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Schloss im Süden
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eBook335 Seiten4 Stunden

Schloss im Süden

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Über dieses E-Book

Der amerikanische Süden. Eine Gegend, in der Fremde nicht erwünscht sind und in der man sich besser nicht verfährt. Diese Geschichte nimmt sich der Menschen an, die dort seit Generationen – vom Rest der Welt vergessen – leben und davon träumen, ihrer Bestimmung zu entfliehen. Wie in vielen Träumen geht es um Geld, und obwohl diese Menschen nicht viel davon haben, nimmt man ihnen auch noch das Wenige. Nur entwickelt sich das für die, die denken, alles perfekt zu kontrollieren, nicht ganz so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Es gibt eine Verbindung nach Europa, um die von diesen Menschen erwirtschafteten Gelder sicher und für den amerikanischen Staat nicht erreichbar, anzulegen. Am Ende werden alle verlieren, bis auf eine Person, der man es am wenigsten zugetraut hätte.

SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum15. März 2019
ISBN9783955005887
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    Buchvorschau

    Schloss im Süden - Olaf Maly

    1

    Für Jonathan Hagman begann dieser Dienstag wie jeder andere Tag der Woche. Bleischwer lag die Luft in jedem Zimmer, in jedem Winkel des halb verfallenen Hauses, in jener Eintönigkeit seines Daseins, die er zu ertragen hatte. Der Sommer in Greenville, Georgia, war dieses Jahr besonders zermürbend, heiß, stickig und unerträglich. Der rote Sand, der unentwegt die Luft erfüllte – Tag und Nacht, immer und immer – gab seiner totalen, sinnlosen, Existenz den Rest. Unerträglich und erdrückend waren sie eigentlich immer, diese Sommer hier, und was irgendjemanden dazu gebracht hat, sich hier anzusiedeln, würde für Jonathan Hagman immer ein Geheimnis bleiben. Wie vieles für ihn ein Geheimnis bleiben würde, in seinem trostlosen Leben.

    Vor ein paar Tagen hatte auch noch seine Klimaanlage den Geist aufgegeben, die das Leben zumindest ein wenig erträglich gemacht hatte. Das war früher oder später zu erwarten gewesen. Oder aber auch wieder nicht, wie er sich immer wieder einredete. Hatte er sich doch nie darum gekümmert und ganz einfach gehofft, dass so alles seiner Wege gehen würde, so ganz ohne sein Zutun. Es ging nicht seiner Wege. Jedenfalls nicht im Sinne der Funktionalität. Auch nicht nur für mechanische Dinge von Bedeutung, sondern ebenso für alle anderen Dinge, seien sie nun von Bedeutung oder nicht. Sein ganzes Leben war bisher nur davon gezeichnet, eben kein Leben zu sein, sondern mehr ein Hineinversetzen in einen Zustand, den er nicht verstand, an dem er keine Schuld hatte und den er dennoch ertragen musste. 

    Und natürlich war keiner an dieser Misere schuld, außer all den Umständen, die er so gar nicht beeinflussen konnte und die ihn immer wieder aus der Bahn schmissen. Und Schuld war schon beileibe nicht er selbst, wo er doch immer wieder versucht hatte, auf die Beine zu kommen und etwas aus sich zu machen. Auch wenn alles mal gut lief – was es natürlich nie tat, auch nicht gemessen am Standard seines Lebens. Aber allein der Gedanke an eine bessere Zeit ließ alles besser erscheinen. Und dann das. Alles kam zusammen. Alles brach zusammen und war auf ein Ende ausgerichtet, das zwar noch nicht da war, aber seine Anzeichen schon vorausschickte.

