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Herr Spiro
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eBook289 Seiten4 Stunden

Herr Spiro

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Über dieses E-Book

Auf wie viel Nähe können sich zwei Menschen einlassen, die an nichts mehr glauben und felsenfest davon überzeugt sind, für alle Zeiten genug von der Liebe zu haben? Herr Spiro hilft dem Glück von Robert und Anna ein wenig auf die Sprünge. Er ist der Held einer unvollendeten, märchenhaften Geschichte, die Robert von seinem besten Freund vermacht wurde, und die er nun gemeinsam mit Anna zu Ende schreiben möchte. Mit jeder Episode, die sie verfassen, wächst die Vertrautheit zwischen den Autoren. Robert spürt schon bald, woran er mit Anna ist, doch immer wieder und wie aus heiterem Himmel kommen ihr Zweifel, ob sie ihre Gefühle zulassen soll. Wird das, was sich zwischen den beiden entwickeln könnte, womöglich schon wieder zu Ende sein, bevor es richtig begonnen hat? Und wer schreibt dann Herrn Spiro glücklich, der schon so lange auf das besondere Öl für seine wertvolle Lampe wartet?
Leserstimmen:
"Eine emotionale, nachdenkliche Geschichte mit leisen Tönen."
"Eine Geschichte in der Geschichte ..."
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum9. März 2022
ISBN9783754999981
Herr Spiro

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    Buchvorschau

    Herr Spiro - Birgit Theisen

    1

    Der Brief lag obenauf in der Ledermappe. Robert Lohwald setzte sich.

    Mein lieber Robert,

    das hier ist nur für den Fall der Fälle, und ich hoffe nichts mehr, als dass Du diesen Brief nie lesen wirst, weil alles glatt gegangen ist und ich ihn selbst entsorgen konnte.

    Nur noch fünf Minuten für ein paar Zeilen an seinen besten Freund zu haben, ist ein seltsames Gefühl. Aber ich bin mit meinem Latein am Ende, diese Rhythmus­störungen bekomme ich alleine nicht mehr in den Griff. Ich vermute und befürchte eine sehr viel tiefere Ursache. Mir bleibt kein anderer Ausweg, als mich in die Fänge meiner Kollegen zu begeben. Nicht zu ändern.

    Wie das, was eingetreten ist, wenn Du das hier liest.

    Mach Dir keine Gedanken, ich bin/war selbst dafür verantwortlich, habe vielleicht zu lang gewartet. Frag Dich aber bitte niemals, – hörst Du: NIEMALS, – ob ich es wollte. Die Antwort lautet: Nein. Ich wollte es nicht.

    Sie sind unterwegs, einem Taxifahrer möchte ich das im Zweifel nicht antun. Es kann schnell gehen.

    Aber nun zu Dir.

    Ich habe die Festplatte aufgeräumt, auf dem Stick findest Du sozusagen mein literarisches Erbe. Es sind ein paar Kleinigkeiten und drei Geschichten von Herrn Spiro. Die beiden letzten sind nachts entstanden, nach unseren Gesprächen. Der Fremde und Der Alte dürften Dir also bekannt vorkommen.

    Ich will ehrlich sein: Herr Spiro ist mir ans Herz gewachsen und ich wünschte, ich könnte weiterschreiben, bis er neues Öl gefunden hat und wieder glücklich lebt. Momentan fühlt es sich nicht so an, als würde ich es schaffen. Der Schmerz ist unvorstellbar. Eine Scheißangst ist das. Instinktiv. Ich weiß doch, dass alles so kommt, wie es soll, und dass ich Bea wiedersehe. Auch wenn Du es sein wirst, der Herrn Spiro helfen muss.

    Was ich Dir übergebe, ist vielleicht ein kleines Pflänzchen. Wenn Du magst, gieß es, und falls es eines Tages blühen sollte, häng nicht an die große Glocke, dass der Sämling dafür von mir ist war. Ich schenke Dir alles, mach damit, was Du möchtest. Nur Du allein weißt, wie wichtig es mir ist. Und damit vielleicht auch Dir.

    So, mein Lieber, ich muss. Die Ampel war rot, sie haben sich verraten, gleich werden sie klingeln.

    Drück mir die Daumen, dass wir uns wiedersehen. Falls nicht: Alles Liebe für Dich, alles erdenklich Gute und ein verdammt schönes, langes und gesundes Leben. Hau rein, Alter, und für mich mit. Wo auch immer ich dann bin, ich krieg es mit, verlass Dich drauf. Also fang erst gar nicht an zu heulen.

