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Der Hinterhaus-Bankert: Kindheit in der unguten alten Zeit
Der Hinterhaus-Bankert: Kindheit in der unguten alten Zeit
Der Hinterhaus-Bankert: Kindheit in der unguten alten Zeit
eBook358 Seiten5 Stunden

Der Hinterhaus-Bankert: Kindheit in der unguten alten Zeit

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Über dieses E-Book

Die Geschichte eines Durchschschnittsmenschen. Ohne besondere Fähigkeiten in die schlechteste aller Zeiten hineingeboren. Vorfahren und nächste Verwandtschaft werden kurz vorgestellt.
Wie schlägt sich ein Linkshänder durch die von Rechtshändern bestimmte Schule. Wie wird der Krieg mit seinen 55 Luftangriffen auf München überstanden.
Das Leben nach dem Krieg und die Zeit des Hungers, die den Autor beinahe das Leben kosteten. Mit 8 Jahren kurz vor dem Verhungern in Erholung geschickt, 6 Kilo zugenommen und immer noch unterernährt.
Er lernt auch die andere Seite der Besatzer kennen. Soldaten, egal in welcher Uniform, sind keine Gutmenschen.
Freiheit in der Münchner Vorstadt nach dem Schulunterricht. Der Religionsunterricht mit den Schreckensbildern des Fegefeuers und der Hölle. Der Knabe will Märtyrer werden, um dem Fegefeuer auszukommen. Wilde Spiele, Nebenerwerbstätigkeit auf dem Schuttberg, um ein bisschen eigenes Geld zu haben. Die Währungsreform, wie sie bei kleinen Leuten wirklich war.
Trotz alledem kein trauriges Buch, weder Held noch Opfer.
Die Sorge: wie geht es weiter, finde ich eine Lehrstelle und wie!
Im Ganzen ein Zeitdokument, nichts beschönigt und nicht verschlechtert, als es wirklich war.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum11. Nov. 2012
ISBN9783844235630
Der Hinterhaus-Bankert: Kindheit in der unguten alten Zeit

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    Buchvorschau

    Der Hinterhaus-Bankert - Otto-Gerd Wolfseher

    Vorwort

    Warum schreibst Du eigentlich dieses Buch, es wird doch wahrscheinlich nie verlegt werden! Richtig, es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass ich keinen Verleger finden werde. Wer will schon eine Geschichte lesen, die von einem ganz einfachen und ganz durchschnittlichen Menschen handelt, der nichts besonders gut kann und am Ende der Geschichte nicht als Sieger, als Held hervor geht? Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mich jahrelang mit meiner Kindheit immer nur teilweise auseinandersetzen konnte. Jetzt habe ich endlich die Zeit, die gesamte Kindheit mit allem, was mir davon in Erinnerung geblieben ist nochmal zu beleuchten, nochmal zu durchdenken. Die Kindheit, das sind in meinem Bewusstsein nicht 14 Jahre, das ist die erste Hälfte meines Lebens. Ich finde das Leben verläuft nicht linear, sondern logarithmisch, die Jahre werden immer kürzer, je länger man lebt. Die Kindheit bleibt im Gedächtnis, in der Seele. Die Kindheit bestimmt, was aus uns wird und wie wir das werden, was wir später sind.

    Ich habe mich sehr bemüht, mich an die Wahrheit zu halten. Dass ich sie immer genau getroffen habe, will ich nicht behaupten, denn die Erinnerung ist ein Betrüger, je nach Erlebnis macht es die Ereignisse besser oder schlechter als sie wirklich waren. Ich kann nur sagen: Jawohl genauso habe ich es empfunden, ich habe Gewissenserforschung betrieben und bin zu den Ergebnissen gekommen, die ich niedergeschrieben habe. Grundsätzlich muss man ja allen Autobiografien gegenüber misstrauisch sein. Denn der Normalfall ist, das der Autobiograf sich selbst so darstellt, wie er möchte, dass er gesehen wird. Das habe ich nach bestem Wissen und Gewissen vermieden.

    Was ist das Besondere an meiner Geschichte? Es gab doch Hunderttausende von Menschen, die schlimmeres erlebt haben und besseres daraus gemacht haben als ich. Genau darum ging es mir. Das Schicksal eines Durchschnittsmenschen aufzuschreiben, ich wollte keinen Helden aus mir machen und auch kein Opfer.