    Es half auch nicht, den in seinen letzten Zügen liegenden, manchmal nur noch müde sich dahin drehenden Ventilator einzustecken, der auf einer Kommode direkt vor seinem Bett stand und den ihm einst seine Mutter überlassen hatte. Schlafen war so gut wie unmöglich in diesem Klima, in dieser Hitze, in dieser Schwüle, in diesem Gestank von Verwesung und Verfall. Still vor sich hin liegen kostete Schweißausbrüche. Dann lief das Wasser in kleinen Rinnsalen über sein Gesicht, die Arme, die Beine und alle anderen Extremitäten, sammelte sich in anfangs kleinen und dann immer größer werdenden Pfützen auf dem Kopfkissen, auf dem Bett, auf dem Laken, und tropfte von dort auf den verklebten Boden. Die nassen Stellen am Bettbezug fühlten sich so kalt, unangenehm nass und verfault an, wie ein Pfirsich, der jeden Moment zu explodieren drohte um seine süßen, klebrigen Säfte überall hin zu verteilen.

    Trocknen lassen gab es nicht, da nichts und niemand in dieser Feuchtigkeit jemals trocken werden würde. Die Feuchtigkeit war ein Teil des Lebens, war die Buße, die man auferlegt bekommen hatte für die Sünden, die man beging und von denen man noch nicht einmal wusste, dass man sie beging, die aber schon auf einen warteten, damit die Sühne auch zu ihrem Recht kam.

    Reverent Gerard, wie er sich nannte, und von dem keiner wusste, woher er diesen Namen hatte, machte einen jeden Sonntagmorgen darauf aufmerksam, wenn er in seiner nicht enden wollenden Tirade über die Schlechtigkeit der Menschen herzog. Er gab einem das Gefühl, nichts auf dieser Welt zu sein, als ein Haufen Mist, ein Nichts, eine Schlechtigkeit, ein verlogenes Bündel miese Schlechtigkeit, wie er es nannte, und noch vieles mehr.

    „Und alle sind wir Sünder vor dem Herren", schrie er in die Halle, die immer bis zum Rand gefüllt war, in der unablässig gesungen wurde und das Saxofon den Ton angab. Nicht, dass es keine Orgel gab, aber es gab niemanden, der sie spielen konnte. Dafür aber jemanden, der halbwegs das Saxofon beherrschte. Also war das Saxofon zur Stimme des Herrn geworden.

    „Amen", rief die Masse im Vollen zurück.

    „Und alle werden wir in die Hölle kommen", schrie Reverend Gerard aus seiner heiseren Kehle wieder und immer wieder.

    „Amen", kam es von der devoten Gemeinde wieder vollhals zurück,  einem eingespieltem Ritual  folgend.

    So ging das für Stunden, bis alle, der Priester und die Gemeinde, einfach nicht mehr konnten. Und dem Saxofonspieler die Luft ausging.

    Gott konnte all das ändern. Oder eher der Glaube an Gott. Mit Gottes Wille, seiner unermesslichen Geduld mit uns armseligen Menschen, und dem Glauben an ihn, konnte man etwas aus sich machen, konnte man den Kreis des Teuflischen durchbrechen und seinen Weg zur Erlösung finden. Man musste nur daran glauben und auch danach leben. Ein wenig Geld für die Kollekte könnte auch nicht schaden, sich den Weg ins himmlische Paradies zu verkürzen. Himmlisches Paradies, erkauft durch ein paar Cent in einer ausgedienten und am Hals abgeschnittenen Coca-Cola-Flasche aus Plastik, mit einem Loch, groß genug, um etwas hineinzustecken, aber klein genug, um es nicht wieder herausnehmen zu können. Hatte man als Prediger doch Vertrauen zu Gott, aber nicht so sehr zu seine Schäfchen. Und man wollte sie nicht noch zusätzlich in Versuchung führen, die Schäfchen.

    Die Misere für Jonathan Hagman wurde auch durch seinen Glauben an Gott nicht positiv beeinflusst. Wirkliche Erleichterung war nicht zu erwarten, weder für seine missliche Lage, noch für das Wetter, noch für die Zeit, die vor ihm lag. Er hatte längst aufgegeben, darüber nachzudenken, warum das alles so war, warum er immer nur auf der falschen Seite der Straße stand. Dass für ihn die Ampel immer rot war und nur die anderen immer grün hatten und gehen durften. Wenn er dann umschwenkte, um die Grünphase zu erhaschen, war schon wieder rot.