    Du weißt, uns beiden geht’s jetzt gut.

    Danke Dir, auch im Namen von Bea. Für alles, was war, und alles, was noch kommt.

    Für immer

    Dein Kai.

    Robert starrte aus dem Wohnzimmerfenster auf die Astern im Beet und dachte an damals, als sie zu viert im Urlaub am Meer gewesen waren, zwei Ehepaare. Rundherum satt und zufrieden, nichtsahnend.

    „Wenn Sie mal im Treibsand stecken bleiben, bewahren Sie Ruhe!, hatte der Fremdenführer gesagt. „Strampeln hilft überhaupt nichts, dann sinken Sie nur noch tiefer ein und der Sand wird zu Beton an Ihren Füßen. Außerdem wird Ihnen verdammt kalt, wenn Sie so tief drin stecken. Nach ein paar Stunden kommt die Flut und … das war‘s dann.

    Die Worte klangen Robert nach wie vor im Ohr und er konnte sich gut erinnern, dass sie alle gespannt darauf waren, wie man sich am geschicktesten aus einer solch ausweglosen Situation befreite.

    Vor drei Jahren hatte ihm aber sein Job auch noch Spaß gemacht, er hatte eine treue Ehefrau gehabt und da war Kai, der beste Freund der Welt, gewesen.

    Alles vorbei.

    Roberts Magen knurrte. An der Bäckerei auf dem Weg zwischen der U-Bahn und seiner Wohnung war er vorbeigegangen. Um halb vier hätten die mit Sicherheit keine Nussschnecke mehr gehabt. Ausverkauft. Frühmorgens war ihm die Schlange zu lang gewesen.

    Wirst den Tag auch ohne Süßkram überleben, hatte er gedacht und recht behalten! Er war nicht verhungert.

    Warum er jetzt so müde war, konnte er auch genau sagen. Die heutige Schicht hatte es in sich gehabt. Überall in München Mord und Totschlag und er war wieder der Depp auf der Suche nach dem Wer und Warum? Sollten sie doch alle! Was hatte er damit zu schaffen? Nichts. Abgesehen davon, dass es sein Beruf war.

    Robert steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Eigentlich hatte er nur noch einen Wunsch für heute: den, die Füße hochzulegen und irgendwann im Laufe des Abends versehentlich einzuschlafen. Denn wenn er es wollte, klappte es nie.

    Die Zigarette war schnell zu Ende, er starrte wieder nach draußen. Was der Wind vor dem Fenster hin und her bewegte, sah grauenhaft aus. Sämtlichen Sträuchern standen die Haare zu Berge, das Gras war viel zu lang zum Überwintern und das Unkraut wucherte überall.

    Früher hätte es Robert nicht auf dem Sitz gehalten, er hätte sich erst die Gartenschere geschnappt und anschließend seine Frau. Die war passé.

    Sollte die Natur doch machen, was sie wollte.

    Er starrte weiter aus dem Fenster.

    Wie hatte es der Fremdenführer damals so schön ausgedrückt?

    „Es ist ein Märchen, dass der Sog einen nach unten zieht, vergessen Sie das! Sie müssen nur Ihre Panik beherrschen, sich auf den Rücken legen, damit Sie Ihr Gewicht verteilen, und dann können Sie sich aus eigener Kraft herausarbeiten. Danach gehen Sie zügig zurück ans Ufer und erzählen meinetwegen im nächsten Pub, was Sie erlebt haben. Aber wundern Sie sich nicht, wenn die dort alle den Kopf schütteln, dass Sie überhaupt dort unterwegs waren."

    Ja, Robert war in der letzten Zeit in Panik geraten, das musste er zugeben. Er hatte dabei um sich getreten, davon konnten seine Abteilungskollegen ein Lied singen. Dass heute überhaupt noch jemand zu seiner kleinen Ausstandsfeier gekommen war, hatte nur der Anstand geboten. Wenn Robert es sich recht überlegte, hatte er sie aus keinem anderen Grund veranstaltet.

    Wie er sich jetzt aus dem Sog befreien musste, den es zwar laut Fremdenführer nicht gab, gegen den er aber trotzdem kämpfte, lag auf der Hand: Es war Zeit, mit der Jammerei aufzuhören und sich aus dem Treibsand herauszuarbeiten. Schließlich hatte er keinen Beton an den Füßen, er schleppte nur ein paar Dinge aus der Vergangenheit mit sich herum.