    Der Durchschnittsmensch zählt heute nichts mehr. In den Schulen werden die Hochbegabten gefördert, der Durchschnitt fällt hinten runter.

    Die Schwachen haben überhaupt keine Chance. Unsere politisch Mächtigen, also die Leute, die sich für die Elite halten, plädieren dafür Eliten zu fördern. Wir brauchen in allen Bereichen des täglichen Lebens Genies. Wir brauchen Olympiasieger, nicht Breitensport, wir brauchen Nobelpreisträger, keine guten Wissenschaftler, keine guten Handwerker sondern hervorragende. An diesem Wahnsinn krankt unsere Gesellschaft. Wir wollen Idole, die wir bewundern können, denn dann brauchen wir selbst nichts tun, die Idole machen das für uns. Gehen Sie zu den Sportveranstaltungen, den modernen Gladiatoren-Kämpfen, gehen Sie in die Konzerte und Musicals, dann können Sie Begeisterung und Identifikation hautnah erleben. Die Menschen erfreuen sich an den Höchstleistungen anderer und fühlen sich, als hätten sie selbst diese Leistungen vollbracht. Alle Geschichten in den erfolgreichen Büchern unserer Gegenwart handeln entweder von ganz erfolgreichen, hochbegabten Multitalenten, die alles richtig machen, oder sie handeln von ganz großen Schurken, die auch wiederum in irgendeiner Weise genial sein müssen. Der Leser will sich gewissermaßen mit seinen Protagonisten identifizieren, oder ihn mit voller Überzeugung und vollem Recht hassen. Er will davon träumen, genauso erfolgreich zu sein. Mit mir Durchschnittsmenschen will sich niemand identifizieren. Das ist auch gar nicht nötig, ich möchte nur zeigen: so war es.

    Es ist nicht meine Schuld, dass ich in schlechten Zeiten aufgewachsen bin, es ist auch nicht meine Schuld, dass ich diesem Schicksal nicht entkommen konnte. Ich hatte nur die Begabungen, welche mir die Natur mitgegeben hat, mehr war nicht, wer zur Ärmelweste geboren ist, wird es nie zum Frack bringen, sagt ein altes Sprichwort. Das stimmt!

    Ich habe diese Geschichten auch aufgeschrieben um meinen Enkelkindern zu zeigen: seht her, so war die Zeit damals und nicht so, wie sie euch von den Medien vorgegaukelt wird. Es gab keine goldenen 50er Jahre. Es gab zu keiner Zeit goldene Zeiten für die einfachen Menschen. In meiner Kindheit war immer die Rede von der guten alten Zeit. Mein Großvater wurde 1875 geboren und sagte mir, eine „gute alte Zeit" habe ich nicht erlebt, es gab nur schlechte Zeiten, die manchmal auch ein bisschen weniger schlecht waren.

    Die Jahre von 1939 bis 1953 waren ganz gewiss keine guten Jahre. Vieles, was sich damals abspielte wurde später verklärt und nicht der Wahrheit entsprechend dargestellt. Manche schlimmen Ereignisse, wie das Elend der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde und wird immer noch klein geredet. Dafür wird der Lastenausgleich, jene lächerlichen 18,2%, die die Flüchtlinge und Vertriebenen für den Verlust von Hab und Gut, den Verlust der Heimat, den Verlust des Ansehens, den Verlust eines Lebens in geregelten Bahnen erhielten, ins unermessliche überhöht.

    Es wird auch immer wieder in den Schulen gelehrt, dass die Währungsreform 1948 und die Gründung der Bundesrepublik 1949 alle Probleme gelöst hätten. Das war ganz bestimmt nicht der Fall.

    Am meisten wurde und wird immer noch gelogen, wenn man nach der NS-Vergangenheit der Politiker und der Industriellen forscht.

    Adenauer hatte keine Skrupel den Kommentator der NS-Rassengesetze Globke zu seinem Kanzleramtschef zu machen. Er hatte überhaupt keine Berührungsängste mit Nationalsozialisten, dagegen waren Kommunisten für ihn der Ausgeburt der Hölle, die man bekämpfen muss, mit allen Mitteln, mit aller Gewalt. Mit jedem Jahr nach 1946 kamen die alten Nazis mehr und mehr in ihre alten Positionen, auch und besonders in der Justiz, sogar in das Bundesverfassungsgericht. In der Wirtschaft sowieso. Sie eroberten und verteidigen ihre Macht und keine Demokratie kann sie aufhalten.

