehen konnte er sie eigentlich nicht, dann musste er auch gesehen haben, wie sie ihm durch Zeichen verständlich zu machen versuchte, dass er nach unten kommen sollte. Aber anscheinend hatte er es eben nicht gesehen. Wer konnte das schon sagen.

    Marian Jollek verschwand wieder aus seinem Blickfeld, aber er sah noch immer keinen Grund, sich zu bewegen. Teilnahmslos und still lehnte er an dem Geländer und sah nach unten. Dabei achtete er sorgsam darauf, die aufgekrempelten Ärmel seines Hemdes nicht mit dem Geländer in Berührung zu bringen. Denn was ein paar Dutzend schwitzende Menschen tagtäglich berührten, konnte wohl als verschmutzt betrachtet werden.

    Marian Jollek tauchte am Treppenabsatz im ersten Stock wieder auf und kam auf ihn zu. Es war leer und still in dieser Abteilung wie um diese Tageszeit im ganzen Haus. In wenigen Minuten würde das anders sein. Dann würden die Menschen sich schnell vom Zwang ihrer Arbeitsstellen befreien und loshetzen, um notwendige Einkäufe zu erledigen. Dann würde das ganze Haus in einer vieltönigen Brandung von Stimmen und Geräuschen summen, dröhnen und vibrieren. Jetzt aber war das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe aufreizend deutlich zu hören. Ein kurzer tippelnder Rhythmus. der die ganze Galerie erfüllte. So konnte er jede ihrer Bewegungen verfolgen. Wie sie näher kam, einen Bogen um den Ständer mit Farbmustern machte und dann hinter ihm stehen blieb. Anhielt und wartete.

    Einen Stock tiefer gab es nichts, aber wirklich nichts, was auch nur einigermaßen interessant oder neu gewesen wäre. Trotzdem ließ er das Mädchen noch ein paar Sekunden warten, bevor er sich gemächlich nach ihr umdrehte. Er lehnte sich vorsichtig mit dem Rücken gegen das Geländer und sah sie an. Er sah sie an, aber keineswegs so, wie es der fremde Mann im Gang getan hatte. Nicht so, wie es jeder normale Mann tat, der sie sah. Er sah sie an, wie Alexander Ferner eben Menschen ansah. So als würde sie eigentlich zwei Meter weiter hinten stehen und nicht hier vor ihm. Irgendwie sah er durch Menschen hindurch.

    »Was ist denn los?«, wollte er wissen und legte all die Langeweile, zu der seine Stimme fähig war, in diese Worte.

    »Rosi hat gesagt, du sollst zu ihr ins Büro kommen. Irgendetwas mit einem Lieferschein ist ihr nicht klar, hat sie gesagt.«

    Das hatte Rosi Haller nicht gesagt. Vielleicht hatte sie es so gemeint, aber gesagt hatte sie etwas ganz anderes und dabei Ausdrücke benutzt, die Marian Jollek nie gebrauchen würde. Die sie Ferner gegenüber nicht zu gebrauchen wagte. Denn sobald sie in seine Nähe kam, änderten sich ihre Bewegungen, ihr ganzes Verhalten. Sie verlor all die gezwungene, krampfhafte Scheu, mit der sie ansonsten ständig versuchte, ihren doch so kunstvoll betonten Körper vor den Blicken und Fantasien der Menschen zu verbergen. Ihre Bewegungen wurden weicher und anmutiger, dass es geradezu herausfordernd wirkte. Und auch jetzt, wie sie so vor ihm stand, hoffte sie geradezu darauf, dass ein Blick von ihm, ein einziger Blick, über ihren Körper streichen würde. Dass er sie ansah wie dieser Mann im Gang. Wie jeder Mann. Voller Bewunderung, voller Verlangen, voller Gier. So wie jeder Mann. Dass er seine Blicke über ihre Haut gleiten ließ, von jeder Rundung ihres Körpers Besitz ergriff. Doch wie immer tat er auch jetzt nichts dergleichen. Er sah an ihr vorbei. Nein, viel schlimmer. Er sah einfach durch sie hindurch.