    Leise und unruhig wehten die schmutzig gelben, befleckten Baumwollvorhänge, die einmal weiß gewesenen waren, vor den Fenstern. Sie wurden angeweht von der leichten, sanften, stets nach verbrannter Wärme riechenden Luft, einem stechenden Geruch, der einfach nicht zu vermeiden war, man konnte machen, was man wollte.

    Die alten Fenster, die man einst nach oben hatte schieben können, standen halb offen, da man sie nicht mehr ganz auf- oder ganz zumachen konnte, weil die Mechanik im Inneren des Rahmens schon vor langer Zeit aufgegeben hatte zu funktionieren. Die Termiten hatten die Führungsbahnen für die Gegengewichte ganz einfach zerfressen, und damit war das Führen nicht mehr gegeben. Es hing auch kein Gegengewicht mehr im Gegenzug, womit man das Fenster hätte leichtgewichtig bewegen können. Im Gegenteil, das Gewicht lag irgendwo eingeklemmt im Rahmen und verhinderte damit auch noch die geringste Bewegung zwischen Fenster und Rahmen. Es klemmte ganz einfach. War unbeweglich festgefahren.

    Das alles war Jonathan natürlich nicht bekannt, da er sich für solche Sachen schon überhaupt nicht interessierte, geschweige denn, daran dachte, auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Technische Einzelheiten waren nur Belastung für ihn, unangenehm, fremd und für sein Leben total unnötig. Da er so gut wie kein Geld hatte, waren die Fenster eben halb offen oder halb geschlossen, was immer der letzte Stand der Dinge war, bevor die Seile gerissen und die Gewichte mit einem dumpfen Schlag das Ende des Rahmens, und damit auch das Ende ihrer Bestimmung, erreicht hatten. Oder wie man es eben betrachtete.

    Das Haus selbst lag am Ende einer der unbefestigten Straßen, wie es die meisten Straßen in Georgia waren und wahrscheinlich auch immer sein würden. Diese Straßen waren meist privat und das hatte auch seinen guten Grund, wollte man sich doch nicht von irgendeiner Gemeinde oder gar irgendeinem Staat reinreden lassen, wie die Straße aussah, wo hin sie führte, wer dort wohnte und was in ihr passierte.

    Und es war auch der Begriff der Freiheit – alles oder nichts – wie man die Dinge hier sah und der das Leben bestimmte. Die Freiheit des Südens, anders zu sein als im Norden, auch wenn man den Krieg verloren hatte. Einen Krieg, den man nicht wollte und zu dem man gezwungen worden war. Einen Krieg, in dem es den Nordstaaten nicht um die Sklaverei ging und niemand diesen, von Anfang an zur Verdammnis bestimmten Wesen auch nur einen Tag der Freiheit gönnen wollte, niemand. Selbst Lincoln bekannte sich im Brief an Horace Greeley dazu. Nur die Geschichte wird immer von denen geschrieben, die siegen, nicht von denen, die am Boden liegen. Und diese Erniedrigung hatte man bis heute nicht vergessen und atmete sie ein, jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde. Man würde nie verzeihen, nie. Man würd nie vergessen. Und immer würde die Südstaatenflagge am Mast wehen und mit dem Wind ihre Botschaft in alle Staaten schicken, die hören und sehen können. Die Botschaft, dass man anders war und den Norden nicht mochte.