    In dieser Geschichte spielen auch andere Menschen eine Rolle. Die Familie, die Lehrer, Nachbarn, Freunde. Nicht jeden davon kann ich, wenn ich mich um die Wahrheit bemühe, als tadellose Persönlichkeit darstellen. Deshalb habe ich manche Namen verändert. Die wirklichen Personen bekamen bei mir aber nur falsche Namen und nicht falsche Handlungen. Vielleicht bekommen handelnde Personen dieses Buch in die Hand und erkennen sich wieder. Außenstehende können nicht herausfinden, wer der oder diejenigen waren. Einige Male nenne ich aber auch bewusst Personen mit ihrem richtigen Namen, weil sie in meinen Augen absolut untadelige Menschen waren, deren Andenken ich gerne bewahren möchte.

    Eigentlich bin ich ja kein Bankert, denn bei meiner Geburt habe ich eine Mutter, welche mit meinem Vater ganz richtig verheiratet war vorgefunden, und das nicht nur wegen mir. Aber gerade meine Mutter, der es ja eigentlich zur Unehre gereichen würde, einen Bankert zu haben, be- zeichnete mich immer, wenn ich etwas tat, das nicht ihren Gefallen fand, und das kommt halt im Laufe eines Bubenlebens öfter ein Mal vor, einen Bankert. In der Regel benötigte sie für den Bankert noch verschiedene Vornamen wie Mist-, Sau-, oder Malefiz. Wenn Leute aus dem, wie sie glaubten etwas feinerem, Vorderhaus mich als Bankerten bezeichneten, so gebrauchten sie den Vornamen Hinterhaus dazu. Also waren ich und auch andere Buben vom Rückgebäude die Hinterhausbankerten. Paradoxerweise bezeichnet der Volksmund die unehelich geborenen Kinder, die tatsächlichen „Bankerten als Kinder der Liebe und die „Normal, also ehelich geborenen als „Pflicht- und Schuldigkeitskinder".

    In Deutschland, wahrscheinlich ist das in anderen Ländern genauso oder zumindest ähnlich, dünkt sich ja jeder besser als der andere. Der Meister hält sich für besser als der Geselle, der wiederum hält sich für besser als der Hilfsarbeiter, der dafür auf den Arbeitslosen herabschaut. Es gibt nicht nur die Klassenunterschiede zwischen arm und reich, darunter befinden sich noch hunderte von Feinabstimmungen, wo jeder einen sucht und findet, der weniger wert ist als er. Dieses Gefälle gibt es unabhängig von der eigenen Vermögenslage auch bei den Bewohnern der Mietskasernen. Am besten dünkt sich der Bewohner vom Vorderhaus, der im ersten Stockwerk wohnt, am minderwertigsten ist der Bewohner des Hinterhauses, der unterm Dach wohnt. Wir haben unterm Dach gewohnt.

    Den nächsten Namen, den ich zu Unrecht erhielt, war der „Grippe, das ist bairisch und heißt eigentlich Krüppel. Dazu gab es ebenfalls die verschiedenen Vornamen. Sau und Mist wurden vom Bankert her übernommen, manchmal auch der Malefiz. Am häufigsten aber musste der völlig unschuldige Hund als Vorname dienen. Demnach war ich also der „Hundsgrippe. Kein Mensch kann mir erklären, warum ausgerechnet ich so bezeichnet wurde, obwohl ich weder einen Buckel, noch einen Klumpfuß, ja nicht einmal einen Wolfsrachen oder einen Kropf hatte.

    Sogar heute habe ich immer noch meine geraden Glieder und sie bleiben immer gerade, weil ich sie vor lauter Verkalkung in den Gelenken gar nicht mehr nach meinem freien Willen krümmen kann.

    Eine Missgeburt, war ich nur insoweit, als meine Eltern sich an meiner Stelle ein Mädchen gewünscht haben. Ein Sohn, der „Stammhalter, Obwohl wir so bescheidene, arme Leute waren, dass da kein „Stamm zu halten war, existierte bereits seit beinahe vier Jahren. Eine Tochter wäre halt jetzt viel besser gewesen, als wieder ein Sohn. Wo man doch schon die abgetragenen blauen Strampelhosen an die nahe Verwandtschaft weitergegeben hatte.