    Schon wiederholte Male hatte sie davon geträumt, dass er sie ansah, dass er sie betrachtete, dass er sie beobachtete, und sie war nackt gewesen. Völlig und vollkommen nackt und seinen Blicken ausgeliefert. Hilflos und wehrlos gefangen von dieser atemberaubenden Hitze in ihrem Körper. Und dann, eines Tages, hatte sie geträumt, dass er sie nicht nur beobachtete, nicht nur ansah, sondern dass er kam und sie berührte.

    Noch in derselben Nacht hatte sie sich mehrmals übergeben müssen. Dieser Ekel, diese panische Angst vor der Berührung saß unauslöschlich tief in ihr und fraß sie langsam auf. Und obwohl es eine Nacht in ihrem Leben gegeben hatte, eine einzige allerdings nur, in der ihr diese Berührung nichts ausgemacht hatte, in der sie diese Berührungen sogar genossen hatte, so war sie sich doch sicher, dass sie lieber sterben würde, als sich einem Mann hinzugeben, sich ihm zu öffnen und seine brutalen Bemühungen zu ertragen. Aber ansehen sollten diese Männer sie trotz allem! Ansehen und bemerken, dass da etwas war, das sie begehren konnten, bis zum Wahnsinn begehren – auch wenn sie es niemals bekommen würden.

    Er aber sah nur durch sie hindurch.

    Anfangs, da hatte sie noch zu ergründen versucht, was ihn ablenkte, wohin er sah, wenn er mit jemandem sprach. Aber schon sehr bald musste sie sich mit dem Eindruck zufriedengeben, dass sich dieser uninteressierte Blick irgendwo im Raum hinter der betreffenden Person auflöste.

    Ohne ein weiteres Wort an sie zu verschwenden, richtete er sich auf und ging zur Treppe. Aber er ging nicht besonders schnell, denn bald war Ladenschluss.

    Rosi Haller lehnte sich in dem federnden Bürostuhl zurück und atmete lange aus. Ihre Hände hoben die weißblonden Haare von den Schultern, aus dem Nacken und knüllten sie zusammen. Heiß war es in dem kleinen, stickigen Büro. Und heiß war ihr bei der Arbeit geworden. Dabei hätte sie die Rechnungen schon vor geraumer Zeit zu Ende bringen können. Wenn da nicht noch dieser eine Lieferschein gewesen wäre. Ausgestellt von Ferner und für sie absolut unverständlich. Also hatte sie die kleine Jollek damit beauftragt, Ferner zu finden und ihm zu sagen, »er möge gefälligst seinen fetten Arsch zu ihr ins Büro bewegen«. Natürlich würde die es ihm niemals so wortwörtlich übermitteln. Dafür hatte die Kleine viel zu viel Respekt vor dem Kerl. Sie selbst konnte sich in dieser Beziehung beherrschen. Rosi Haller hatte keinen Respekt. Vor niemandem, sozusagen aus Prinzip, und vor Ferner hatte sie schon gar keinen. Obwohl sie doch zugeben musste, dass seine emotionslose und menschenverachtende Art sie etwas erschreckte. Irgendetwas war an seiner geringschätzigen Gedankenlosigkeit Menschen gegenüber, das ihr Vorsicht gebot.

    Nachdenklich streifte sie die flachen Hausschuhe von den Füßen und ging auf Strümpfen zu dem Fenster, das den muffigen Raum notdürftig erhellte. Sie hasste diese Arbeit hinter dem immerzu vollgestopften Schreibtisch, eingezwängt zwischen den Regalwänden voller verstaubter Ordner und Schachteln. Viel lieber war sie draußen und bediente die Kunden. Ja, gerade eben die Kunden – nicht die Kundinnen. Denn da war schon manchmal ein Mann dabei, mit dem man flirten konnte. Gerne hätte auch sie so hohe Absätze getragen wie die kleine Jollek, um ihre langen Beine noch besser zur Geltung zu bringen. Aber welchen Mann hätte sie dann mit ihren schicksalsschweren einhundertneunundachzig Zentimetern, den einladenden Körperformen und ihrer weißblonden, wuscheligen Mähne nicht verschreckt.

