Der Terror in mir
Von Nina Saro
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Über dieses E-Book
Lars, dem dies durchaus bewusst ist, nimmt dankbar eine erneute kurzfristige dienstliche Verwendung im Ausland an. Hier in Frankreich, weit weg von Frau und Familie, gelingt es ihm zum ersten Mal seit dem Einsatz unbefangen zu leben. In einem intensiven Gespräch mit einem Vertrauten öffnet er sich erstmalig und spricht über die Dinge, die ihn belasten. Gestärkt durch die Erfahrung, sich seiner Vergangenheit stellen zu können, kehrt er mit dem Vorhaben nach Hause zurück, sich auch hier von seinem seelischen Ballast zu befreien. Doch kaum in der Heimat angekommen, erkennt er, dass ihm hierzu weiterhin die Bereitschaft fehlt. Die Eheleute entfremden sich immer mehr. Erst durch Informationen von außen gelingt es Claudia, die Zusammenhänge zu verstehen und die Gründe für Lars Veränderungen zu erfahren. Erst ein intensives emotionales Erlebnis außerhalb seines familiären Alltags gibt ihm den Mut, sich dem Erlebten zu stellen und öffnet in ihm den Wunsch professionelle Hilfe anzunehmen, wenn es nicht hierfür schon zu spät ist....
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Buchvorschau
Der Terror in mir - Nina Saro
Das Wesen des Krieges besteht darin, dass er Menschen zu Taten legitimiert, die im zivilen Leben als Verbrechen eingestuft und daher von den meisten niemals, in Kriegen jedoch von den meisten ohne Zögern und ohne Schuldgefühle begangen werden.
Friedrich Hacker
1
Die Triebwerke der Maschine dröhnten gleichmäßig und monoton vor sich hin. Es war ein sehr angenehmer und ruhiger Flug. Der Himmel war ebenmäßig blau und wenn man aus dem Fenster blickte, sah man unter sich immer wieder die Erdoberfläche zwischen einigen Wolkenfetzen hervorblitzen. Wie lange waren sie schon unterwegs? Was waren das für Landstriche, die unter ihnen waren? Ganz egal, sie alle mussten überquert werden auf dem Weg nach Hause. Nach Hause, was für ein Begriff, den jeder in seinem Leben tausendfach benutzt, dessen Bedeutung man aber erst erkennt, wenn man wirklich von dort Abschied nehmen musste.
Lars rieb sich über die Augen und blickte auf seine Armbanduhr: 12.10 Uhr. Er hatte tatsächlich eine halbe Stunde vor sich hingedämmert und außer dem unterschwelligen Geräusch der Triebwerke nichts von seiner Umgebung wahrgenommen. Gleich viertel nach zwölf, das hieß nur noch knapp zwei Stunden bis zur geplanten Landung. Dann hieß es aussteigen und eintauchen in die alte vertraute Welt, die es jetzt wieder galt neu zu entdecken. In ihm war eine innere Anspannung, er wusste nicht, ob er sie als reine Vorfreude deuten sollte, oder ob es nicht doch einige Anteile ängstlicher Erwartung waren, die ihn beschäftigten. Sechs Monate war er nun von zu Hause fort gewesen, sechs lange nicht enden wollende Monate, die jetzt da sie vorbei waren eigentlich der Vergangenheit angehören sollten. Das dies nicht so einfach werden würde, war ihm klar, dafür hatte er zu viel erlebt und sich zu intensiv mit Dingen beschäftigt, die so gar nicht in die normale Welt zuhause hineinpassten. Auch seine Familie hatte sicherlich nicht das schönste halbe Jahr ihres Lebens hinter sich und doch, da war Lars sich sicher, der größte Vorteil ihm gegenüber war, dass seine Frau und die Kinder in ihrer gewohnten Umgebung und zusammen gewesen waren und es ihnen im Grunde nur an seiner Anwesenheit gemangelt hatte. Vielleicht, so gestand er sich ein, war diese Einschätzung von seiner Seite aus ungerecht, doch konnte er sich nicht dagegen wehren.