    Die Enttäuschung über meine unmädchenhafte Sexualität saß tief. Das bekam ich schon in den ersten Tagen meines jungen Lebens zu spüren. Man war nicht stolz auf mich, im Gegensatz zu meinem Bruder Harald, dem Erstgeborenen, der schon bei der Geburt den Vorteil eines um mehr als anderthalb Kilo höheren Startgewichtes hatte, Er war ein „Zehnpfünder, ich dagegen wog „nicht einmal 8 Pfund! Meine Geburt dauerte auch nicht sehr lange, war nicht besonders schmerzhaft, völlig unkompliziert, was für eine Mutter immer enttäuschend ist. Wovon soll sie später mit den anderen Frauen reden, wenn nicht von den schweren Schwangerschaften und den noch schwereren Geburten. Mit mir hatte sie nicht einmal eine schwierige Schwangerschaft, auch zu Beginn der Schwangerschaft musste sie nicht arg brechen, es war ihr so viel wie gar nicht übel. Schon als Fötus wollte ich meiner Mutter keine Schwierigkeiten machen, es wurde mir aber schlecht gelohnt, ich war einfach eine Enttäuschung. Keine Schwangerschaftsprobleme, keine Geburtsprobleme und - kein Mädchen!

    Man mag es fast nicht glauben, dass für meine Eltern in jener Zeit ein Mädchen etwas Besseres sein sollte, als ein Knabe, wo doch der männliche Nachwuchs allgemein so viel höher im Kurs stand und immer noch steht - aber es war tatsächlich so. Später habe ich sehr wohl verstanden, was sich hinter dem elterlichen Wunsche nach einem Mädchen verbarg. Ein Mädchen kann im Haushalt mehr tun als ein Knabe und so wäre die Hausarbeit im Dienste der Männer auf mehrere weibliche Schultern verteilt worden. Es kam aber alles ganz anders. Im Haushalt wurde ich zum Mädchen umfunktioniert, aber davon später.

    Wenn ich sage, dass ich nicht geliebt wurde, darf man nicht daraus schließen, dass ich gehasst wurde. Das nicht. Nur einfach nicht geliebt, nicht geschmust, nicht in den Arm genommen und bei keiner Gelegenheit verwöhnt. Nicht einmal an meinen Geburtstagen.

    Noch bevor ich die erste Windel vollgemacht hatte, war schon alles zu meinem Schlechtesten gelaufen. Trotzdem, bei meiner Geburt herrschte große Aufregung. Leider nicht wegen mir! Wie lange würde sich der „Führer noch die Unverschämtheiten der „Polacken gefallen lassen? Nicht lange. Schon beim ersten Sonnenaufgang meines gerade Begonnenen Lebens wurde „seit 5.Uhr 45 zurückgeschossen und Bombe mit Bombe vergolten".

    Was wird jetzt mit meinem Vater? Muss er Soldat werden? Er musste nicht. Zum Glück den ganzen schrecklichen, langen Krieg nicht. Er war Lokomotivführer, hatte nicht „gedient", konnte auch nicht schießen und hatte als intelligenter Mensch eine abgrundtiefe Abneigung gegen diesen braunen Wanderverein.

    Mein Leben wurde und wird immer noch von Frauen beherrscht. Die erste und wichtigste Frau in meinem Leben war logischerweise meine Mutter. Die zweite sehr wichtige Frau, an die ich mich erinnern kann, war meine Taufpatin. Sie war auch unsere Nachbarin, eine Generation älter als meine Mutter. Eine ganz besondere Frau. Sie hatte jahrzehntelang 2 Männer gleichzeitig. Mit dem Einem war sie verheiratet, den Anderen, es war ihr „Zimmerherr", (heute gibt es das nicht mehr, das heißt jetzt Untermieter, aber auch das wird es bald nicht mehr geben) hat sie geliebt. Viele Jahre später hat sie ihren kranken Ehemann über lange Jahre gepflegt, bis er endlich sterben konnte, danach geschah ihr das Gleiche mit ihren Zimmerherrn - auch über Jahre hinweg. Wenn es wirklich Unrecht war, dass sie zwei Männer gleichzeitig hatte, sie hat es schwer gebüßt und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie beim Jüngsten Gericht deshalb verurteilt wird. Ich jedenfalls plädiere auf Freispruch!