    Wie als Antwort galt ihr nächster Gedanke Christoff Pensant. Wenn man es recht besah, dann war dieser Kerl genau nach ihrem Geschmack. Denn erstens war er größer als sie, auch wenn sie hohe Absätze trug, und zweitens wusste er, was sie wollte. Flirten, wirklich flirten, so richtig mit allem Drum und Dran – aber nur bis hierher und nicht weiter. Eben nur flirten. Dabei ertappte sie sich manchmal, dass sie auch ein wenig weiter dachte. An sehr viel weiter. Aber so als würde er es ahnen, kam er dann meistens und zeigte sich als Freund. Zum Beispiel, indem er ihr unverblümt mitteilte, sie könne ruhig mal wieder ein wenig abnehmen. Und da wollte sie ihm dann nichts mehr von ihren Gedanken erzählen. Dabei störte es sie weniger, dass er recht hatte, als dass er das, was sie beide ohnehin wussten, so einfach und ungeniert aussprechen musste. Obwohl sie ihm auf der anderen Seite wieder dankbar war für seine Ehrlichkeit und ihn gerade deswegen schätzte.

    Als die Tür sich ohne vorherige Warnung öffnete und Ferner eintrat, wurde sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen.

    Wortlos ging er an ihr vorbei, um den Schreibtisch herum und setzte sich in ihren Sessel. Fragend, aber nur mäßig interessiert sah er sie an.

    »Mahler. Gustav Mahler aus Dings – du weißt schon«, begann sie. »Der kleine Blonde mit der dicken Brille. Einen grünen Opel fährt er.«

    Ferner nickte langsam. Sie kam vom Fenster her und schob ihm einen Zettel unter die blasse Nase.

    »Dieser Lieferschein ist doch von dir ausgestellt. Oder irre ich mich da?«

    Ferner nickte wieder. Das Stück Papier hatte er nicht einmal angesehen.

    »Du hast ihm demnach vor einer Woche viermal mal zehn Kilo Fliesenkleber gegeben und wahrscheinlich wie üblich ausgemacht, dass er den Rest, den er nicht mehr benötigt, zurückgeben kann. Also kommt er ein paar Tage später wieder, bringt zwei Säcke mit je fünfundzwanzig Kilo zurück und verlangt eine Rechnung. Könntest du mir vielleicht erklären, was ich ihm verrechnen soll?«

    Ferner saß hinter dem Schreibtisch und sah gelangweilt vor sich hin. Dann nahm er gemächlich doch das Blatt in die Hand und überflog es.

    »Verrechne ihm 50 Kilo. Könnte sein, dass ich die Zehnkilosäcke mit denen zu fünfundzwanzig Kilo verwechselt habe.«

    Ihre stahlblauen Augen weiteten sich und blitzten gefährlich, als sie sich vor ihm auf die Tischplatte stützte.

    »Es könnte sein? Verdammt, ich will von dir nicht wissen, was er VIELLEICHT mitgenommen hat. Ich will wissen, was du ihm tatsächlich gegeben hast! Wäre es vielleicht zu viel verlangt, wenn ich der Meinung bin, du könntest versuchen, dich zu erinnern?«

    Ferner erhob sich schwerfällig und zuckte geringschätzig mit den Schultern.

    »Ich kann mir doch nicht alles merken«, meinte er ungerührt, dann schloss er die Tür hinter sich.

    Durch das geöffnete Fenster drang das aufdringliche Brummen eines Flugzeuges und verschluckte die halblaute Erwiderung der jungen Frau.