    Südländische Eichen, gewaltige, urwüchsige Bäume, alt, gedrungen und mit korkiger Rinde, und zusätzlich – um die eigene Majestät noch zu unterstreichen – mit spanischem Moos behangen, das fast zu schwer schien für die doch so gewaltigen Äste und doch so federleicht schwang von Ast zu Ast, begrenzten die braunrote Spur aus Lehm, die zum Haus Hagman führte. Große Steine, die ein Riese dahin geschoben zu haben schien, da diese so plötzlich auftauchen, wie aus einem Traum, der nicht ganz zu Ende geträumt war, lagen wild am Rand des Weges. Daneben und dahinter standen südländische Fichten, krumme, große, hohe Fichten, die nur dazu dienten, den Eindruck von Wald zu vervollständigen und sonst als ziemlich wertlos galten. Dennoch gaben sie dem Ganzen eine Vollständigkeit, wie sie nur die Natur hervorbringen kann, ohne die eine Leere wäre, eine Leere, die unsere Sinne nicht verstehen würden.

    Die meterhohen Farne, wie aus Urzeiten vergessene Relikte, sowie das immer präsente Kuzu, eine Art Efeu, das alles einzunehmen versucht, verbanden die Bäume und machten das Ganze zu einer Einheit. Es war wie in einem Gemälde, in allen erdenklichen Farben, von Grün und Braun und Gelb und dem so typischen Ocker. Wie ein Zauberwald, eine undurchdringliche Wand, nicht einladend zum Wandern oder Herumstreunen. Mehr ein Zeugnis von der Machtlosigkeit des Menschen, dem etwas entgegen zu setzen, dem Gefühl, ausgeliefert zu sein und aufgeben zu müssen. Man konnte ihn nicht besiegen, diesen Wald, man konnte nur staunen.

    Jonathan selbst war kleinwüchsig, ein wenig übergewichtig, mit einer immer roten Nase und einem von kleinen, blauen Adern wild durchsetztem Gesicht. Kleine, abstehende Ohren, dünne, fast strichartige Lippen und schon sehr lichtes Haar gaben ihm nicht gerade ein attraktives Aussehen, mehr das eines sich vergessenen Südländers, der sich ein wenig zu viel des Moonshines gegönnt hatte.

    Marlow County war ein sogenanntes trockenes County, was bedeutete, dass man sich entweder den Alkohol aus dem Nachbar-County besorgen oder eben auf im Haus Gebranntes zurückgreifen musste. Selbstgebranntes hatte den Vorteil, billig zu sein, wenn man auch nicht immer wusste, was man bekam, aber das war kein Problem. Es war nicht der schlechteste Tod, den man sich hier vorstellen konnte, waren doch viele schon tot, wenn sie auch noch auf ihren zwei Beinen laufen konnten. Auch tot sein war nicht das schlechteste Los, das einen hier ereilen konnte. Und wenn schon sterben, dann wenigstens betrunken. Oder in den Armen einer Frau. Frauen waren für Jonathan nicht unbedingt in Fülle vorhanden, also blieb nur die Trunkenheit.

    Für Jonathan Hagman war nicht mehr viel Hoffnung in all diesen Anfängen und dem Nichtfertigwerden. All diese endlose Eintönigkeit, die sich immer und immer wiederholende Sinnlosigkeit, musste irgendwann einmal ein Ende haben. Wo dieses Ende allerdings sein würde, war allen Beteiligten, einschließlich ihm selbst, noch immer unbekannt und rätselhaft. Die Dusche brachte ein wenig Kühlung. Der Gedanke, die Nacht mal wieder überstanden zu haben, gab ihm letztlich die Kraft, sich für den Tag fertig zu machen. Ein Tag wie jeder andere, dachte er vor sich hin, sinnlos, ereignislos und endlos.

    Das Radio spielte Country, wie fast immer, nur unterbrochen von aufregenden Geschichten über die unheimlichen Preisnachlässe bei den neuesten Autos. Und den noch nie dagewesenen Sonderverkäufen aus  aufgelösten Möbelfirmen, die nie wieder in diesem Maße kommen würden, und bei denen es gut wäre, gerade deshalb umgehend zuzuschlagen.

    Das bisschen Hoffnung, das er früher noch hatte, hat sich mit den Jahren in das aufgelöst, was es immer war, Hoffnungslosigkeit. Er machte sich etwas vor, sah immer etwas, was nicht existierte, und hatte dennoch für lange Jahre die Kraft, an das zu glauben, was nie eintreffen würde. Nur dass es nie eintreffen würde, das wusste er eben nicht, und das war denn auch gut so. Es ist sicher schlimm, immer dort zu sein, wo keiner ist oder sein will, aber umso leichter zu ertragen, wenn man nichts davon wusste.