    Durch meine Mutter erblickte ich das Licht der Welt. Durch meine Taufpatin blieb mir mein Augenlicht erhalten, aber das erzähle ich später. Meine Taufpatin, die Mauchertant, wurde die zweitwichtigste Frau meiner Kindheit. Ich habe sie sehr geliebt und sie hat mich gern gehabt, war meine Vertraute, Lehrerin, Ersatzoma und Trösterin bei allem Kummer den so ein kleiner Bub als ungeliebter Zweitgeborener hat. Dafür war ich ihr „Sonnenschein. Ihr konnte ich meine Träume erzählen und die vielen Phantasien, die durch meinen Kinderkopf gingen, ohne dass ich dafür ausgelacht wurde. Sie lehrte mich, wie man mit Messer und Gabel isst und wie man sich benehmen muss: - Immer Bitte und Danke sagen, Erwachsenen nicht widersprechen, Mund halten, wenn „Große reden. Und bei Erwachsenen überhaupt nur reden, wenn man gefragt wird.

    Weitere Frauen in meinem Leben gab es erst viel, viel später, aber mit Ausnahme einmal meiner späteren Ehefrau, hatte keine auch nur annähernd so viel Bedeutung wie meine Mauchertant.

    Mein Stammbaum, von der Vaterseite her

    Zwei Großmütter hatte ich auch. Die eine, hieß „Münchner Oma", die Mutter meines Vaters die sah ich regelmäßig an ihrem Geburtstag, am Muttertag und an Neujahr. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals irgendetwas zu mir gesagt hätte. Auch mit meinen Brüdern sprach sie nie ein Wort. Sie redete nur mit unserem Vater. Meine Mutter war kein einziges Mal mit uns beim Besuch ihrer Schwiegereltern dabei. Es war immer nur mein Vater, der uns führte. Meine Mutter blieb zu Hause, sie musste kochen.

    Bei der „Münchner Oma" bekamen wir auch nie irgendetwas hingestellt, nicht einmal was zum Trinken. Sie war eine kleine, kugelrunde Frau. Wie alt sie war habe ich erst lange nach ihrem Tod durch die Geburtsurkunde herausgefunden. Für mich war sie immer alt, aber nie sehr alt, vor allem aber war sie mir immer so vorgekommen, als würde sie nie älter werden und wäre schon immer so alt gewesen. Eine Oma war sie nie, eigentlich nicht einmal eine Großmutter, nur eben die Mutter meines Vaters, zu der wir Oma sagen mussten, weil mein Vater es so wollte. Meine Mutter sprach nie über sie, mein Vater hat sie sicher sehr gern gehabt, obwohl er wusste, dass sie seinen Bruder den Seppl, der in Russland gefallen ist, lieber gemocht hatte. Das war auch einigermaßen logisch, weil sie dieses Kind als Einziges vom ersten Tag an aufgezogen hat. Sie hatte auch noch einen dritten Sohn, den Konrad. Der ist aber nicht mit seinen beiden Brüdern aufgewachsen, sondern von Verwandten auf dem Lande, in der Nähe von Altötting, großgezogen worden. Er war ein großer, stattlicher Mann. Auf Wunsch seiner jungen, hübschen und lebenslustigen Frau zog er Mitte der 30er Jahre die schwarze Uniform der SS an. Sie meinte, die würde ihm besser stehen als die braune Müllmänneruniform der SA. Was da politisch dahinter stand, interessierte sie nicht im Geringsten. Das Erscheinungsbild ihres Mannes, darauf kam es ihr an. Lange währte dieses Eheglück nicht. Der böhmische Gefreite, größter Feldherr aller Zeiten, schickte den Onkel Konrad mit Millionen anderen, gen Osten. Dort versank er mit seiner schönen schwarzen Uniform im Morast. Im heldenhaften Kampf, für Führer, Volk und Vaterland ließ er sein Leben, noch bevor er 33 Jahre alt war.

    Neben seiner Frau hinterließ er einen Sohn, wieder ein Konrad. Nach dem Krieg lebte die einst so hübsche Frau als Witwe mit einem Kriegsinvaliden zusammen. Heiraten konnten sie aus finanziellen Gründen nicht. Sie hätte sonst ihre Kriegerwitwenrente verloren und die Invalidenrente ihres Lebensgefährten hätte für die Familie alleine nicht ausgereicht. Männer waren in diesen Jahren rar, sogar Kriegsinvaliden. So ganz Invalide war er aber doch nicht, denn seine Kraft reichte noch zur Zeugung von zwei Kindern. Diese neue Familie wohnte nach dem Krieg in derselben Mietskaserne, wie meine Münchner Großeltern. Konrad war in der eigenen Familie plötzlich der Außenseiter daher freundete er sich bald mit seinem Opa an und kam über viele Jahre recht gut mit ihm aus, bis er eines Tages mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern in die Berge zog und Wirt einer Alpenvereinshütte wurde.