Jetzt aber wollte er sich nur noch darauf freuen, seine geliebte Familie wieder zu sehen, mit ihnen zu reden, zu lachen, zu streiten, sie riechen und berühren zu dürfen. Wie würde es sein, seine Frau in die Arme zu nehmen, sie zu küssen, zu umarmen. Würde die ganze Familie da sein, um ihn abzuholen, oder gab es im Leben seiner fast erwachsenen Kinder Wichtigeres als den alten Vater zu begrüßen. Lars war sich so unsicher, er wusste gar nicht, wo dieses Gefühl herkam, aber er hatte einfach Angst davor in eine Welt zurückzukommen, in die er nicht mehr gehörte, da ohne ihn alles seinen gewohnten Lauf genommen hatte, da er in zahlreichen Telefonaten und E-mails erfahren musste, dass seine Lieben sehr gut ohne ihn auskamen, dass seine Frau, den Alltag stemmte, Probleme bewältigte und Lösungen fand. Dinge, die ihn vor seiner Abreise zuversichtlich und glücklich gemacht hatten, eine Frau zu haben, die durchaus in der Lage war ohne ihn auszukommen, die sich zu helfen wusste, wenn Not am Mann war, die das Zusammenleben mit den Kindern als täglich neu erlebtes Glück empfand, die ihm, der nicht eingreifen konnte, niemals das Gefühl gegeben hatte, überfordert zu sein, all dies ließ ihn jetzt ängstlich daran zweifeln, nicht mehr dazuzugehören, den Eintritt in diese vertraute Welt nicht mehr zu finden.
„He, Lars, was ist denn mit dir los, sein Sitznachbar Leon stupste ihn freundschaftlich in die Seite, „wo bist du denn mit deinem Kopf, du siehst ja aus als wolltest du zu deiner eigenen Beerdigung gehen, Junge, es geht nach Hause, nach Hause, merkst du nicht wie geil sich das anhört
. Lars schüttelte sich unmerklich, so als wolle er seine trüben Gedanken aus seinem Kopf verjagen und antwortete jovial: „ Ach, was du nicht sagst, ich dachte schon, der Flieger dreht rum, und das ganze Schlamassel fängt von vorne an. Die beiden lachten und Leon kam ins Schwärmen: „Weißt du, was ich als erstes tue, wenn ich nach Hause komme? Ich schnappe mir meine Lena und unseren Hund und mache einen Riesenspaziergang mit den beiden. Ich werde nicht aufhören zu reden, nicht aufhören, Lena festzuhalten und nicht aufhören, den Geruch unseres Dorfes aufzusaugen, selbst der leckere Schweinegüllegestank vom alten Wender wird mir vorkommen, wie das teuerste Parfum der Welt. Mein Gott, was freue ich mich. Schreien werde ich, schreien, dass es das ganze Dorf hört: Schaut her, ich bin wieder da, schaut her ich lebe, schaut her ich bin völlig unversehrt. Und wenn es meiner Lena noch so peinlich ist, soll sie doch merken, ihr chaotischer Freund ist wieder da, sechs Monate hat sie sich von mir erholen dürfen, da kann ich ja jetzt mal wieder so richtig Gas geben
. „Das ist ja ein super Plan, mischte sich Torsten ein, „aber irgendwie musst du deine Aktion wohl auf Morgen verschieben, denn bis du in deinem netten Schweineörtchen angekommen bist, wird es dunkel, wir haben schließlich April und nicht Hochsommer. „Mist, daran habe ich ja nun überhaupt nicht gedacht, ich bin irgendwie völlig quer im Kopf, aber wie soll man mir das auch übelnehmen. Dann mach ich eben Plan B, ich rieche nur an meiner Lena und mehr verrate ich euch nicht
. „Ok, ok, wir haben es ja schon verstanden, aber kannst du es dir auch vorstellen, dass es für andere gerade ganz schön Scheiße ist, wenn du von deiner glücklichen Heimkehr in den Armen deiner Süßen träumst, Kai, der bislang die immer lebhaft werdenden Gespräche seiner Kameraden schweigend verfolgt hatte, mischte sich nun gereizt ein. „Wisst ihr, ich weiß so gar nicht welche Situation mich nun konkret erwartet, wahrscheinlich kann ich mich heute Abend noch in mein Jugendzimmer bei Mutti verkriechen und das sage ich euch, das ist schlimmer als sechs Monate Container, besonders wenn du weißt, das 20 km weiter deine dich angeblich liebende Gattin in den Armen von irgend so einem Typ liegt und froh ist, dich nicht mehr in ihrer Nähe zu haben. Verdammter Mist, ich habe keine Ahnung wie ich damit umgehen soll