    17.30 Uhr

    Die Windböe drängte sich durch den engen Spalt zwischen den Häusern und breitete sich dann erleichtert den steilen, freien Hang hinunter aus. Sanft gab das lange Gras dem stürmischen Drängen nach und neigte sich bis fast zum Boden. Wieder und wieder. Es sah aus, als würde diese frische, grüne Fläche leben, sich bewegen. Böe auf Böe strich den Hang hinunter wie über das glatte Fell eines Tieres.

    Auch in ihren brünetten Haaren verfing sich der Wind und spielte mit den Locken, die zu kurz waren, um die schmalen Schultern des Mädchens zu erreichen.

    Ein weiches Lächeln erhellte ihr feines junges Gesicht für einen Moment und ließ die großen graubraunen Augen vor Vergnügen glänzen. Sie fühlte es gerne, wenn der Wind mit ihrem Haar spielte. Wenn er sich manchmal gegen sie drängte, als versuche er, sie festzuhalten, und sie sich dagegenstemmen musste. Genauso wie sie manchmal anfing, mitten im schönsten Regen klatschnass herumzutanzen. Oder wie sie spazieren ging, nur weil draußen gerade so wundervoll dichter Schnee fiel.

    Sie beobachtete, wie der Wind die grauen Stoffhosen um ihre schlanken Beine wickelte. Ein Wind, der geradezu kalt war. Jedenfalls zu kalt für diese Jahreszeit. Aber das Wetter nahm es mit dem Kalender eben nicht so genau. Sie schloss die grau-gelbe Jacke, ohne ihren Schritt zu verlangsamen. Leider war die Jacke ärmellos und ihre Arme bedeckte nur ein dünner Pullover in dunklem Gelb, doch im Augenblick war sie viel zu gut gelaunt, um zu frieren. Und eines konnten weder die dicke Jacke noch die weite Hose verbergen. Nämlich den Grund, weswegen sich immer wieder Männer nach ihr umdrehten. Irgendjemand hatte einmal versucht, ihr klarzumachen, dass sie bei einer Misswahl gute Chancen hätte, und mit diesem Körper hatte sie die auch wirklich. Mehr als der sprichwörtliche Blumentopf war da sicherlich zu gewinnen. Aber um bei einem seriösen Wettbewerb irgendwo unter die ersten fünf zu kommen, hätte sie diese Sache ernsthaft angehen müssen, konsequent zu sich selbst sein müssen, und dafür reichte ihre Selbstdisziplin doch nicht. So weit war sie realistisch. Aber es war auch ohne Misswahl ein ganz gutes Gefühl, dass es genug Typen gab, die sie mit leicht schwitzenden Händen und gierigen Blicken ansprachen. Nicht dass da einer von denen nicht kalt abgeblitzt wäre oder gar vielleicht irgendeine Chance gehabt hätte, ihr näherzukommen. Da war schon Alexander Ferner vor. Schließlich liebte man sich und war verlobt. Und sollte selbst diese ganz große Liebe einmal in die Brüche gehen – man wusste ja nie, was einem Mann so alles an Verrücktheiten einfiel –, dann gab es da immer noch Pensant.

    Sie blieb stehen, lehnte sich an das Geländer und streckte ihre ganzen hundertneunundsechzig Zentimeter, um besser in die Stadt hinuntersehen zu können. Unter ihr fiel der grüne Hang steil ab und endete in dem grauen, trostlosen Asphaltband der Umfahrungsstraße und dem mutlosen, regulierten Flussbett. Dann, auf der anderen Seite des traurig dahinschwappenden Gerinnsels, begann die Stadt von Neuem, zerklüftet von Gärten, Parkplätzen und Abstellflächen, den nächsten Hügel hinaufzuwachsen.

    Es war auch ein bisschen Stolz, was da aus ihrem Gesicht leuchtete, als sie hinübersah, wo sich das Häusermeer der alten, verwinkelten Stadt mit dem alles überragenden Kirchturm den Hügel hinaufzog. Wenn man die kleine Stadt von hier aus sah, dann wirkte sie besonders klein und überschaubar. Und gerade deshalb liebte sie den Blick von dieser Stelle so besonders. Angela Rogger war kein Mensch, der sich gerne mit großen, komplizierten oder verwickelten Dingen befasste. Sie hatte es lieber, wenn die Dinge klar und eindeutig und überschaubar blieben.