    Jonathan redete sich ein, eines Tages noch den großen Durchbruch zu schaffen, es allen zu zeigen und dann im ganzen Ort der große Mann zu sein, an den man sich auch in einigen Generationen noch erinnerte. Oder zumindest für ein paar Tage. Heute aber war er noch weit entfernt davon, auch nur den Anschein einer gewissen Unsterblichkeit in sich zu bergen, noch dazu in den derzeitigen Umständen. Auch sollte seine Unsterblichkeit andere Gründe haben, als er sich an diesem Tag dachte.

    Er hatte schon auch mal ein Mädchen kennengelernt, oder besser gesagt, sie hatte ihn kennengelernt, oder, noch besser gesagt, er hat sich kennenlernen lassen. Auf einer der Schulpartys, die zu Ehren der Heimkommenden jedes Jahr gegeben wurden, hatte sich Mary-Anne Gilmor an ihn erinnert. Sie war gerade aus einer Beziehung ausgebrochen, die sie fast ein Auge gekostet und die sie gerade noch so überstanden hatte. Jonathan saß alleine auf der Bank, oben auf den Bleachern, wie man die Aluminiumbänke nannte, die man wie eine große Treppe übereinander aufgebaut hatte. Er hatte sich eine Cola und Kartoffelchips geholt und sich auf die oberste Stufe gesetzt. Dort oben wollte er nur dem Footballspiel zusehen, als Mary-Anne von unten und von Weitem seinen Namen rief. Er konnte sich noch schwach daran erinnern, dass sie einmal in derselben Klasse gewesen waren, wenn sie auch damals nichts von ihm hatte wissen wollen. Dies jedoch beruhte zu jener Zeit sehr wohl auf Gegenseitigkeit. Noch bevor er antworten konnte, war sie hochgestiegen und neben ihm gesessen, und hat all die  Plattitüden von sich gegeben, die man eben so sagt, wenn man sich ein paar Jahre nicht gesehen und sich auch vorher nichts zu sagen gehabt hatte. Einschließlich, wie gut er heute aussah und wie er sich die letzten Jahre zu seinem Vorteil entwickelt hätte.

    Jonathan war nicht sehr beeindruckt, hatte er doch nicht sehr viel Übung und Erfahrung, mit Frauen umzugehen. Aber diese Scharade aus Komplimenten und Nettigkeiten kam sogar ihm ein wenig suspekt vor.

    Frauen waren ihm sowieso im Grunde suspekt, irgendwie wie fremde Wesen, die eigentlich nur immer dasselbe wollten: Kinder und Familie, ausgesorgt zu haben, in einem Haus wohnen und nachmittags mit den Freundinnen Kaffee trinken. Im Sommer wollten sie am Pool sitzen und darauf warten, dass der Mann nach Hause kam, um die Steaks auf den Grill zu legen. Jonathan wollte diese Art Glück lieber anderen überlassen und sich mehr um sich selbst kümmern. All die Mühe, die sich Mary-Anne gegeben hatte, war sinnlos verpufft, nicht einmal zu einer gemeinsamen Nacht hatte es gereicht, was sich im Nachhinein als Segen herausstellen sollte, da der Nächste, den sich Mary-Anne dann an diesem Abend noch angelte, zwei Wochen später tot war. Der Verflossene, der Mary-Anne eben fast jenes besagte Auge gekostet hatte, war in rasender Eifersucht in das Haus seines Konkurrenten gestürmt und hatte beide, Mary-Anne und Paul Askmit, so hieß der Unglückselige, mit zwei Magazinen und einer 9mm Lugar durchsiebt. Als Jonathan das in der Zeitung las, war ihm umso mehr bewusst, dass Frauen seiner Gesundheit nicht zuträglich und deshalb unter allen Umständen zu vermeiden waren.