    Er würde mit dem Einfachsten anfangen und die Spuren seiner Frau verschwinden lassen. Robert wickelte einen großen, blauen Müllsack von der Rolle, legte den Rest aufs Bett und setzte sich dazu.

    Jetzt musst du nur noch aufstehen, ihre Sachen eintüten und dann das Band zuknoten, dachte er, blieb sitzen und sah dem Display des Weckers beim Hochzählen zu.

    Die Aktion musste ja nicht heute sein. Schließlich war Fiona erst knappe zwei Monate weg und würde womöglich noch darauf kommen, dass sie irgendetwas bei ihm vergessen hatte.

    Grundsätzlich wollte Robert das Thema aber nicht auf unbestimmte Zeit in den Keller verlagern, sondern wenn schon, dann final abhaken und alles den Aschentonnen übergeben. Ihr Zeug würde brennen, da war er sicher.

    Er stand auf, legte die Mülltüte auf die leere Betthälfte und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort lud ihn der Scotch zu sich ein und die Ledermappe auf dem Tischchen stach ihm wieder ins Auge. Kais Ledermappe, deren Inhalt tonnenschwer auf Robert lastete. Die Sache mit der Geschichte stand als nächster Punkt auf der Liste.

    Selbst drei Monate danach tat es noch genauso weh wie beim ersten Mal, Kais zittrige Schrift in diesem Brief zu lesen, die über die zwei Seiten immer fahriger geworden war. Wie die eines Schülers, nachdem der Lehrer die letzten fünf Minuten bis zur Abgabe eingeläutet hatte.

    Kai musste es gespürt haben.

    Und dann die schwarze Tinte! Dieser Mann hatte nie schwarze Tinte benutzt. Nur für diese letzten Worte.

    Dabei hatte er eigentlich immer gewusst, was zu tun war. Dieses eine Mal nicht. Oder war es doch Absicht? Hatte Kai es darauf angelegt? Am Ende gedacht, dass er es mit Bea besser haben würde?

    Hatte Robert versagt? Seinem besten Freund nicht beistehen können, dem Mann, der ihn mit Mitte zwanzig nach dem Durchblättern eines Reisekatalogs einmal gefragt hatte: Welches Paradies? Das Paradies ist doch da, wo ich jetzt bin.

    Robert wurde schlagartig klar, dass er Kais letzten Wunsch nie erfüllen konnte. Er sah die Welt nicht so, weil sie es nicht war! Kai war ein unverbesserlicher Träumer gewesen.

    Robert stand auf, ging zum Sekretär und griff nach einem Blatt Büttenpapier und dem Füller.

    Mein lieber Kai, …

    Das klappte. Robert brauchte nicht lang für seinen Brief. Einmal gefaltet, steckte er ihn in die Jackentasche und machte sich auf den Weg.

    Kühlschrank und Gefriertruhe hatten am Wochenende ihr Letztes gegeben, Kaffee war auch keiner mehr da. Trotzdem hatte es Anna Wehner nicht zuerst in den Supermarkt, sondern hierher gezogen.

    Sie lief schneller als sonst über den Kiesweg. Das Knirschen unter ihren Sohlen sollte sich auf keinen Fall so anhören, als würde sie gerade hinter einem Sarg hergehen.

    Der Wind wehte scharf und die feuchte Kälte kroch ihr schnell unter den Mantel, sie steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen.

    Dann sah sie sah, den Mann in Schwarz, der mit hängendem Kopf auf ihre Bank am Weiher zusteuerte. Ja, auf der hatte sie zusammengerechnet schon so viele Stunden verbracht!

    Er kam aus einem der Seitenwege, die sie auch gut kannte. An dieser Reihe war sie oft vorübergegangen und längst hatte sie sich zu den Zahlen auf den Grabsteinen Schicksale ausgemalt. Die Beiden, die sie am ehesten als ihre Gefährten bezeichnet hätte, lagen auf dem dritten Platz, waren ungefähr so alt wie sie, und einer von ihnen hatte drei Monate länger durchgehalten als der andere. Obwohl auf dem Stein zwei verschiedene Nachnamen eingemeißelt waren, lag es für Anna auf der Hand, dass Kai und Beatrice im Leben zusammengehört haben mussten.

    Der Mann ließ sich auf die Bank fallen, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und vergrub sein vollbärtiges Gesicht in den Händen.

    Ja, dachte Anna, mit seiner Trauer ist man vor allem eines: allein. Und die meisten wollen es auch sein.