    Und alle Dinge im Leben waren für sie so klar und eindeutig und überschaubar. Wie diese Stadt, deren größter Teil sich unsichtbar für sie in den Seitentälern und hinter den Hügeln verbarg.

    Sie war hier geboren und sie würde niemals aus dieser Stadt fortgehen. So viel wusste sie und so viel war sicher. Und hätte sie jemand gefragt, warum dem so war, sie hätte keine Antwort geben können, weil sie keine Antwort darauf wusste. Vielleicht wäre ihr das so sehr abgenutzte Schlagwort von der »Heimat« eingefallen und wahrscheinlich hätte sie es benutzt, unwissend und ungeachtet der Tatsache, dass dieser Begriff zumeist nichts anderes ist als eine Schublade der Menschen, in der sie ihre Faulheit, ihre Feigheit dem Neuen und ihre Besitzgier dem Alten gegenüber verbergen.

    Sie wünschte sich, dass alles im Leben, das Leben selbst und diese kleine Stadt, so unkompliziert, klar und überschaubar wäre, wie sie selbst es war. Und wenn man sie so ansah, dann meinte man, sie sei wohl erst neunzehn oder höchstens zwanzig Jahre alt. Das hatten die Leute auch schon vor zwei oder drei Jahren behauptet. Aber dieses Jahr war sie es wirklich. Zumindest würde sie demnächst ihren neunzehnten Geburtstag feiern. Und da war auch schon wieder dieser kleine Wermutstropfen, der ihre Mundwinkel sofort ein wenig nach unten zog und das Leuchten in ihren Augen matt werden ließ. Als sie noch zur Schule gegangen war, da hatte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als endlich nichts mehr tun zu müssen. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als endlich arbeiten gehen zu dürfen. Aber irgendwie kam sie immer zu spät. Und manchmal hatte sie sogar den Eindruck, als wäre das ihrem Verlobten auch ganz recht so. Denn so lernte sie kaum neue Menschen und noch weniger neue Männer kennen. Wusste sie doch selbst, dass sie wohl nichts lieber wäre als ein schillernder Schmetterling auf einer großen, großen Blumenwiese. Oder, wie Pensant es sah, eine Wildkatze – schön und zart und anschmiegsam und ständig darauf aus, neue Beute zu schlagen.

    Ein Wesenszug, der für sie in keinem Widerspruch zu ihrer großen und einzigen Liebe zu Ferner stand.

    Ach, Christoff Pensant! Der sagte so viel, und bei dem wenigen, das sie verstand, musste sie sich immer wieder eingestehen, dass er ja meistens doch recht hatte. Er war es auch gewesen, der gemeint hatte, dass es Ferner eigentlich gar nicht so schwerfallen konnte, sie in seinen Betrieb unterzubringen. Noch am selben Tag hatte sie mit ihm darüber gesprochen. Aber Alexander Ferner hatte zugehört, wie er es immer tat. Man wusste dabei nicht, ob er nur schlief oder schon tot war. Man wusste nur, dass er sich absolut nicht dafür interessierte, was ihm erzählt wurde. Und wieder einmal, wie so oft in der letzten Zeit, fragte sie sich, weshalb sie diese Verlobung noch nicht gelöst hatte. Nun gut, sie hatte von Anfang an gewusst, dass es die einzige, die wahre, die große Liebe war. War es doch ihre erste. Und noch immer war es so wie am Anfang, als sie die Hände einfach nicht voneinander lassen konnten, sich immerfort berühren mussten. Und doch sagte sie sich immer wieder, der richtige Augenblick werde schon kommen. Irgendwann. Sicherlich.

    Wahrscheinlich würden sie heiraten und ein Haus bauen und Kinder bekommen und Angela Rogger würde immer noch auf den richtigen Augenblick warten. So ätzte Pensant.