. Die Gereiztheit aus seiner Stimme war beim letzten Satz völlig verflogen und übrig blieb nur Resignation. Allgemeines Schweigen breitete sich aus, denn keiner wusste so recht, was er Kai sagen sollte. „Seht ihr, genau das gibt mir mal wieder zu 100 % Recht, dass mein Singledasein doch die einzig richtige Lebensweise für einen Mann ist, diese festen Beziehungskisten machen auf Dauer doch nur Ärger und schränken euch ein, wie man ja im letzten halben Jahr gesehen hat, Torsten lachte verschmitzt und strich sich mit der Hand über seinen kurzgeschnittenen Lockenkopf. Er war, da waren sich seine Kameraden alle einig, der absolut Attraktivste unter ihnen und konnte sich in der Frauenwelt immer wieder charmant in Szene setzen. Er hatte neben einem gut trainierten Körper ein angenehm markantes Gesicht zu bieten und es gab niemanden, egal ob männlich oder weiblich, der nicht beeindruckt war von dem Ausdruck seiner blauen Augen, mit denen er so herrlich verschmitzt blinzeln konnte. Torsten war sich seiner Wirkung auf Frauen durchaus bewusst und machte auch keinen Hehl daraus, dies absolut zu genießen. Mit seinen nun 32 Jahren war er in der tollen Position Frauen im Alter von 20 bis 40 begeistern zu können und nutzte dies auch gerne aus. Dabei war er immer ehrlich und gab offen zu, jede kurzfristige Affäre einer langlebigen Beziehung vorzuziehen und schon so manche Frau, die ihn eines Besseren belehren wollte, wurde von ihm enttäuscht. So hatte er auch in den letzten Monaten nicht unter der sexuellen Abstinenz seiner Kameraden leiden müssen, denn es gab genug weibliche Soldatinnen im Lager, die genauso tickten wie er und für viele Späße zu haben waren. „Jedenfalls weiß ich schon wie die nächsten Tage und Wochen aussehen werden, es geht ab auf die Piste! Frühling in Deutschland, die Mädels tragen die neue Mode, schicke Pumps und lassen es so richtig krachen, und ich bin dabei
. Torsten wohnte in Kassel, auch das unterschied ihn von den meisten seiner Kameraden, denn Kassel hatte doch zumindest den Hauch einer Großstadt un
d Probleme mit guten Clubs und Bars gab es nicht. Hier war sein Revier und Torsten hatte genügend Selbstbewusstsein, um zu wissen, dass die nächste Zeit sicherlich spannend werden würde. „Drei Wochen Urlaub, das heißt jeden Morgen ausschlafen und abends ab ins Abenteuer. Allein der Gedanke, einfach aus dem Haus zu gehen, sich frei bewegen zu können und vor nichts und niemand Angst haben zu müssen, ist doch einfach genial, oder? Torsten verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und grinste erwartungsvoll vor sich hin. Die letzten Monate waren in Bezug auf Freigang einer Inhaftierung gleichgekommen, nur mit dem Unterschied, dass das Leben hinter Zäunen ihrer eigenen Sicherheit und nicht derer diente, die außerhalb des Lagers lebten. „Ja, genau darum möchte ich ja auch so schnell es geht hinaus in die Natur und einfach durch die Gegend streifen. Joggen im Wald, mit geschlossenen Augen am See liegen oder einfach nur mit dem Fahrrad durch die Gegend strampeln, alles Dinge, die wir unser ganzes bisheriges Leben lang so selbstverständlich hingenommen haben, bekommen ab heute eine ganz neue Bedeutung, das ist doch irre, oder?, Kai schüttelte den Kopf, „ich hätte mir nie vorstellen können, mich jemals über solche Selbstverständlichkeiten freuen zu können, aber jetzt kommt mir die Vorstellung mich frei bewegen zu können, wann immer ich will wie ein Sechser im Lotto vor. Allein wenn wir jetzt bald landen und einfach so aus der Maschine spazieren, unbewaffnet, ohne Schutzweste und ohne dieses verdammte Adrenalin im Hirn, Mann, da fängt das Leben noch mal an.