    Die Verhältnisse zwischen meiner Großmutter und ihren Söhnen haben sich auch auf uns Kinder übertragen. Mit den Kindern vom Seppl, die sie öfter besuchten, soll sie sogar ein wenig gespielt haben, gelacht hat sie sicher auch mit denen nicht. Die konnte gar nicht lachen.

    Nach dem Krieg bekamen wir von der Münchner Oma ab und an eine Postkarte auf der stand, dass einer von uns kommen sollte, sie hätte etwas für uns. Sie schrieb aber nie, was sie für uns hätte. Das erste Mal hatte sie wirklich etwas Besonderes, es war im Jahre 1946. Geräuchertes Fleisch! Eine unvorstellbare Kostbarkeit, und das von „Ihr. Mein Vater ist mit seinem Rad hingefahren und hat sich sehr gewundert über diese ungewöhnliche Großzügigkeit, getraut hat er der Sache nicht recht. „Brauchst nicht auspacken, ‘s ist das ganze Vieh, samt Kopf hat meine Münchner Oma zu ihm gesagt. Mein Vater nahm das Paket in die Hände, es war so groß, dass er tatsächlich beide Hände brauchte, tastete es ab. „Hund oder Katz? Fragte er dann. „Habt’s Hunger oder nicht, war die Antwort. Wir hatten Hunger und es war ein Dackel, nicht zu fett und nicht zu mager und ganz zart mit Wacholder geräuchert. Niemand von uns hat den Hund geschmeckt, nur mein kleinster Bruder, der damals gerade erst 3 Jahre alt war, meinte: „Mutti, das riecht wie ein Hund. Dafür bekam er eine Ohrfeige, zur Vorbeugung. Aber uns anderen hat es geschmeckt, wir haben uns nur gewundert, dass wir so viel Fleisch und noch dazu geräuchertes auf einmal essen durften und unsere Eltern gar nichts wollten. Groß nachgedacht haben wir aber nicht darüber. Hauptsache satt essen, ich glaube mir wär’s egal gewesen, wenn ich gewusst hätte, dass es ein Dackel war, der uns so gut zu den „Dotschen geschmeckt hat. Die „Dotschen", das waren die großen Futterrüben, welche die Butter so schön zartgelb machen, wenn sie Bestandteil des Kuhfutters waren. Jesus hat ja bekanntlich Heuschrecken gegessen und die auch noch roh. Was ist ein Hund oder eine Katze denn schon anderes als ein Hase oder ein Kaninchen? Nur seine Wertstellung als bester Freund des Menschen macht den Hund für Westeuropäer ungenießbar, sein Fleisch nicht.

    In jener Zeit aber aßen wir vielen Tieren das Futter weg. Den Gänsen die jungen Brennnessel, die uns den Spinat ersetzten, den Ziegen und Schafen den jungen Löwenzahn. Den Kühen die Futterrüben und den Schweinen Kartoffel und Kleie. Dazu kam noch der Sauerampfer und etliche Gräser, die wir ausrupften und die zarten Enden kauten. Von einigen Blumen zupften wir die Blüten ab und lutschten den Nektar heraus, die Insekten hatten das Nachsehen. Besonders beliebt waren da die Taubnesseln. Alle irgendwie genießbaren Beeren, sogar der Rotdorn, dienten uns hungrigen Kindern vom Stadtrand bei Gelegenheit zur Nahrung.

    Wenn ich daran denke, was ich in den vielen fetten Jahren meines späteren Lebens im Urlaub für teures Geld alles gegessen habe, dagegen ist ein geräucherter Dackel sicher nicht das schlechteste gewesen. Die Chinesen sollen immer noch Schlachthunde züchten, sogar die in der Schweiz beinahe heiliggesprochenen „Bernhardiner". Warum eigentlich nicht?