    Es war kühl. Zu kühl für diese Jahreszeit. Der letzte Oktober war heiß genug zum Baden gewesen. Und jetzt? Ein ungewöhnlich warmer Winter, dieser Juni. Und da war mit einem Mal auch keine gute Laune mehr, die diesen Wind hätte erträglicher machen können. Hoch über ihrem Kopf und doch scheinbar viel zu tief donnerte ein kleines Flugzeug auf die Stadt zu. Aber sie war mit ihren Gedanken viel zu weit entfernt, um sich näher für den dröhnenden Störenfried zu interessieren. Sie setzte ihren Weg die Straße hinauf fort, zog dabei fröstelnd die Schultern hoch und vergrub die Hände in den tiefen Taschen. Ein einsames Haus lachte ihr in fröhlichen Farben von der anderen Straßenseite her entgegen. Aber wie eng es sich auch immer an den Hang presste, heute konnte es das Mädchen nicht mehr aufheitern. Eine Freundin hatte dort lange Jahre gelebt, war dort aufgewachsen. Jetzt war sie weit weg in der großen Stadt und glücklich. Sie hatte einen guten Mann und einen guten Job. Eigentlich genau so, wie Pensant es vorhergesagt hatte, schoss es ihr durch den Kopf. Und wieder schweiften ihre Gedanken ab zu dem großen, eigenartigen Mann. Alexander Ferner zu durchschauen war nicht sonderlich schwer. Auch wenn es ihr nie gelang, bis in die hinteren Winkel seiner Gedanken vorzudringen. Wohl, weil sie es noch nie wirklich versucht hatte. Aber Pensant war einfach unberechenbar. War er doch ein Mann, der offensichtlich nichts mehr verabscheute als feste Beziehungen. Und doch war es nicht einmal vier Monate her, da hatte er sie dringend gebeten, Ferner zu verlassen und zu ihm zu kommen. Sie hatte ihm bis zum heutigen Tag noch keine schlüssige Antwort auf dieses Ansinnen gegeben und er drängte auch nicht mehr darauf. Ebenso, wie sie nie darüber nachdachte.

    Leicht nach vorne gebeugt stapfte sie mit festen Schritten gegen den Wind an. Ihr zart gebräuntes Gesicht war dunkler geworden. Bewölkt wie der Himmel, auf dem sich weiße Gebirge jagten, aufeinanderprallten und sich verformten.

    Doch mit jedem Schritt wurde ihr Sinn wieder leichter, verschwanden die Wolken hinter der glatten Stirn und die gewohnten, die katzenhaft geschmeidigen Bewegungen kehrten zurück. Irgendetwas würde heute noch geschehen, sie fühlte es ganz genau. Vielleicht würde Ferner endlich wieder einmal guter Laune sein. Sie könnten dann fernsehen oder in irgendein Lokal gehen, auf ein Glas Bier oder so. Und vielleicht würde er sie auch in seine Arme nehmen.

    Vielleicht – vielleicht würde Pensant anrufen. Natürlich mit einem besonderen und ganz wichtigen Grund! Einer Begründung, die er aber immer so zu vermitteln verstand, dass sie genau wusste, dass es sich nur um eine Ausrede handeln konnte. Gespannt wartete sie darauf, dass er endlich einmal zugab, dass er sie nur anrief, um mit ihr sprechen und ihre Stimme hören zu können. Sie wusste es. Und er wusste, dass sie es wusste. Und sie wusste, dass er wusste, dass sie es wusste. Manchmal machte er sogar versteckte Witze darüber. Aber geradeheraus über solche heiklen Dinge zu sprechen fiel ihm nicht ein. Niemals erklärte er sich ernsthaft. Ach ja, die Sache mit dem Zusammenziehen. Ferner zu verlassen und mit ihm zusammen zu sein. Das hatte er sicherlich auch nicht im Ernst gesagt.