    Anna überlegte, dass sie sich wahrscheinlich dazugesetzt hätte, wenn dieser Mann auf der Bank eine Frau gewesen wäre. Der Gedanke fühlte sich so unmenschlich an, dass sie sich schäbig vorkam, als sie an ihm vorbeiging. Doch dann spürte sie eine Böe im Rücken und alles war gut.

    Nach ihrer Runde um den Weiher sah sie ihn wieder. Er ging in melancholischer Geschwindigkeit den Hauptweg entlang in Richtung Portal. Sie selbst hatte genug vom Wind und nahm die Abkürzung zum Ostausgang.

    Am Grab der Gefährten lag ein gefaltetes Blatt Papier unter der Blumenschale. Da schrieb offenbar jemand Briefe und trug sie hierher. So weit war Anna nie gegangen, der Mann von vorhin etwa schon?

    Sie hatte ihre Patentante im Ohr: Mach das Leid der anderen nicht zu deinem. Schau lieber, dass du es linderst!

    Annas Herz beschleunigte. Was, wenn in diesem Brief etwas stünde, womit sie dem Mann helfen könnte?

    Es war ein Impuls, sie konnte nichts dagegen tun, hier war jetzt Eile geboten und keine Zeit für Ungewissheit oder Rücksicht auf das Briefgeheimnis.

    Sie zog das Blatt kurz und schmerzlos unter der Schale hervor und faltete es auseinander. Vorder- und Rückseite waren eng beschrieben. Das war kein billiges, sondern gutes, dickes Papier und eine schöne Handschrift, die nur mit einem schwarzen Füllfederhalter so zur Geltung kommen konnte.

    Mein lieber Kai, stand da. Der lag im Grab vor ihr.

    Anna las weiter.

    Du bist zwar schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr da, aber ich könnte immer noch jeden Tag mindestens drei Mal zum Telefon greifen, Dir irgendeinen Mist erzählen oder Dich fragen, ob Du abends auch ins Training gehst oder bei Paula noch ein Bier trinkst oder, oder, oder. Sie vermisst Dich, hat sie gesagt, ich soll Dich von ihr grüßen, wenn ich Dich besuche. Mache ich hiermit.

    Eigentlich müsste ich stocksauer auf Dich sein, dass Du einfach so gegangen bist, das weißt Du. Und ich weiß, dass ich denken soll, wie gut Du es jetzt mit Bea hast. Aber so sehr ich es mir für Euch wünsche, ich glaube nicht daran, es klappt nicht.

    Und das, was Du Dir mit Deinem Herrn Spiro vorgestellt hast, das klappt auch nicht. Erstens kann ich nicht so gut schreiben wie Du und zweitens bräuchte ich ein Bild von dem Mann. Hättest Du mir nicht wenigstens ein Phantombild hinterlassen können? Irgendeine Beschreibung. Es ist, als müsste ich jemanden zur Bildfahndung ausschreiben, von dem ich nicht den Funken einer Ahnung habe, wie er überhaupt aussieht. Das geht nicht! Das geht einfach nicht. Glaub mir bitte, dass ich es versucht habe.

    Außerdem müsste ich wissen, wie Dein Held wohnt. Wir würden doch nur aneinander vorbeischreiben, wenn die Stube, die ich mir vorstelle, eine andere ist als die, die Du Dir für ihn vorstellst! Und dann die Lampe, um die sich alles dreht. Wie soll ich jetzt noch herausfinden, wie groß sie ist und warum sie in Deinen Augen so schön ist? Und was noch viel schwerer wiegt ist doch, dass Du mir nicht verraten hast, wie Herr Spiro denkt.

    Kurz gesagt: Warum hast Du das alles so abstrakt gelassen? Warum lässt Du mich im Dunkeln stehen und verlangst dann auch noch solche Dinge von mir?

    Ich verstehe Dich nicht. Und auch wenn ich mich wiederhole: Das geht so nicht. Wenn Du noch da wärst, würde ich Dir jetzt Deine Geschichte zurückgeben. Einer wie ich kann Dir da nicht weiterhelfen. Auch wenn es mir unendlich leid tut. Für Herrn Spiro und noch viel mehr für Dich.

    Ja, ich weiß, was Du geschrieben hast. Ich soll nicht heulen. Tu ich auch nicht.

    Anna sah dem Papier an, dass es gelogen war. Sie drehte das Blatt um.