    Spätere Postkarten, die uns von unserer Großmutter erreichten, kündigten aber immer nur die Übergabe „angestoßener (angefaulter) Äpfel an, die sie in der Großmarkthalle am Samstag nachmittags kistenweise geschenkt bekommen hatte, weil sie niemand mehr kaufen wollte. Am Montag hätten die Händler sie nur noch wegwerfen können und den Abfall gebührenpflichtig entsorgen müssen. Da war her schenken immer noch billiger. Sie selbst brauchte von denen ja nur ein paar für sich. Bis dann einer von uns am Montagnachmittag die Äpfel nach Hause brachte, waren sie schon wieder ein bisschen mehr verfault. Heut würde man sagen, da lohnt sich’s wegwerfen gar nicht. Damals schnitt man eben das verfaulte so knapp es ging weg, alles andere wurde auf „Butz und Stin- gel gegessen. Meine Mutter, die handwerklich sehr geschickt war, machte die Schalen immer ganz dünn und schnitt auch das Kernhaus haarscharf heraus, damit möglichst viel zu Apfelbrei oder Scheiben für „Scheiterhaufen oder gar einen Apfelstrudel wurde. Kernhaus und Schalen wanderten sofort in die Kindermägen. Nur, wenn im Winter der Überfluss an Schalen groß war, legten wir ein paar davon auf die heiße Herdplatte und erfreuten uns an dem Duft, der daraus entstieg, aßen sie praktisch gegrillt anstelle von Bratäpfeln. Aber wehe, wenn man nicht aufpasste, und die schönen Schalen verkohlten, dann war’s mit dem guten Duft und der Ruhe vorbei. Erst stank es fürchterlich und dann gab’s Watschen, (Ohrfeigen) nicht immer nur für den Schuldigen, sondern meistens für den, der gerade am nächsten stand. Wenn der dann laut klagend seine Unschuld beteuerte, erhielt er zur Antwort: „Die hat dir nicht geschadet, und wenn du nicht gleich schdad (still) bist, kriegst noch eine. So einen Gestank hermachen, Hundsgrippe mistiger, ist aber wahr auch so was, na.. Da war er wieder, der unschuldige Hund.

    Zu meiner „Münchner Oma gab’s natürlich auch einen „Münchner Opa. Der war ein großer, kräftiger Mann mit einem mächtigen, sehr gepflegten Schnurrbart. Wenn ich mir heute sein Hochzeitsbild anschaue, glaube ich, dass er auch einmal ein hübscher Mann war, zumindest in seinen jungen Jahren, als seine Augen noch nicht vom vielen Bier getrübt waren. Meine Mutter mochte ihn gut leiden, besuchte ihn aber trotzdem nicht. Mein Vater hatte Respekt, vor allem vor seiner Kraft und seiner Arbeitsamkeit. Andererseits hatte er eine starke Abneigung gegen ihn wegen des enormen Bierkonsums, der meinem Vater eine schlechte Kindheit bescherte, und wegen seines Geizes. Obwohl Geiz möglicherweise nicht der richtige Ausdruck ist. Er wollte es zu was bringen, deswegen sparte er an allem, wo es ging. Nur nicht am Bier. Aber das meiste Bier, das mein Großvater trank, solange er noch arbeitete, war sowieso „Freibier" Das kennen heute nur noch die Wenigsten. Lediglich die Politiker, welche jedes Jahr zum Salvator-Anstich eingeladen sind, müssten die Bedeutung dieses Ausdruckes noch kennen.

    ***

    Mein Großvater arbeitete bei der Müllabfuhr und die geschah vor dem Krieg noch mit einachsigen, hochrädrigen Karren, die von einem Pferd gezogen wurden. Die Mülltonnen wurden von Hand in die Karren gekippt. Der Arbeitsbezirk meines Großvaters war die Münchner Altstadt, wo beinahe jedes zweite Haus ein Wirtshaus war. Müll war damals ganz etwas anderes als heute. Verpackungen, Kunststoffe, Flaschen und Büchsen gab es noch nicht. Alles, was irgendwie verwertbar war, wurde von eigenen Sammlern („Haderlumpen, Flaschen Knochen, Papier", schallte es immer wieder durch die Höfe) abgeholt. Gemüseabfälle wurden von Privathaushalten meist an Bekannte weitergereicht, die Hasen auf dem Balkon oder Ziegen und Hühner im Garten hatten. Wenn bei einer Gaststätte regelmäßig größere Mengen an Lebensmittelabfällen anfielen, so kam ein Bauer aus der Nähe, der diese Abfälle mit dem Fuhrwerk abholte und an seine Schweine verfütterte. Knochen holte der Seifensieder und Ruß nahm der Kaminkehrer selber mit, Ruß war Rohstoff für Farben und Gummi. Müll war in erster Linie Asche und dazu Gegenstände, die unbrennbar und so kaputt waren, dass sie kein Mensch mehr reparieren konnte. War der Müllmann mit seiner Arbeit in einem Haus fertig, so wurde ihm häufig vom Wirt ein Bier spendiert. Üblicherweise eine Maß, damit der Staub und Dreck wieder hinuntergespült werden konnte. Mein Großvater war bei seinen Kunden sehr beliebt, da er sauber arbeitete, keinen Dreck hinterließ und auch einmal etwas mitnahm, das man heute als Sperrmüll oder gar als Sondermüll bezeichnen würde.