    Das Radio spielte jetzt auf einmal, zum wer-weiß-wie-vielten Male, dieselben Elvis-Lieder, die man schon als Kind auswendig gekonnt hatte und die doch immer und immer wieder wiederholt wurden.

    Dazwischen kam der Verkehrsbericht, die üblichen Staus in Richtung Atlanta, und dann das Wetter, das wie immer unerträglich heiß sein und nur durch ein Gewitter am Nachmittag abgekühlt werden würde. Johnathan dachte sich manchmal, dass man diese Durchsagen wahrscheinlich auf Band hatte und immer wieder abspielte, ohne dass wirklich jemand dort saß und das von irgendwo herunter las. Er wollte einmal dorthin gehen, in diese Radiostation, und sehen, wie dieser Mann denn aussah, der da immer mit seiner sonoren Stimme den ganzen Tag redete und seine langweiligen Späße machte. Späße, die man schon so oft gehört hatte und über die er selbst immer am besten lachen konnte.

    2

    Trotz der Dusche immer noch endlos müde, machte sich Jonathan nun dennoch auf den Weg zu seinem Büro, das er sich für ganze 200 Dollar im Monat von einem Anwalt angemietet hatte, der so erfolglos war wie er selbst. Das Büro lag im ersten Stock eines alten, nahezu verfallenen und abgestanden riechenden Baus der zwanziger Jahre, mit einst prächtiger Fassade, die sich allerdings im Lauf der Jahre selbst vergessen hatte. Nichts war mehr gerade, alles war etwas aus dem Winkel und die Bohlen am Boden waren teilweise so von Termiten zerfressen, dass man durch die Zwischenräume in das untere Stockwerk sehen konnte. 

    Bei jedem Schritt wurde ein wenig von dem rotbraunen Holzstaub aufgewirbelt, den die Termiten zurückgelassen hatten, bevor sogar sie eingesehen hatten, dass da nichts mehr zu holen war. Jonathan hatte für sich einen Weg zurecht gemacht, nicht immer gerade und in einer Linie, aber sicher genug, um nicht stecken zu bleiben oder gar in ein Loch zu treten.

         'Jonathan Hagman - Kreditvermittlung'

    stand an der Tür auf dunklem Holz, in schönen goldfarbenen Buchstaben, gotisch kursiv. Wenn auch manche der Buchstaben sich schon ein wenig abgelöst hatten. Die Tür war nicht verschlossen; warum auch. Gab es doch nichts zu holen, was auch nur annähernd irgendeinen Wert hatte. Sie zu verschließen hätte bei den wenigen, die hier vorbeizukommen gewohnt waren, nur Argwohn geweckt, da sie nichts Derartiges erwarteten. Außerdem war es grundsätzlich nicht möglich, die Tür zu schließen, da der Spalt zwischen Türblatt und Rahmen die Distanz überstieg, die nötig gewesen wäre, den Riegel in das dafür vorgesehene Loch zu schieben. Es passte halt nicht mehr, wie so viel in seinem Leben nicht mehr passte, auch wenn er sich derzeit darüber keine allzu großen Gedanken machte.  

    Margarete Mary-Joe Simmons, einfachheitshalber Margret oder Marge genannt, seine Assistentin in all den Jahren, kam noch regelmäßig ins Büro, obwohl es schon lange keinen Scheck mehr gegeben hatte, auf dem ihr Name stand und der wieder einmal nicht eingelöst werden konnte. Ihr Mann, der schon seit etwa 15 Jahren verstorben war, hatte bei der Eisenbahn gearbeitet und war fast das ganze Jahr über immer unterwegs gewesen. Eines Tages, als er einen Wagen abkoppeln sollte, war er nicht rechtzeitig zwischen den Wagons herausgekommen und die Puffer hatten ihm in Hüfthöhe seine Eingeweide zerdrückt. Die Eisenbahngesellschaft hatte die Beerdigung bezahlt und seiner Frau eine kleine Rente bewilligt, von der sich einigermaßen leben ließ, wenn auch große Sprünge nicht gestattet oder möglich waren. Sie hat sich nie wieder nach jemand anderem umgesehen, da sie Angst davor hatte, ständig mit ein und derselben Person zusammen zu sein. War doch ihr Verstorbener ein idealer Ehemann gewesen, immer erreichbar, mit monatlicher Überweisung, und doch so gut wie nie zu Hause. Johns Mutter hatte ihr dann eines Tages vorgeschlagen, doch mal anzufragen, ob ihr Sohn jemanden bräuchte. Und anstatt die Zeit zu Hause totzuschlagen, hatte sie sich angeboten, das Telefon abzunehmen, nur für den Fall, dass mal jemand anruft. 