    Ich fahre jetzt für ein paar Tage ans Meer, aber nur, weil ich schon lange gebucht habe. Aus der Nummer komme ich jetzt nicht mehr raus und es stimmt ja auch: Daheim würde ich doch nur verrückt werden, wenn ich zwei Wochen auf meinen neuen Schreibtisch drüben bei den anderen warten müsste.

    Mit Deiner Erlaubnis werde ich Herrn Spiro einpacken und ihn in einer Flasche den Wellen übergeben. Vielleicht findet ihn irgendwann irgendjemand und schreibt weiter. Dann hättest Du wenigstens auf dem Wege das erreicht, wozu ich nicht imstande bin. Es tut mir leid, dass ich Dich so enttäuschen muss, aber es geht nicht anders.

    Die Dinge, die sich auf meinen Schultern angesammelt haben, sind so schwer, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Ich muss aber, auch ohne Dich, und ich hoffe daher, Du bist mit meinem Vorgehen einverstanden. Nein, anders: Ich glaube zu wissen, dass Du einverstanden bist.

    Sei mir nicht böse. Bitte.

    Für immer

    Dein Robert

    Wenn der Mann von vorhin dieser Robert war, hätte Anna ihm vermutlich helfen können.

    Hätte. Es war zu spät.

    Anna sah ihn nicht mehr, und als sie den Brief in ihrer Hand betrachtete, meldete sich ihr Gewissen. Sie faltete das Blatt und legte es zurück.

    Auf dem Weg zum Tor schaute sie sich einige Male um. Sie fühlte sich wie eine Diebin.

    2

    Anna nahm ihre größte Kaffeetasse aus dem Küchenschrank und sah hinüber zu ihrem Schreibtisch. Überall dazwischen lagen Papierkugeln herum. Zerknüllt, nicht zerfetzt, zum Teil mit Schwung fallengelassen, aber nicht wütend gegen die Wand geworfen.

    Ein Fortschritt?, fragte sie sich und kam sich vor wie ihre eigene Therapeutin.

    Aber die Zeichnerei brachte nichts, und Anna sagte sich immer wieder, dass sie damit nur ihre Zeit verschwendete. Ihr Chef wusste, dass sie keine bunten Kinderbücher mehr illustrieren würde. Das hatte sie sich geschworen. Scheingraber gab trotzdem nicht auf, bei ihr anzufragen.

    Anna stellte die Tasse zurück in den Schrank und sammelte die Skizzen ein. Wie sie waren, landeten sie im Müll. Der eine brauchbare Entwurf für die Schulszene wanderte in die Mappe. Einer war zwar hundert Prozent mehr als sonst, machte aber noch lange kein Buch und schon gar nicht, wenn er nur in Schwarzweiß war.

    Sie griff zum Telefonhörer und wählte Scheingrabers Nummer.

    „Büro Art & Design for Children Jule Brandstetter guten Morgen was kann ich für Sie tun?", sagte die Dame am anderen Ende, ohne Luft zu holen.

    „Frau Brandstetter, hier ist Wehner."

    „Ah, Frau Wehner! Er ist gerade auf dem Sprung, aber ich stell’ Sie noch schnell durch, einen Moment, bitte."

    Die Zwischenmusik hatte keine Chance.

    „Anna! Gut, dass du was hören lässt, ich hab heut schon an dich denken müssen. Wie geht’s dir denn?"

    Anna wusste, dass Lisas Geburtstag in seinem speziellen Kalender stand. Der war immerwährend, Lisa war nicht mehr.

    „Danke, geht schon, sagte sie. „Aber darauf wollt‘ ich gar nicht hinaus. Es ist wegen der Sache mit dem Kinderbuch. Ich hab mir das angeschaut, aber ich fürcht‘, das wird nix.

    „Das hab ich mir schon gedacht, weil du gar so lang nix hast hör’n lass‘n. Ist nicht schlimm, dann geb‘ ich das jetzt der Johannserin und ihren Damen, auch wenn ich denk‘, dass du … Aber eines wollt‘ ich dir noch sagen: Ich brauch‘ dich noch und das weißt du hoffentlich, oder? Also, wenn was ist, meldest du dich. Abg’macht?"

    „Abg’macht. Und danke."

    „Nix zu danken. Du kommst wieder, du bist noch lang nicht am End‘ deiner Karriere bei mir. Ich schick‘ der weiterhin alles, von dem ich denk‘, dass es was für dich sein könnt‘. Machen wir das so?"

    „Machen wir so", sagte sie nur, weil sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte.