    Trotz ihrer Jugend war sich Angela Rogger sehr bald klar darüber geworden, dass sie Männer nie würde ganz verstehen können. Aber Pensant blieb auch als Rätsel eine Klasse für sich. Man wusste wirklich niemals, ob er etwas ernst meinte oder ob er damit nur seine Scherze trieb.

    Sie blieb stehen und betrachtete nachdenklich die Tafel »Einfahrt verboten – Anrainer ausgenommen«. Irgendwelche Vandalen hatten die Tafel mit einem stumpfen Gegenstand auf einer Seite verbogen. Als sie diese Tafel das letzte Mal bewusst gesehen hatte, da hatte sie in einem kleinen Schneesturm darunter gestanden. Sie erinnerte sich sehr genau, war es doch jener kalte, stürmische Abend gewesen, an dem Pensant sie gebeten hatte, Ferner zu verlassen und zu ihm zu ziehen. Er, ausgerechnet er, der immer so vehement gegen die Institution der Ehe in den Kampf gezogen war. Sie hatte sich gedrückt, aufmerksam die Tafel betrachtet und um den heißen Brei herumgestottert. Dabei wusste sie ganz genau, dass die Antwort ein klares Nein war. Zumindest meinte sie es zu wissen, denn es gab eigentlich nur einen Grund dagegen, und das war ihre Liebe zu Ferner. Sie liebte diesen Mann nun mal – aber sie liebte auch Pensant. Sie liebte beide Männer, und wenn sie mit einem der beiden zusammen war, dann immer den anderen um ein kleines bisschen mehr. Niemals liebte sie Pensant mehr als dann, wenn Ferner bei ihr lag und sich seine ehelichen Rechte nahm. Aber Ferner hatte nicht mit ihnen unter dem Schild gestanden und in erster Linie hatte sie Angst davor, ihn zu verärgern. Da hatte Pensant plötzlich begonnen zu lachen und ihr erklärt, dass das alles ja vielleicht doch nur ein Scherz gewesen sei. Sie aber hatte sich beleidigt aus seinen schützenden Armen gewunden und war gegangen. Es hatte dicht geschneit, und als sie sich doch noch einmal kurz nach ihm umdrehte, konnte sie nur mehr seinen Umriss bei der Tafel hinter einem Vorhang aus dicken Flocken erkennen. Dass seine Stimme rau und sein Lachen plötzlich abgebrochen war, hatte sie damals nicht bemerkt und es war ihr bis zum heutigen Tag nicht bewusst geworden. Dass er ihr in den folgenden Tagen aus dem Weg gegangen war, hatte sich ebenfalls aus ihren Erinnerungen verflüchtigt, wenn sie es überhaupt jemals bemerkt hatte. Sie konnte sich nur noch daran erinnern, dass dies das letzte Mal war, dass sie die Tafel in einem ordentlichen Zustand gesehen hatte. Vorsichtig berührte sie mit ihren klammen Fingern das verbeulte Blech und fragte sich, was das wohl für Menschen waren, die immer wieder grundlos etwas kaputt machen mussten. Was ging wohl in einem solchen Menschen vor? Sie würde das nie verstehen!

    17.30 Uhr

    Paris.

    Allein dieses Wort, diese fünf Buchstaben wecken in den meisten Menschen schöne Erinnerungen und fantastische Träume.

    In den meisten Menschen, mit Ausnahme der Pariser. Und wie weit diese Erinnerungen der Wahrheit, diese Fantasien der Wirklichkeit nahekommen, muss jeder für sich selbst entscheiden. Wer könnte aber widersprechen, wenn die Behauptung fällt, Paris sei ein Mythos. Und gerade an diesem Tag war die Stadt der Mythos schlechthin.

    Ein tiefblauer Himmel mit kleinen weißen Wölkchen spannte sich von einem Horizont zum anderen. Angenehme, nicht allzu drückende Wärme erfüllte die Straßen, Parks und Plätze mit Leben und Lachen. Selbst die, die sonst nur hasteten, begannen unbewusst zu flanieren und die Gerüche aus den Geschäfte, Straßen und Gassen wirkten intensiver.