    Sie saß bereits auf ihrem Stuhl, als Jonathan ins Büro kam, voll konzentriert auf die Rabatthefte und Coupons der Tageszeitung, nach denen sie sich jeweils ihr Abendessen auszuwählen gedachte. Wie jeden Tag.

    Wie immer fragte Johnathan, ob es irgendetwas Neues gäbe, als er an ihr vorbeiging, als wäre sie nicht vorhanden. Sie war daran gewöhnt, nicht aufzufallen. Schon immer war sie nur Haut und Knochen gewesen, kein Gramm Fett war an ihr, aber auch keine Figur. Ein kantiges Gesicht mit vorstehendem Kinn, eine verhältnismäßig große Nase und weit auseinander stehende, kleine Zähne machten das Bild einer eher männlichen Margarete komplett. Früher, in der Schule, und besonders in der Highschool, hatte es sie gestört, dass die Jungens immer hinter anderen Mädchen hergelaufen sind, die mehr um die Brust hatten als sie, aber das hatte sich schnell gegeben. Sie fand es sogar schön und bequem, einfacher und attraktiver, je mehr sie darüber nachdachte und sich damit abfand. Manchmal wusste sie nicht, warum, und in stillen Momenten hatte sie sogar das Gefühl, sich eher zum gleichen Geschlecht hingezogen zu fühlen als zu Männern. Da aber der Priester der baptistischen Kirche, in die sie jeden Sonntag ging, dies immer als Sünde von der Plattform herunter predigte, hatte sie den Gedanken daran sehr schnell aufgegeben. Sündigen wollte sie ja nun doch nicht, und Gott würde doch sehr wohl wissen, was recht war und was nicht. Sie konnte sich doch nicht über Gott stellen und das in Zweifel ziehen. Gefügigkeit war das Gebot, Mahnung und gerechte Gesinnung. 

    Und wie immer sagte Margarete, „Nein, nichts, alles beim Alten." Wie jeden Tag, ohne von was immer sie tat auch nur eine Sekunde aufzublicken. Eine kleine Pause zum Luftholen und wieder ein Coupon für zwei Zahnpasten kostenlos, wenn man eine dritte kaufte, ausgeschnitten.

    „Ach doch, Ihre Mutter hat angerufen", fiel ihr gerade ein, als sie sich wieder auf ihre Arbeiten konzentrieren wollte.

    „Sie wollte wissen, ob Sie heute zum Essen kommen", worauf Jonathan sich zu der der Aussage hinreißen ließ, warum er denn nicht kommen sollte. Er käme doch jeden Dienstag, und das schon seit zwei Jahren. In schöner Regelmäßigkeit und Bequemlichkeit.