    Später war er dann Stallmeister und hatte für 72 Pferde zu sorgen. Der Stall war in der Maistraße, sinnigerweise nicht weit weg vom Schlachthof. Im Krieg wurde der Stall von Brandbomben getroffen und fast alle Pferde verbrannten. Mein Großvater konnte nur ein paar Tiere retten. Es war das schlimmste Erlebnis seines Lebens. Es ist ihm bis in den Tod hinein nachgegangen, wie die Pferde geschrien haben. Am Sterbebett schrie er in seinen letzten Stunden immer wieder: „Lasst mich raus, meine Ross verbrennen".

    Mein Großvater stammte vom Land, gerade aus der Gegend, in welcher Ludwig Thomas’ Stücke spielten. Er muss eine Menge Geschwister gehabt haben, wir kannten aber niemand davon und es wurde auch nie darüber geredet. Nur über einen älteren Bruder, der früh verstarb und dessen Kinder schon vor 1933 nach Amerika ausgewandert sind. Nach dem Krieg wäre das für uns sehr von Nutzen gewesen, wenn wir deren Adressen gehabt hätten, wegen der „Care-Pakete". Dafür hätte ich wahrscheinlich sogar extra Englisch gelernt, das konnte man damals in der Volksschule, aber nur freiwillig, wenn man zusätzlich in eine bestimmte Schule ging, und auch nur in der 7. Klasse. Eine gute halbe Stunde hätte ich da für einen Weg zu laufen gehabt, das war mir bald zu viel und so hab ich’s dann bleiben lassen. Für die Care-Pakete wär’s eh schon zu spät gewesen und sonst war damals für mich auch nicht viel mit der fremden Sprache anzufangen gewesen. So habe ich englisch erst viel, viel später, aus ganz anderem Anlass, mit großem Fleiß, aber auch nur sehr mangelhaft, gelernt.

    Die „Amerikanischen Verwandten wussten zwar von unserer Existenz, hatten aber nie unsere Adresse herausgefunden. Zehn Jahre später, als bereits das „Wirtschaftswunder zu wirken begann, trug ich mich mit dem Gedanken, nach Amerika auszuwandern. Durch puren Zufall, erfuhr ich dann, wie das so gekommen war, dass wir nie in den Besitz eines „Care Paketes" kamen:

    Mein Vater wusste von einer seiner Cousinen, dass sie im Oberland wohnte. Da mein Vater und ich Mopeds hatten und gerne damit in die Berge fuhren, solange das Geld für den Sprit ausreichte, beschlossen wir, diese Cousine zu besuchen. Mein Vater glaubte zwar, den Ort zu wissen, wo sie wohnte, aber Straße und Hausnummer waren ihm unbekannt. Also fuhren wir hin und fragten: „d‘ Leut sind deutsch, die werden uns schon was sagen, wenn wir fragen. Man muss halt reden mit den Leuten, mit den Ochsen redet man ja auch. Tatsächlich fanden wir die Frau nach längerem Suchen im Nachbardorf. Sie glaubte sogar, meinen Vater von ihrer Kindheit und Jugend her zu erkennen. Als Einzige der Geschwister, schuld war selbstverständlich ein Mann, in den sie zu jener Zeit verliebt war, ist sie nicht mit nach Amerika ausgewandert. Aber schon in den frühen 50er Jahren ist sie mit dem Schiff und der Eisenbahn zu ihren Geschwistern, die unpraktischerweise am anderen Ende von Amerika, in Los Angeles wohnten, gereist. Die Verwandtschaft hatte es „drüben zu was gebracht. Sie betrieben, welch unvorstellbarer Reichtum, eine eigene Bäckerei. Die Tante erzählte uns einen ganzen Nachmittag lang von dem ganz anderen Leben in Amerika. Vieles konnte ich mir damals gar nicht recht vorstellen, obwohl ich schon einiges über die Vereinigten Staaten von Amerika erfahren habe.

    Mein Lehrer in der 7. Klasse

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