    Scheingraber kannte das von ihr, es war nicht das erste Mal, dass ihr das an einer solchen Stelle passierte.

    „Dann mach’s gut und auf bald, meine Liebe", sagte er noch und legte auf, bevor sie den Gruß erwidern musste.

    Himmelherrgott nochmal, dachte sie, das wird so gehen, bis das ganze Geld vom Hausverkauf aufgebraucht ist.

    Nach jedem Gespräch dieser Art fühlte sich Anna wie zerschlagen. Was sollte sie machen? Wie andere nach einem Schockerlebnis nicht mehr redeten, konnte sie nicht mehr farbig illustrieren. Schon gar keine lustigen Kinderbücher. Zumindest nicht in einer vertretbaren Zeit. Aber Scheingraber hatte immer noch Verständnis dafür. Sie glaubte ihm, was er sagte. Dieser Mann würde sie nicht vergessen.

    Kaffee hatte sie nach wie vor keinen im Haus, der war beim letzten Einkauf im Supermarktregal geblieben. Anna nahm ihren Mantel vom Haken und machte sich auf den Weg.

    Robert zog den Rollkoffer hinter sich her. Daran war seine Schwester schuld, denn sie hatte schon vor Wochen nach einem Hotel und dem dazugehörigen Flug gesucht, und er musste in einer schwachen Minute so etwas wie Ja gesagt haben. Die Reisebestätigung war jedenfalls eines Tages im Briefkasten gewesen.

    Ihm blieb jetzt nichts anderes übrig, er musste.

    Er sah auf die Uhr, halb neun. Der Zug zum Flughafen fuhr am Hauptbahnhof erst um kurz vor zehn und die Auszubildende aus der Personalabteilung hatte gesagt, es ginge nur um seine Unterschrift.

    „Wir haben ein neues Formular. Und das wurde vergessen." Die junge Frau hatte sich angehört wie eine Dreizehnjährige im Zeugenstand. So klein, mit Hut, hätte Kai gesagt.

    „Und?", hatte Robert gefragt.

    „Das Ding ist sehr wichtig, weil ohne Ihre Unterschrift drauf kann Ihr neuer Ausweis nicht fertig gemacht werden … Und da wollte ich Sie fragen … also, wäre es möglich, dass Sie morgen nochmal vorbeikommen? … Ganz kurz nur! Sonst werden Sie mich wahrscheinlich nie mehr mit Kopf sehen."

    „Wäre vermutlich schade drum", hatte Robert geantwortet und überlegt, ob er dieser jungen Frau überhaupt schon einmal in natura begegnet war.

    „Kommen Sie dann morgen früh?"

    „Ich werde da sein. Schönen Feierabend wünsche ich."

    „Wünsche ich Ihnen auch, Herr Lohwald."

    Er hatte die Erleichterung in ihrer Stimme gehört, obwohl er offengelassen hatte, wann er kommen würde. Wenn sie heute seinetwegen früher als sonst im Büro hatte erscheinen müssen, glich sich das nur aus. Von daheim aus hätte er ein Taxi zum Bahnhof nehmen können, jetzt musste er sein Gepäck durch die halbe Stadt karren und sich vom Geräusch der Kofferrollen auf dem Pflaster den letzten verbliebenen Nerv rauben lassen.

    Zur Sicherheit sah Robert noch einmal auf die Uhr. Immer noch halb neun, er hatte also Zeit für ein kleines Frühstück.

    Der Geruch warmer Brezen und Semmeln schlug ihm aus der Bäckerei entgegen. Frank Fährmann stand hinter dem Tresen, an ein Regal gelehnt, Robert riss ihn aus seinen Gedanken.

    Im nächsten Moment vermisste er schon die alte Frau Fährmann und ihm schwante Böses.

    „Wie geht’s deiner Mutter?", fragte er.

    Frank kratzte sich hinterm Ohr. „Die hat sich heute frei genommen. Wenn’s Wetter noch wird, will sie mit den Kindern in den Tierpark."

    „Ach so", sagte Robert und hoffte für Frau Fährmann, dass es stimmte. Sie hatte auf ihn in der letzten Zeit einen gebrechlichen Eindruck gemacht.

    Robert ließ sich eine Nussschnecke und ein Schokocroissant einpacken und ging einen Schritt zum Stehtisch am Schaufenster. „Gibst mir bitte noch einen grünen Tee?"

    Frank reichte ihm die Tasse über den Tresen.

    Die Frau, die zur Tür hereinkam, kannte Robert. Woher, konnte er

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