    In dem dunklen Büro unweit des rechten Ufers der Seine bemerkte man davon allerdings nur wenig. Die Decke schien in der Düsternis einer weit entfernten Region zu entschwinden und die dunkle Holztäfelung mit den schweren roten Vorhängen an den Fenstern reicherte den Raum noch mit Ungewissheit und gespenstischen Schemen an.

    Draußen und drinnen, das waren zwei so unterschiedliche Welten, und jede war sorgsam darauf bedacht, möglichst wenig mit der anderen zu tun zu bekommen.

    An der einen Wand ragte ein Bücherregal bis in die dämmrigen Sphären der Decke. Und die unzähligen Bücher mit ihren verstaubten und verblassten Einbänden ließen es trotzig und unnahbar erscheinen. Ebenso die beiden großen Ölgemälde, die den Büchern gegenüber hingen. Auf ihnen konnte man nur noch Schatten unterschiedlichster Dunkelheit erkennen. Hier und dort leuchtete spritzende Gischt auf, ein flatterndes Segel.

    Sie saßen sich gegenüber und sahen sich über den riesenhaften Schreibtisch hinweg an.

    Und sie sprachen. In einem wohlklingenden und melodiösen Französisch taten sie es, das sie, wie auch andere Sprachen, wie ihre Muttersprache beherrschten. Aber so wohlklingend es auch war, es fehlte doch jene Feinheit, jene Verschleifung, jegliche Umgangsform. Selbst für einen sprachverliebten Franzosen musste dieses brillante Französisch kalt und unnatürlich klingen.

    »Auch mir wäre wesentlich wohler bei dieser ganzen Sache, wenn ich endlich genauere Angaben von der SIRCOR erhalten würde.«

    Der große, korpulente Mann hinter dem Schreibtisch legte seine gepflegten Hände mit den manikürten Fingern auf die leere Schreibunterlage und sah seinem Gegenüber so offen und ehrlich, wie er nur konnte, ins Gesicht. Trotz seiner Leibesfülle wirkte er vital und von unbestimmtem Alter, irgendwo zwischen dreißig und fünfzig Jahren. Durch sein dunkelbraunes, sorgfältig gescheiteltes Haar zog sich noch keine Spur von Silber. Und seine betongrauen Augen erwarteten fürsorglich und ein wenig beunruhigt eine Feststellung oder wenigstens eine Äußerung von dem Mann ihm gegenüber.

    Aber der schwieg.

    »Oder haben Sie vielleicht andere oder genauere Anweisungen zu diesem Projekt erhalten?«, begann Mogott nun noch direkter zu werden. Doch er wusste selbst nur zu gut, dass dieser Mann sein Wissen niemals mit ihm teilen würde. Wenn er überhaupt etwas wusste.

    Cal van Vegen verzog sein hageres Raubvogelgesicht mit den hervortretenden Adern keinen Millimeter. Aber er erhob sich aus dem Sessel und richtete sich zu seiner imposanten Größe von zwei Meter zehn auf.

    »Meine Informationen sind offensichtlich noch ungenauer und unvollkommener als Ihre, Mogott. Alles, was eindeutig hervorgeht, ist, dass dieses Projekt der WEARCOM, also den Militärs untersteht und dass deren Mitarbeiter Julius Caesar der alleinige Leiter zu sein hat. Und dass ich mich ‚zur Verfügung zu halten habe‘. Eine Formulierung, die ich ehrlich gesagt nicht gewohnt bin. Aber offensichtlich ist das Militär eben das Militär. Eigentlich hatte ich gedacht, Sie könnten mir etwas mehr an Information geben.«

    Pierré Mogott betrachtete den zu großen, flatternden Anzug, der die erschreckende Dürrheit des langen Mannes mit dem holländischen Namen kräftig betonte. Er betrachtete stumm die widerspenstigen blonden Haare und die hellblauen Augen, die

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