    Dies war eines der Rituale, die Jonathan etwas gaben, woran er sich festklammern konnte. Regelmäßigkeiten, Gewohnheiten, etwas planen, sei es auch nur das Abendessen mit seiner Mutter. Sie lebte am anderen Ende des Ortes, etwas außerhalb, in dem Haus, das noch sein Vater mit eigenen Händen gebaut hatte, wie er nicht lassen konnte, jeden Tag zu erwähnen, als er noch lebte und in guter Südstaatenmanier die Familie terrorisierte. Seine Mutter hatte diesen Part dann übernommen, als der Vater vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt starb. Übergewichtig von zu vielem frittierten Hühnchen, in Schweinefett gekochten Bohnen, endlosem Kettenrauchen mit den Selbstgedrehten, und völliger Bewegungslosigkeit, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann das Herz nicht mehr mitmachen würde. Es war sehr schnell gegangen und wie man sagte, hatte er nicht einmal etwas davon gemerkt. Er war einfach auf einmal tot. Tot war er eigentlich schon lange, aber in diesem Moment hatte er auch aufgehört zu atmen, einfach so, als wollte er mal kurz irgendwo hingehen und gleich wiederkommen. Nur mit dem Wiederkehren war das so ein Problem. Es gab kein Wiederkehren in diesem Fall.

    Johnathan war sich nicht mal mehr sicher, wann das gewesen war, da er damals kein Interesse daran hatte, in die Klinik zu fahren, als sie ihn anriefen, um ihm das Unvermeidliche mitzuteilen. Sie gaben sich Mühe, es ihm schonend beizubringen, obwohl er von dieser Verschonung absolut nichts hielt und es ihnen dann auch gesagt hatte, woraufhin der Arzt es dann auch sehr kurz machte. Johnathan fragte nur, ob es denn schlimm sei und er etwas tun könne, worauf man bedauerte, dass dies wohl nicht möglich sei, worauf er dann wiederum seine Zweifel äußerte und fragte, was er denn dann dort solle.

    Das Verhältnis zu seinem Vater war, um es gelinde zu sagen, nicht existent. John war immer im Schatten seiner Gewalt gewesen, seines Forderns, das er nicht erfüllen konnte und wollte, und im Schatten seiner Arroganz, angeblich alles zu wissen.

    Sein Vater war aus dem Krieg gekommen, dem Zweiten Weltkrieg, wie man ihn nannte, voller Zuversicht, sowie der Gewissheit das Richtige getan zu haben und nun endlich das Leben anfangen zu können, von dem er all die Zeit geträumt hatte. Wenn er denn, wo immer er gelegen und darauf gewartet hatte erschossen zu werden, Zeit hatte, diesen Träumen nachzuhängen. Es gab viele Versprechungen nach dem großen Krieg, billige Kredite, um sich den Traum vom eigenen Haus erfüllen zu können, Ausbildung, für die man nichts bezahlen musste, und genug Arbeit, um all das herzustellen, was man so die letzten Jahre hatte vermissen müssen. Alles war auf die Produktion von kriegswichtigen Produkten umgestellt worden, für das große Siegen damals, und keiner konnte etwas kaufen wie Autos, Fahrräder oder Fernseher. Die wichtigen Dinge im Leben waren eben nicht zu haben. Alle Produktion war ausgerichtet auf die Zerstörung des Tyrannen, der die Welt in seinen Klauen gehalten hatte, und den man unter allen Umständen hatte vernichten müssen, koste es, was es wolle.

    Die ganze Welt wartete damals darauf, dass Amerika das große Schiff der Freiheit in alle Kontinente schickte, vollgeladen mit all den Annehmlichkeiten des zwanzigsten Jahrhunderts.

    Gerald Hagman, wie sein Vater hieß, hatte mit all den großen Dingen, die Amerika geplant hatte, nichts am Hut, er wollte ganz einfach Geld verdienen, ein großes Auto fahren und so viele Frauen wie möglich haben. Gleichzeitig oder nacheinander, was immer der Tag so ergab. Die Papierfabrik war dafür genau das Richtige. Kein zu anstrengender oder auslaugender Job, nicht zu weit weg vom Ort und auch vielversprechend. Papier brauchte man immer und Georgia hatte genug schlechtes Holz, das sich gerade dafür am besten eignete. Hatte man doch die größten Fichtenwälder im Südosten der Staaten, endlose Weiten mit noch zu fällenden Bäumen, in einem Land, in dem fast keiner lebte und wenn, dann nur, weil man es sich nicht

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