Lars hatte der lebhaften Unterhaltung stumm zugehört und sich bei den Ausführungen seiner Freunde seine eigenen Gedanken gemacht. Immer wieder musste er feststellen, dass er Torsten um seine unbeschwerte Lebenseinstellung ein wenig beneidete, denn er selbst war eher pessimistisch veranlagt und oftmals fiel es ihm schwer, Dinge locker anzugehen und auf einen positiven Ausgang zu hoffen. Torsten war auch während des Einsatzes immer der gewesen, der die Gruppe aufmunterte, der Späße machte, wenn es wirklich wenig zu lachen gab und der es einfach verstand, die Kameraden ein wenig abzulenken und neu zu motivieren. Er war keinesfalls oberflächlich, dies zu behaupten wurde seiner Person nicht gerecht, aber er hatte einfach die Art ein Glas immer halb voll und nie halb leer zu sehen. Bewundernswert, dachte Lars, das ist mir nun wirklich nicht in die Wiege gelegt. Darüberhinaus, da war sich Lars sicher, hatte Torsten die letzten Monate einen wirklich guten Job gemacht, allerdings mit dem immensen Vorteil, sich nicht in unmittelbare Gefahr begeben zu müssen. Torsten war Hubschraubermechaniker und hatte mit seinem Team immer dafür gesorgt, dass die Maschinen einsatzbereit und völlig intakt waren. Er stand in engem Kontakt zu den Piloten, musste aber aufgrund seiner Tätigkeit das Lager so gut wie nie verlassen. Ein einziges Mal hatte ein technisches Problem an einer der Maschinen dazu geführt, eine ungeplante Außenlandung vornehmen zu müssen und hier war die Technik gefordert, die Angelegenheit außerhalb des Lagers in Ordnung zu bringen. Die Situation war brenzlig gewesen, denn einen Kampfhubschrauber der ISAF manöverunfähig im Gebiet der Taliban stehen zu haben, ist nun wirklich nicht der Wunsch eines Einsatzkommandos. Torsten und seine Leute hatten die Situation aber gut im Griff und selbst hierbei verlor er nicht den Humor und scherzte noch über die Bewachung der Aktion durch die Bodentruppen. „Mann Leute, sind wir wichtig, wir haben ja mehr Bodyguards als der Präsident von Amerika. Nach der Rückkehr ins Lager war allerdings auch ihm die Anspannung unter der er und seine Männer gestanden hatte deutlich anzumerken und er suchte das Gespräch mit Lars „Weißt du nach diesem Erlebnis von heute und obwohl ja Gott sei Dank gar nichts geschehen ist, ist mir erst einmal absolut bewusst geworden, was ihr da draußen für einen Scheißjob habt und wie froh ich sein kann nicht zu fliegen sondern nur zu schrauben. Ich habe euch Flieger, ja ehrlich gesagt, immer um euren Job beneidet, aber jetzt und hier möchte ich wirklich nicht mit euch tauschen. Da steh ich doch lieber Tag für Tag hier in der Halle und sorge dafür, dass eure Vögelchen keinen Schnupfen bekommen.
Er lachte, und Lars hatte trotz des Lachens das Gefühl, Torsten selten so ernsthaft erlebt zu haben. „Ok, natürlich ist es hier im Lager ruhiger als draußen, aber selbst uns dort oben in der Luft geht es doch noch wesentlich besser als Kai und seinen Leuten, die ständig auf diesen verfluchten Straßen unterwegs sein müssen, wo du nie sicher sein kannst, ob mal wieder so ein ferngesteuerter Selbstmordattentäter auf seinem Moped vorbeirattert oder ob nachts mal wieder Minen unter dem Straßenbelag versteckt wurden. Die Jungs haben wirklich einen Scheißjob und bekommen dafür auch noch weniger Geld als wir. Die Bodentruppen sind natürlich heil froh, dass wir da sind und einige Gefahren von oben früher und besser einschätzen können als sie, letztendlich ein hundertprozentiger Schutz können wir aber nicht sein. Die Gefahr für die Jungs am Boden bleibt am größten. Wir haben immer noch eine ausreichende Distanz zu irgendwelchen geplanten Angriffen und sollten sich diese direkt auf uns richten auch die Chance schneller weg zu sein als die Fahrzeuge am Boden. Insgesamt muss man aber doch immer wieder das Gefüge betrachten. Jeder von uns hier ist wichtig, nur zusammen können wir unseren Auftrag erfüllen, jede Einheit für sich alleine gelassen, kommt nicht zum Ziel. Deshalb habe ich auch absolut etwas gegen die Leute, die ihren Dienst wichtiger nehmen als den anderer, wir gehören alle zusammen und so soll es sein. Torsten nickte zustimmend und stellte zum wiederholten Male fest, wie gerne er sich mit Lars unterhielt. Im Grunde genommen zwei Männer mit zumindest im privaten Bereich völlig unterschiedlichen Ansätzen, deren Denkweise vor allem in Bezug auf ihr Dienstverständnis aber sehr parallel verlief. So wie Lars Torsten um seine Leichtigkeit beneidete, so bewunderte Torsten die Souveränität des anderen, seine ausgeglichene Art und seine Fähigkeit immer wieder das Gespräch mit den Kameraden zu suchen, ein Gespür für aufkommende Missstimmungen zu haben und durch geschickte Gesprächsführungen immer wieder dazu beizutragen, Streitigkeiten zu vermeiden und Standpunkte zu klären. Lars war ein erfahrener und guter Pilot, einer der sich auf seine Laufbahn vielleicht etwas einbilden konnte, dies aber niemals tat, denn so wie er es eben im Gespräch mit Torsten erläutert hatte, so lebte er auch. Er machte seinen Dienst so gut er konnte, suchte seine engeren Bekannte und Freunde nicht nach Rang und Namen aus und war einfach ein sympathischer Typ. Das einzige was ihm widerstrebte, waren Menschen egal ob im dienstlichen oder privaten Bereich, die Dinge nur halbherzig angingen, die sich mit ständigen Entschuldigungen um Arbeiten herumdrückten oder einfach nicht in die Pötte kamen. Von solchen Menschen distanzierte Lars sich, höflich aber bestimmt. Streit zu suchen war absolut nicht seine Art, sich einer aufkommenden kriseligen Situation nicht zu stellen aber eben so wenig. Dieses Gesamtbild führte dazu, dass Lars sowohl bei Vorgesetzten als auch bei Untergebenen (wobei dies ein Begriff war, den er selbst nie benutzte) sehr beliebt war und man ihn schon wiederholt zur Vertrauensperson gewählt hatte. „Lagermutti
war sein aktueller Spitzname, mit dem er aber gut leben konnte.
In dieser Funktion hatte er auch mehrere Gespräche mit Kai geführt, der im Laufe des Auslandseinsatzes in eine schwere persönliche Krise gestürzt war. Lars beobachtete ihn auch jetzt. Kai saß mit starrer Mine im Flugzeug und Lars hatte das Gefühl, als könne er die angeregte Unterhaltung kaum mehr ertragen. Er tat ihm aufrichtig Leid.
Kai war 38 Jahre alt und seit sieben Jahren verheiratet. Wenn er ehrlich war, war seine Ehe nicht wirklich gut gewesen als er in den Einsatz ging, doch Kai hatte gehofft, dass seine Frau Sandra, in dieser Zeit merken würde, dass sie ihn vermisste, aber
leider war das Gegenteil eingetreten. Kai hatte schon lange vor der Abreise das Gefühl gehabt, seine Frau mehr zu lieben als sie ihn, aber Sandra hatte immer wieder beteuert, dass dies nicht so sei und ihm ihre Liebe geschworen. Pläne hatten sie gemacht, die Zeit nach dem Einsatz zu nutzen, endlich eine Familie zu gründen, vielleicht sogar ein Haus zu kaufen. Mit dieser Vorstellung war Kai in den Flieger nach Afghanistan gestiegen und vom ersten Tag an auf seine Rückkehr und auf die Umsetzung dieser Pläne fixiert. Seine Euphorie dauerte ca. 3 Monate an, dann spürte er eine deutliche Veränderung in den Telefonaten mit seiner Frau. Sie wurden seltener, kürzer und immer inhaltsloser. Er wusste, es musste ein lebensbeeinflussendes Ereignis im Leben seiner Frau gegeben haben und hatte auf der einen Seite Angst es zu erfahren, konnte aber auf der anderen Seite die Ungewissheit nicht mehr aushalten. Er erinnerte sich genau, es war ein Donnerstag als er völlig überraschend einen Hand geschriebenen Brief von Sandra erhielt und allein die Tatsache diesen in den Händen zu halten, lies bei ihm alle Alarmglocken klingeln.
Er zog sich zurück in seinen Container legte sich auf sein Bett und öffnete mit zitternden Händen den Brief.
„Mein lieber Kai,
ich denke, du ahnst bereits beim Anblick dieses ungewöhnlichen Schriftverkehrs, dass etwas passiert sein muss, was uns beide und unser gemeinsames Leben betrifft, und ich möchte dich auch gar nicht lange im Ungewissen lassen, du hast Recht damit."
Kai ließ das Blatt für einen Moment sinken, er wusste was kam, traute sich nicht weiter zu lesen und starrte für einen Moment an die Decke. Tränen stiegen ihm in die Augen, er zwang sich ruhig zu bleiben und richtete seinen Blick wieder auf den Brief.
„Ich weiß, dass du gerade in einer wirklich schwierigen Situation bist, und dass ich dir dein Leben mit diesem Brief sicherlich nicht vereinfache, aber glaube mir, ich habe sehr lange darüber nachgedacht, wie ich mich verhalten soll und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ehrlich zu dir sein möchte. Was macht es für einen Sinn, Telefonate zu führen wie in den vergangenen zwei Wochen, in denen du deutlich spürst, dass etwas nicht stimmt, in denen ich dir wenig bis gar nichts zu sagen habe, da ich dich nicht anlügen möchte. Telefonate in denen ich spüre, dass du Dinge von mir hören möchtest, die ich nicht mehr bereit bin zu sagen und nach denen du dich sehnst. Kai, du bist mir bei allem Geschehenen immer noch sehr wichtig und ich weiß, dass ich dich fürchterlich verletze, aber ich möchte dich nicht mehr quälen als unbedingt nötig."
Na, Bravo, komm endlich zum Punkt, Kai knäulte das Blatt in seiner Hand, es ist wirklich nicht der Moment mir Honig um den Bart zu schmieren, ich will wissen was los ist.
Er strich das Blatt wieder glatt und las weiter:
„Du bist jetzt seit fast vier Monaten von hier fort und schon so voller Vorfreude auf das, was nach dem Einsatz kommt, in den Flieger gestiegen, dass mir schon damals Zweifel kamen. Natürlich haben wir gemeinsam beschlossen, ein Kind zu haben und unsere Wohnsituation zu verbessern, aber je mehr ich in deiner Abwesenheit darüber nachgedacht habe, kam ich zu dem Entschluss, dass dies mehr dein Wunsch war als meiner und eine solche Zukunftsplanung in mir eher Angst wenn nicht sogar Panik auslöst als Vorfreude. Diese Gedanken haben mich selbst erschreckt, das kannst du mir glauben, aber ich konnte und kann sie nicht verdrängen, sondern muss mich ihnen stellen. Ich verstehe, wenn du jetzt beim Lesen wütend wirst, und ich sehe dich direkt vor mir, aber ich möchte jetzt einfach nur ehrlich sein und hoffen, dass du mich dann ein bisschen verstehst. Du hast schon seit längerem behauptet, mich mehr zu lieben als ich dich. Ich habe das immer bestritten, wollte dich glücklich machen, mit dir leben und alt werden. Jetzt weiß ich, dass du Recht hattest. Jetzt, da ich ein Gefühl kennengelernt habe, was so stark, so intensiv ist, wie ich es mir nie vorstellen konnte, weiß ich das. Kai, du musst mir glauben, ich habe nicht nach einem Abenteuer gesucht, auch nicht nach einem anderen Partner, es ist einfach so passiert. Du kennst ihn nicht und ich möchte auch solange du so weit weg bist, nicht mehr über ihn Preis geben, aber durch ihn habe ich Dinge über mich erfahren, die ich vorher nicht kannte und die mich selbst erstaunen. Ich möchte dich so sehr bitten mir zu verzeihen, aber bitte glaube mir, ich kann und möchte dich nicht anlügen, auch wenn ich mir durchaus darüber bewusst bin, das dies garantiert nicht der ideale Zeitpunkt ist, dich zu verlassen.
Bitte Kai versuche mich zu verstehen, du bist der, der schon immer ahnte, dass du unsere Liebe mehr lebst als ich. Jetzt hat sich diese Ahnung bestätigt und das tut mir sehr sehr Leid für dich. Aber bitte, ich weiß du bist stark, du wirst es schaffen und wenn du nach Hause kommst, reden wir.
Bitte ruf mich die nächsten Wochen nicht an, auch keine E-mails, lass